… mieses Stück Scheiße (27.10.2019)

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Upload vom 28.10.2019 / 19:53

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Entstehung

AutorInnen: Redaktion 3
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 28.10.2019
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
… mieses Stück Scheiße (27.10.2019)

Vorab: Im letzten Beitrag von Juli 2019, schrieben wir am Anfang und am Ende des Textes den Satz „Bis zum nächsten Mord“. Wir wären glücklich gewesen, wenn sich diese „Prophezeiung“ als falsch erwiesen hätte.

Die Ausgangssituation: Als der Angriff auf die Synagoge in Halle stattfand, war das Einzige, was die 51 Besucher der Synagoge am Jom Kippur-Feiertag vor dem sicheren Tod rettete, die standhafte, gesicherte hölzerne Eingangstür mit ihren eisernen Angeln und dem einbruchssicheren Schloss. Sie bewährte sich gegen allerlei Waffeneinsatz, Explosivstoffe usw., die der Neonazi Stephan Balliet gegen sie verwendete. Als einzige! Weder Polizei- noch sonstiger Schutz war zugegen, und es kam auch keiner, weil niemand, der von außen etwas mitbekam, es für nötig hielt, danach zu rufen. Daher ist diese Tatsache der alleinige Ausgangspunkt unserer weiteren Überlegungen. Alles andere dient zur Verschleierung  und Abwicklung der Sachlage. Dies und die dilettantische (zum Glück) Aktion des Täters. Was bedeutet, dass die Nachahmer demnächst genau das berücksichtigen werden.

Nach seiner Verhaftung fing gleich das ritualisierte Karussell der  veröffentlichten Meinung an, das bekanntlich der bewährten Bewältigung von derartigen Geschehnissen, vergangenen und gegenwärtigen, dient. „Schock“, „unerwartet“, „wie konnte das passieren“, „unfassbar“, so ging es los, und dann kamen allerlei Betroffenheitsbekundungen. Wortgenau wie nach der Ermordung von Walter Lübke, wortgenau wie nach den NSU-Morden, wortgenau wie es auch beim nächsten Mord sein wird. Aus Sicht der Ökonomie der Phrasen hätte es genügt, einfach auf die früheren Aussagen hinzuweisen.
Kaum waren diese Bewältigungsphrasen gedroschen worden, entlarvten sie sich als heuchlerisch. Als der AstA der Uni Hamburg die Vorlesung des Gründers der AfD Lucke mit einer Demo begleitete  (wobei der eigentliche Skandal ist, dass er eine Professur in der Hamburger Uni innehat), hielt man gleich die schützende Hand über ihn.

Der AStA wurde mit der AfD gleichgesetzt, die Aktivistinnen als Totalitarismus-Fans usw. angeprangert.

„Was Bernd Lucke am Mittwoch an der Universität in Hamburg widerfahren ist, lässt sich nicht nur als Abbild der bedauernswerten Zustände an deutschen Universitäten sehen, sondern auch als Zeichen, wie kurzatmig in Deutschland mit der AfD umgegangen wird. Was die Universitäten angeht: Wer auf so primitive Art eine Vorlesung verhindert, wie es der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) tat, sollte über seine Lieblingsobjekte, Freiheit und Gleichheit, lieber schweigen. Er sitzt nämlich, was Absolutheitsanspruch, Antipluralismus und Arroganz angeht, in einem Boot mit seinem besten Feind, dem Populismus, den Totalitären, der AfD. Was den Umgang mit der AfD angeht: Es ist ein großer Irrtum, die Partei als „Nazipartei“ zu bezeichnen, schon gar den Parteigründer als „Nazischwein“ zu beschimpfen“ (Aus FAZ, „Nazischweine und Gesinnungsterror“, 17.10.2019)

Dabei suchte der AStA doch nur ganz brav die Diskussion mit Lucke und versicherte sogar „dass von unserer Seite keine Proteste zu erwarten sind, die seine Lehre stören werden.“2)

