Nach der Wahl: Zwischen 1928 und 1933 lagen nur 5 Jahre

ID 75763
 
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Studiogespräch vom Montag gemeinsam mit CORAX.
Ergänzend hier einiges schriftliches:
1. Zum Zusammenhang zwischen dem Fortwirken des Nationalsozialismus, dem darin transformierten Rassismus und der Lage 2016 herauszustellen:
http://www.fsk-hh.org/blog/2015/09/14/we...
(Auszug unten)
2. Zum historischen Bezug:
http://www.fr-online.de/politik/landtags...
... "wir müssen, wenn es um unsere historische Erinnerung geht, bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückgehen. Damals ist die NSDAP auch deshalb so gefährlich geworden, weil sie innerhalb ganz kurzer Zeit das Parteien- und Wahlsystem Deutschlands derart überrollt hat, dass an ihr kein Weg mehr vorbei führte. Wenn es um diese Dynamik geht, kann man die Landtagswahlen vom Wochenende durchaus mit den Reichstagswahlen von 1928 vergleichen." ...
3. http://jungle-world.com/artikel/2016/10/...
"In der immer wiederkehrenden Debatte über die »sächsischen Verhältnisse« lohnt es sich, den Blick auf die gesellschaftlichen und sozialen Transformationen in den Ländern Mittelosteuropas zu richten."
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Upload vom 15.03.2016 / 14:24

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Entstehung

AutorInnen: Nachmittagsmagazin für subversive Unternehmungen; nfsu
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 14.03.2016
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Skript
Text zu 1.
... "Begreifen lässt sich der Widerspruch zwischen öffentlichem und politischem Diskurs sowie zivilgesellschaftlichem Antifaschismus einerseits, und der Kontinuität und Verbreitung rassistischer Denkweisen andererseits, nur vor dem Hintergrund des Tabus, mit dem Nationalsozialismus als Ideologie belegt wurde. Dieses Tabu stellt die Konsequenz aus dem Anspruch der BRD dar, das „Andere“ des NS zu sein, bei gleichzeitiger personeller Kontinuität innerhalb des Staatsapparats sowie Fortexistenz nationalsozialistischer Ideologiefragmente. Da sowohl das offene und massive Auftreten positiver Bezüge auf den Nationalsozialismus als auch das öffentliche Eingeständnis, dass die Ideologien des NS nach wie vor wirkungsmächtig und weit verbreitet sind, dieses Selbstverständnis der BRD unterminieren würden, sind entsprechende Äußerungen und Bestrebungen mit einem Tabu belegt. Ausschlaggebend für das Tabu ist nicht die Bekämpfung dieser Ideologien, sondern dass sie sich nicht öffentlich äußern, da dies den Mythos der „Stunde Null“ zerstören würde.

Festmachen lässt sich dieser diskursive Bruch nicht nur am „Aufstand der Anständigen“, sondern auch an der Rechtfertigung des deutschen Angriffskriegs auf Jugoslawien. Als 1999 der damalige deutsche Außenminister Fischer den Einsatz deutscher Bomber über Belgrad rechtfertigte, geschah dies nicht trotz, sondern wegen Auschwitz: Er habe nicht nur gelernt „Nie wieder Krieg! Sondern auch: Nie wieder Auschwitz!“. Damit wurde der Krieg gegen Jugoslawien antifaschistisch legitimiert und die „Berliner Republik“ auf Antifaschismus und die Transformation zu einem weltoffenen und modernen Deutschland verpflichtet.

Unabhängig vom innenpolitischen Erfolg dieses von oben initiierten Projekts, waren die dahinter stehende Auffassung sowie die damit einhergehenden Reformbemühungen mehr als bloße Rhetorik. Bürgerbeteiligung, die Stärkung basisdemokratischer Strukturen und das Engagement gegen Nazis wurden politisch und finanziell gefördert. Das Civitas-Programm zur Aufklärung über Rassismus in Schulen wurden mit beträchtlichen Summen gefördert, auf einmal schien möglich, wovon die Antifa in den 1990ern nur zu träumen wagte: In vielen Großstädten und sogar so mancher Kleinstadt gründeten sich breite gesellschaftliche Bündnisse zur Verhinderung von Naziaufmärschen und selbst Bürgermeister_innen nahmen an Sitzblocken teil. Sogar in Dresden schlug sich diese Entwicklung – wenn auch mit einiger Verzögerung – nieder.

