1955–1965: Modernismus, Exotica, Surf

ID 106088
 
Musik aus einer anderen Zeit ... Musik aus einer anderen Welt?

Zwei musikhistorische Essays von Michael Koltan berühren wichtige Fragen der Ästhetik. Sie halten jeweils einen kurzen Moment der Kulturgeschichte fest: einerseits die Exotica-Welle der späten fünfziger Jahre, andererseits den Surf-Twang der frühen sechziger Jahre.
Psychoanalytisch geschult, mit einem Sensorium für Dialektik in der Kultur und nicht zuletzt sehr leidenschaftlich dringt Koltan in die Tiefen und Untiefen der Populärkultur jener Zeit ein.

"Die Frage ist jedoch, warum? Die simple Antwort, daß es einfach geile Musik ist, reicht bei weitem nicht aus, um das Phänomen zu erklären."


Michael Koltan stellt in seinen Analysen fest, "daß es mit dem Exotischen beim musikalischen Exotismus gar nicht so sehr weit her ist.
Martin Dennys Vergleich mit dem Apfelkuchen, dem man eine Prise Mango hinzufügt, gilt nicht nur für die Instrumentierung, sondern für alle Elemente des musikalischen Exotismus: Im Grunde bleibt man beim Altvertrauten, das nur ein wenig aufgepeppt wird, damit es aufregend-fremdartig erscheint, ohne sich jedoch der Gefahr auszusetzen, sich tatsächlich mit etwas wirklich Fremdem konfrontiert zu sehen."
"Woher kam diese Sehnsucht nach dem Fremdländischen, Exotischen gerade in den fünfziger Jahren?" "Die eine Frage ist die, worauf überhaupt dieser Drang zum musikalischen Exotismus beruht. Und die andere, warum gerade Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre eine derartige Häufung musikalischer Exotismen auftritt."

"Der Exotismus spiegelt uns eine grundlegende Unzufriedenheit mit der gegebenen symbolischen Ordnung der Musik wieder. Das von Freud konstatierte Unbehagen in der Kultur ist auch ein Unbehagen in der Musik. [...] Statt dem Füttern des Egos durch exotische Einsprengsel ist es die Aufgabe ästhetisch anspruchsvoller Musik, das traumatisierende Reale in der Musik selbst wieder auftauchen zu lassen."

Des weiteren treibt uns die Frage um: Was ist Surf Music?
Hier unternimmt Michael Koltan einen "kurzen erkenntnistheoretischen Exkurs [...], der begründet, warum der Ausdruck 'Surfmusik' nicht eine Klassifikation, sondern eine Idee bezeichnet und was den Inhalt dieser Idee ausmacht."
"Surfmusik hat zwangsläufig einige Gemeinsamkeiten mit anderen Formen instrumentaler Rockmusik. Es gibt gewisse musikalische Elemente, die immer wieder auftauchen, weshalb es leicht zu Verwechslungen kommen kann. [...] Doch in der Surfmusik ändern diese Elemente, wie [...] zu zeigen sein wird, ihren ursprünglichen Sinn."
"Denn musikalische Elemente sind nicht einfach Zeichen, die etwas nichtmusikalisches abbilden. Ihren Gehalt schöpfen sie vielmehr aus ihrer Geschichte, aus der Verwendung in bestimmten historischen künstlerischen Kontexten. Dies führt dazu, daß dieser Gehalt den Künstlern selbst oft gar nicht direkt bewußt ist. [...] Die Idee liegt sozusagen in der Luft und wartet darauf, in unterschiedlichen Kunstwerken unterschiedlicher Künstler Gestalt anzunehmen [...]; sie schlummert im Unter- oder Vorbewußten der Gesellschaft oder zumindest einer gesellschaftlichen Gruppe und sie braucht die Kunstwerke, um aus einem vagen gesellschaftlichen Gefühl zu einer historischen Realität zu werden."

"Die Mittelklasse-Teenager, die den überwiegenden Teil der Surf- und Surfmusik-Szene stellten, konnten in eine blühende Zukunft blicken. [...] Surfmusik repräsentierte eine konfliktfreie Utopie, die Möglichkeit einer Versöhnung von Individuum und Gesellschaft, von Gesellschaft und Natur, und zwar eine Versöhnung, die in der Tat, im Gegensatz zu späteren Hippie-Utopien, nichts Regressives an sich hatte. Doch angesichts unseres Wissens, daß diese Utopie nicht von Dauer war, offenbart sich, wenn wir genau hinhören, eine merkwürdige Leerstelle in der Surfmusik, die zu denken gibt."


Dauer: 120 Minuten

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Audio
01:59:57 h, 82 MB, mp3
mp3, 96 kbit/s, Mono (48000 kHz)
Upload vom 23.12.2020 / 14:54

Dateizugriffe: 29

Klassifizierung

Beitragsart: Feature
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Jugend, Musik, Religion, SeniorInnen, Andere
Serie: Sachzwang FM
Entstehung

AutorInnen: Dr. Indoktrinator
Radio: Querfunk, Karlsruhe im www
Produktionsdatum: 23.12.2020
CC BY-ND-NC
Creative Commons BY-ND-NC
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die (etwas dicht geratene) Sendung ist durchweg mit Musik unterlegt. Außerdem ...
Intro: "Maloja" (Frank Roberts, 1957)
Intermezzo: "Full moon" (Eden Ahbez, 1960)
Outro: "Bacoa" (Les Baxter, 1951)

Die behandelten Texte von Michael Koltan:
http://www.thecockroaches.de/exotica/ind...
http://www.thecockroaches.de/surf/index....

Der Exotica-Essay (in der ersten Stunde der Sendung) wurde - aus Zeitgründen - um den letzten Teil, eine lacanianische Analyse, gekürzt.
Der Surfmusik-Essay (in der zweiten Stunde) wurde - aus dramaturgischen und Zeitgründen - um den letzten Teil gekürzt: eine Betrachtung der Neo-Surfmusik-Szene als Retro- und Trash-Phänomen.