Lucke ist einer jener vielen anständigen Deutschen, die nicht als Nazis bezeichnet werden wollen. Die AfD ist ihre populistische Partei; die anderen tun einfach vornehmer. Sie machen sich die Hände nicht schmutzig, sie decken, beschweigen, finanzieren, schauen weg, leisten ihren Beitrag, finden bedauerlich, aber verständlich, und was der Helfershelfereien mehr sind.
Schon in Bezug auf die NSDAP wurde und wird bis heute immer und immer wieder der Versuch unternommen, zwischen den Nazi-Kadern, ihren Flügeln und den Mitläufern in richtige und falsche, gute und schlechte Nazis/Deutsche zu differenzieren. Aber ohne die einen wären die anderen verlachte Knallchargen geblieben.
Aber auch ohne solche Differenzierungen kann das Verwirrspiel von Unterscheidung (zwischen Nazis und nicht ganz so Nazis) und Identifikation (die eigentlichen Nazis sind andere) betrieben werden: „Nach dem das Entsetzen verarbeitet ist, dass der Täter in #Halle weder Linker noch Moslem ist“ (Antideutsche Aktion Magdeburg), kommt der Verweis, der „mörderische und plebejische Antisemit nimmt das selbst in die Hand, was die deutsche Regierung an das Terror-Regime der islamischen Republik outgesourct hat.“ (antideutsch.org). Es wird betont, „dass man auch den Islam als das Denunzieren muss, was er ist: die Grundlage für Antisemitismus, Frauenverachtung, und Morden in der ganzen Welt“ (gegen deutsche normalität). Es geht um die Entlastung der deutschen Volksgemeinschaft und der Nazi Täter.

Womit wir bei Teil drei des Rituals wären: Nach Betroffenheitsphrasenmühle und Verwirrspiel kommt die Ursachenforschung. So wetteiferten die Gazetten und die Antisemitismusforscher im Lande um die richtigen, um die eigentlichen Ursachen: mal ist das Internet schuld, mal die elektronische Kriegsspiele, mal die Zurückgezogenheit des Täters bzw. seine Isolierung von der Gesellschaft (!) und sonstige Psychogramme. Auch die altbewährte antikommunistische Kiste wurde herausgezogen: Sie besagt, dass für die Nazisozialisation des Täters die DDR verantwortlich ist, auch wenn ärgerlicher Weise die Chronologie diesmal nicht so ganz mitspielen will; denn der Attentäter wurde 1992, also 3 Jahre nach der Annexion der DDR geboren. Also herangereift, konditioniert und explodiert in der bundesrepublikanischen Wertegemeinschaft. Wer nimmt aber schon Rücksicht auf solche Kleinigkeiten?

Es wäre bei alldem nicht verwunderlich, wenn demnächst die Ursache in dem Vornamen des Täters gesucht würde, wo doch sowohl der Täter von Halle als auch der Mörder von Lübke mit Vornamen Stephan hießen.
Seine Mutter, eine Grundschullehrerin (!), titulierte ihn gar als „Sozialrebellen“:  “Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?” (Spiegel, 16.10.2019). Recht hat sie: Wer hat das nicht? Sie kann fast als linke Aktivistin durchgehen. Um die Frage, was hat sie all die Jahren nicht nur ihrem Sohn sondern auch ihren Schüler beigebracht und welche Verschwörungstheorien über die „jüdisches Lobby“, die „Fadenzieher der Macht“ usw. sie ausgebreitet hat, kümmert sich keiner. Geschweige denn darum, über sein soziales Umfeld, über sein Kaff oder seinen Stadtteil, über sein Land überhaupt zu sprechen.
Und vor allem kein Wort über deutsche Kontinuitäten. Auch wenn die Tat danach schreit: “In Erinnerung an meine Familie, Familie Meltzer, Familie Persky, die zusammen mit 2.060 ihrer Gemeindemitglieder in dem Ort Vishnieva im August 1942 von den Nazis und ihren lokalen Helfern ermordet wurden. Sie haben die Bewohner des Ghettos in der Synagoge zusammengetrieben, die aus Holz gebaut war, und haben sie angezündet”, sagte der inzwischen verstorbene Shimon Peres im Bundestag am  27.01.2010, am Holocaust-Gedenktag. Klar gibt es Unterschiede zwischen damals und heute. Wir wollen nicht alles über einen Kamm scheren. Zum Beispiel ist festzuhalten, dass die Synagoge in Halle nicht aus Holz, sondern aus stabilen, feuerfesten Steinen gebaut war, und also besseren Schutz bot.

Apropos Kontinuitäten: Der Attentäter filmte während der Tat seine Aktion und übertrug sie ins Internet. Fünf Personen sahen das live. Unmittelbar danach waren es 2200 Internetgaffer. Kein einziger und keine einzige dieser mehr als Zweitausend hat den Vorfall bei der Polizei oder sonst wo gemeldet, vermutlich weil sie sich so alleine fühlten im Meer der aufgeklärten, toleranten, demokratischen und anti-antisemitischen deutschen Bevölkerung.