Eine an ökonomischen Verwertungs- und Nützlichkeitskriterien orientierte Zuwanderungspolitik löste das Leitbild einer Null-Einwanderungspolitik ab und durch die Reform des Staatangehörigkeitsrechts, gegen die sich massiver rassistischer Widerstand richtete, wurde das völkische Prinzip, dass deutsch ist, wer von Deutschen abstammt, zumindest ein Stück weit aufgeweicht. Aus dieser Entwicklung lässt sich jedoch keineswegs folgern, dass die deutsche Zuwanderungspolitik auf einmal „human“ geworden wäre – allein die deutsche Asylpolitik und das tausendfache Sterben im Mittelmeer belegen das Gegenteil. Es wurde lediglich versucht, einen Kompromiss zwischen Verwertungsinteressen und rassistischem Ressentiment zu finden.

Auch im öffentlichen Diskurs und politischen System waren analoge Verschiebungen dahingehend feststellbar, dass das Tabu nationalsozialistischer Äußerungen gestärkt wurde. So zogen die antisemitischen Äußerungen des Grünen-Politikers Jamal Karsli sowie die revisionistischen Äußerungen des Unions-Politikers Hohmann deren politisches Aus nach sich, während noch wenige Jahre zuvor Martin Walsers Paulskirchenrede mit tobendem Applaus bedacht wurde. Auch die Fernsehmoderatorin Eva Herrmann musste ihre Karriere beenden, nachdem sie die nationalsozialistische Familienpolitik verteidigt hatte. Im Rahmen dieser Skandalisierungen wurden die Grenzen des öffentlich Sagbaren neu ausgehandelt und enger gezogen und das Tabu von Elementen nationalsozialistischer Ideologie gestärkt. Diese Entwicklung blieb nicht auf die Sphäre der Öffentlichkeit beschränkt; mit den Civitas-Programmen sollte das Tabu des NS auch gesellschaftlich verankert werden – mit begrenztem Erfolg.

Das Tabu selbst ist eine zweischneidige Angelegenheit: Einerseits wird dadurch verhindert, dass offen völkischer Rassismus und die Umsetzung eines nationalsozialistischen Programms Optionen im politischen System werden. Andererseits wird sich lediglich – abhängig von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen – an den offenen Erscheinungsformen nationalsozialistischer Ideologiefragmente abgearbeitet. Somit ist die Tabuisierung als dominante Art des Umgangs mit dem NS ebenso Voraussetzung dafür, die Fortexistenz der Elemente des NS in weiten Teilen der Bevölkerung zu ignorieren, und damit Bedingung ihrer Kontinuität. Solange lediglich einzelne Naziaufmärsche skandalisiert werden, während die Rede vom „Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft“ bloße Phrase bleibt, kann die weite Verbreitung völkisch-rassistischer Ressentiments weder zur Kenntnis genommen noch bekämpft werden.

Auch die Renaissance der Extremismus-Doktrin ab Mitte der 2000er-Jahre stellt nicht nur einen Angriff auf die radikale Linke und eine Verharmlosung des NS dar, sondern folgt der Logik dieses Tabus. Indem die Nazibewegung vor allem als Bedrohung der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ durch vermeintliche Randphänomene wahrgenommen wird, wird die inhaltliche Kontinuität zum NS unterschlagen und gleichzeitig eine vermeintlich moderne, weltoffene und demokratische Mehrheitsbevölkerung konstruiert. Ideologische Schnittmengen und Übergänge, die die Grenze zwischen Nazis und weiten Teilen der Bevölkerung verschwimmen lassen, werden dadurch ausgeblendet.

Entsprechend hilflos wirkten auch die Verlautbarungen der politischen Eliten beim öffentlichen Bekanntwerden der Mordserie des NSU. Zwar dürfte die Betroffenheit quer über alle Partei- und weltanschaulichen Grenzen hinweg durchaus ernst gemeint sein, einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen, die zum Entstehen des NSU beitrugen, fehlte jedoch völlig. Dies war nicht Folge des Schocks über die Taten, sondern dieser Schock war Folge des Tabus." ...