Afrin: zynisches Spiel mit dem Leben von Zivilisten?

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Ein Kommentar zur Behauptung, Zivilisten würden als menschliche Schutzschilde gebraucht.
Audio
04:21 min, 4082 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 08.03.2018 / 11:08

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Morgenradio
Entstehung

AutorInnen: Jan Keetman
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 08.03.2018
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Nahezu seit Beginn ihres Überfalles auf den kurdischen Kanton Afrin beschuldigt die türkische Regierung die kurdische YPG-Miliz, die Afrin verteidigt, Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu gebrauchen. Mit dieser Behauptung wurden auch die äußerst langsamen Fortschritte der Invasionsarmee erklärt. Anders als etwa die USA im Irakkrieg schone man vor allem Zivilisten, heißt es. Eine Untersuchung der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kommt zu einem anderen Bild. Human Rights Watch untersuchte drei türkische Luftangriff am 21., 27. und 28. Januar und kam zu dem Ergebnis, dass mindestens 26 Zivilisten, darunter 17 Kinder getötet wurden. Für ihre Untersuchung hat Human Rights Watch Interviews mit 7 Zeugen durchgeführt und Fotos und Satellitenbildern ausgewertet. Für das langsame Vorrücken sind andere Gründe auszumachen:

Erdogan hatte den Angriff eine Woche vorher angekündigt. In den ersten Tagen herrschte eine neblige Atmosphäre und die Böden waren durch starken Regen aufgeweicht. Die Panzertruppen erwiesen sich angesichts moderner Antitank-Waffen als weniger effektiv als erwartet und wurden bald nur noch wenig eingesetzt. Erdogans syrische Hilfstruppen erwiesen sich einmal mehr als eher schlechte Truppe. Das Asad-Regime winkte Verstärkungen nach Afrin durch und schließlich entsandte Asad sogar selbst eine, wenn auch eher symbolische Verstärkung nach Afrin. Vor allem aber erwies sich die YPG als hoch motivierte und erfahrene Truppe. Dass Erdogan kein vorzeigbares alternatives Programm für die BewohnerInnen von Afrin hat und statt dessen mit einer höchst zweifelhaften Hilfstruppe aus zum großen Teil fundamentalistischen Sektierern daher kommt, mag auch ein Rolle spielen.

Trotzdem ist klar, dass die Türkei mit ihrer erdrückenden Übermacht eines Tages ganz Afrin eingenommen haben wird. Übrigens ein Gebiet, das so klein ist, dass man es auf der Fläche des Regierungsbezirkes Freiburg etwa 6 mal unterbringen könnte.

Trotz dieser Einwände, was den bisherigen Verlauf der Operationen betrifft, ist der Vorwurf, die Kurden würden Zivilisten als menschliche Schutzschilde gebrauchen, nicht ganz von der Hand zu weisen. Es fällt auf, dass bisher keine Flüchtlingsströme aus Afrin gemeldet wurden. Außerdem lässt die kurdische Verwaltung westliche JournalistInnen, die über den Irak ins syrische Kurdengebiet kommen, nicht bis Afrin weiterreisen. Sicherlich weil sie etwas zu verbergen hat, seien es etwa eigene Verluste oder eben, dass sie fluchtwillige Zivilisten am Verlassen Afrins hindert.

Nehmen wir an, die YPG hindere wirklich Menschen an der Flucht vor der türkischen Militärmaschine, dann ist das durch nichts zu rechtfertigen. Die YPG macht fragwürdige Dinge.

Doch wenn es Erdogan vor allem um die Zivilisten geht, warum stellt er die Angriffe dann nicht einfach ein? Nach eigenen Angaben hat die türkische Armee in Afrin bisher um die 3000 „Terroristen“ unschädlich gemacht. Die Wortwahl ist nicht von mir. Ja, reicht das denn nicht? Warum führt die Türkei überhaupt diesen Krieg? Schon zweimal haben Erdogans Regierungen mit der PKK lange verhandelt und nun soll es keinen Frieden geben, bis der letzte PKKler getötet ist. Vorausgesetzt man macht Erdogans Gleichsetzung von PKK und YPG mit. Darf man andere Länder einfach überfallen, weil sich dort eine unliebsame Entwicklung anbahnt? Wieviel Morden ist eigentlich legal, wenn man vorher über windige Gleichsetzungen Menschen zu Terroristen erklärt hat? Wieviel Lateralschaden darf's dann noch sein?

In Afrin wird eine Region zerstört, die bisher vom syrischen Bürgerkrieg fast ganz verschont war und Flüchtlinge aufgenommen hat. In Afrin wird eine Truppe erbarmungslos gejagt, die ihre Fehler haben mag, die aber auch uns vor der Ausbreitung des sogenannten Islamischen Staates bewahrt hat. Derweil trinkt der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel mit seinem türkischen Kollegen schon wieder entspannt Tee.