Auch andere Attentäter z.B. in Neuseeland haben sich selber gefilmt. Aber der Attentäter in Halle erinnert sich natürlich auch an die Ur-Großväter, die sich selbst über den von ihnen Ermordeten fotografierten und diese Bilder nach Hause zu ihren Familien schickten. Es ist also eine alte deutsche Sitte aus der Zeit lange vor dem Internet, der hier nachgeeifert wird.
Aber davon will Deutschland nichts gewusst haben. Denn es gibt eine unumstößliche Spielregel für Phase 3: Die Einzeltäter-Theorie wird mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln aufrechterhalten. Genau wie zuletzt beim Mord an Herrn Walter Lübcke, als zunächst die Tatsache, dass der Mörder erwiesenermaßen Mitglied von Combat 18 ist, verschwiegen wurde, dann die Zschäpe als Pressesprecherin von C18 auftreten durfte, obwohl sie in Haft und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation überführt wurde. Als treue Volksgenossin entlastete sie den Angeklagten, indem sie versicherte, er sei kein Mitglied der Gruppe. Nazimörderin gibt Nazimörder ein Alibi, genau so ist das erwünscht. Denn sonst greifen keine der bodenlosen Theorien à la Seehofer: “Die Computerspiele sind es, die wir uns genauer ansehen müssen.“ Und sicher auch das Internet, womöglich noch die Wirtschaft oder die Gänseblümchen; alles, alles, nur nicht Deutschland und ihre wie sie selbst missratene Brut.

Und das, obwohl der Täter sich unmissverständlich über seine Gesinnung und seine Tat ausließ: Er habe lange überlegt, sagt er, ob er Muslime oder Juden töten solle. Auch Feministinnen kamen in Betracht. Doch am Ende entschied er sich selbstredend für die altbewährte, traditionelle und technisch wie politisch erprobte Tötung von Juden. Anders gesagt, ein Neonazi wie aus dem Bilderbuch, geradezu bemüht, allen Klischees und gesunden Ressentiments zu entsprechen. Selbst in seinem Frust, als er sein Ziel, ein Massaker in der Synagoge anzurichten, nicht erreichen konnte, gab er nicht auf, sondern tötete zwei Personen, die ihm zufällig begegneten und verletzte mehrere weitere.
 “Ein Antisemit ist jemand, der die Juden noch mehr hasst, als es unbedingt notwendig ist“,  sagte mal zutreffend spöttisch der Philosoph Isaiah Berlin und brachte die geistige Verfassung der bundesrepublikanischen Population auf den Punkt.
Zurück zur Ausgangssituation. Wenn nun unsere eingangs erwähnte Feststellung stimmt, dann ist folgerichtig, dass der einzige zuverlässige Schutz der Selbstschutz/ Selbstverteidigung ist. Auf irgendwelche Instanzen, wortreiche pathetische Solidaritätsbekundungen usw. sich zu verlassen birgt ein zu hohes Risiko für Leib und Leben. Ob dieser Selbstschutz der hier lebenden Jüdinnen und Juden und anderer potentieller Opfer des explodierenden deutschen Rebellen an der Eingangstür endet oder dort anfängt, liegt im Ermessen der Betroffenen. Bereits vor 25 Jahren (leider aktueller denn je) schrieben wir: „Die Wahl der Mittel liegt in der Hand der Angegriffenen. Im Interesse unseres eigenen Überlebens müssen wir auch die aktive Rolle übernehmen, wann immer wir dazu in der Lage sind.“ (Aus „Die Weizsäckerisierung der Militanz oder Die Banalität des Blöden“, 27.03.1994, zum Kaindl-Prozess der Antifascist Genclik). Alles andere ist eine Frage der Logistik und der Effektivität. Einzig wichtig ist und bleibt, dass Jüdinnen und Juden, Kanaken, Geflüchtete und andere „Fremdkörper“ nicht vernichtet werden dürfen.

Wir können nicht außer Acht lassen, dass die bisherigen Verluste zu 100% einseitig waren. Die Täter (samt ihren unterstützenden Kreisen) haben keine Opfer zu beklagen, für sie besteht kein Risiko. Nur wenn dies sich ändert, können wir auf einigermaßen Abstinenz der Täter, ihres Umfelds und ihrer Claqueure hoffen.

Café Morgenland, 27. Oktober 2019

1) https://www.deutschlandfunk.de/halle-saa...
2) https://www.asta.uni-hamburg.de/1-ueber-...