Espaço Aberto über die Präsidentschaftswahlen 2022 in Brasilien: "Der gesellschaftliche Diskurs hat sich verschärft"

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Redakteur Clécio sprach mit Marlene, Juraprofessorin an der Uni und ehemaliges Mitglied der brasilianischen Sendung bei Radio Dreyeckland Espaço Aberto. Seit 2015 lebt Marlene wieder in Brasilien. Sie sprechen über die Wahlen und das gesellschaftliche Klima in Brasilien.
Audio
07:14 min, 10 MB, mp3
mp3, 192 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 20.09.2022 / 12:01

Dateizugriffe: 69

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: MoRa3X
Entstehung

AutorInnen: die meike
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 20.09.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Marlene pinheiro
seit 2015 zurück in brasilien
professora de direito na universidade
ex-integrante do espaćo aberto


sprach mit marlene über das aktuelle politische Szenario.

Clecio: Wir sprechen über ein Brasilien, in dem die menschen hungern, weil die lebensmittelpreise in die höhe, und der real runtergeht. Ein brasilien mit einer hohen arbeitslosenquote mit einem begrenzten zugang zur uni, sogar zur gesundheitsversorgung. Einer hohen staatsverschuldung und infolgedessen weniger investionen. „Ich sehe ein brasilien, das eine wirkliche politische intervention nötig hat.“
Wir rekapitulieren die vergangenen jahre:
Dilma roussef von der linken arbeiterpartei pt, von 2011 bis 2016 präsidentin des landes, wurde ihres amtes enthoben und sprach von einem „putsch“. Korruptionsskandale um senator*innen und bürgermeister*innen häuften sich. Ex-präsident Luiz ignacio lula da silva, eine ikone der linken und beliebt durch seine erfolgreichen nullhungerprogramme, wurde 2017 wegen korruption angeklagt und während der heißen phase des wahlkampfs für das amt des präsidenten, bei dem er wiederholt antrat, inhaftiert. Dann die wahlen 2018, aus der jair bolsonaro als sieger hervorging. Er war bis dato schon lange jahre mitglied des kongresses, war jedoch politisch unbedarft und der extremen rechten zuzuordnen. Seitdem hat sich der diskurs verschärft. Clecio nennt es eine „bipolare szenario“, eine spaltung der gesellschaft: sich bsp. die militärdiktatur zurückzuwünschen ist kein tabu mehr.

Marlene: 2016 gab es einen Bruch mit den ethischen Vorschriften der Demokratie. Ich möchte mich nicht dazu äußern, ob das Amtsenthebungsverfahren von Dilma einem Putsch gleichkam. Aber ich kann sagen, daß wir früher, auch wenn wir politisch verschiedene Ansichten vertraten, durchaus noch miteinander reden oder debattieren konnten. Das ist heute nicht mehr der Fall. Die extreme Rechte polarisiert, und das schon seit einigen Jahren und nicht nur in Brasilien, wir haben das auch in den USA mit Trump in den vergangenen Jahren gesehen. Unser derzeitiger Präsident ist nachweislich der extremen zuzuordnen. Er ist in illegale Handlungen verwickelt, aber darauf will ich nicht eingehen. Aber er handelt politisch und juristisch unmoralisch. Und das schafft Präzedenzfälle, die ich für sehr gefährlich für einen demokratischen Rechtsstaat halte. Er hat viele Grenzen überschritten oder ausgereizt. Das schafft viel Unsicherheit. Diese Unsicherheit schafft Raum für antidemokratische Tendenzen in der Gesellschaft, das Gerede vom Putsch, der passieren soll, falls Bolsonaro nicht als Gewinner aus den Wahlen hervorgehen sollte.
Wir leben also in einer hochpolarisierten Gesellschaft und die Leute haben Angst, sich offen politisch zu positionieren, weil sie Vergeltungsmaßnahmen fürchten. Heute ist Politik in Brasilien wie Fußball: wenn du eine andere Meinung vertrittst als ich, dann bist du mein Feind. Die Leute sprechen nicht mehr über Politik. Es geht nur darum, den Status Quo aufrechtzuerhalten oder eben nicht.
Was 2016 passierte, war, daß die Korruption einer einzigen poltiischen Partei,der pt, in brasilien zugeordnet wurde. Das ist absurd, denn wir wissen alle, daß korruption allgegenwärtig ist. In allen politischen parteien, auf allen ebenen.

Auf die agenda der arbeiterpartei pt angeprochen erwiderte marlene dies:

marlene: Lula ist sehr stabil. Luiz ignacio lula da silva hat zwischen 43 und 47 prozent zustimmung. Er schwankt so um die zwei Punkte. Das bedeutet auch, daß beide Spitzenkandidaten – der derzeitige Präsident Jair Bolsonaro und Lula – stabil sind mit ihrer Anhänger*inneschaft. Bolsonaro hat sogar steigende Zustimmung. Das zeigt, daß die Wähler*innen eine sehr klare Meinung haben in ihrem Wahlverhalten. Diese leute werden ihre Meinung wohl nicht mehr ändern. Der berühmte „dritte Weg“ wäre ein Sieg der Kandidat*innen Ciro Gomes, Simone Tebet oder João Doria. Für die Stichwahl – die wahrscheinlich zwischen den beiden Spitzenkandidaten Lula da Silva und Jair Bolsonaro anstehen wird – hat Lula die höchste Zustimmung. Niemand rechnet damit, daß Lula in der ersten Runde gewinnt. Der aktuelle Präsident hat seine Strategie nun geändert : er bereut nun öffentlich seine Fehler. Damit will er sein Image ändern , empathischer erscheinen um die weiblichen Wählerinnen zu gewinnen. Das ändert aber nichts daran, daß er in der jüngsten Vergangenheit wie auch in den letzten Jahren eine sehr frauenverachtende Politik vertreten hat und auch mit sexistischen Aussagen während seiner Kampagne auffiel.
Lula seinerseit möchte öffentliche Strukturen wieder aufbauen, die während der letzten vier, fünf Jahre abgebaut wurden. Ein Neustart für Schulen , Universitäten, neue Technologien und Gesundheit. Das haben wir auch während der Pandemie gesehen: während der Pandemie war hier ein absurdes Chaos. Diese Projekte, die in den Jahren der letzten Regierung brachlagen, sollen wiederaufgenommen werden.

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