Keimzelle des Staates, Brutstätte des Konformismus

ID 92124
 
Zur Kritik der Familienideologie

Familismus bezeichnet die propagierte Identität von Familie und Gesellschaft. Danach bildet die Gesamtheit aller Familien das Gemeinwesen. Familismus ist zudem die Überbewertung des familiären Bereichs als Quelle für soziale Kontakte. In familistischen Gesellschaften – dazu gehört Deutschland – gilt als Dreh- und Angelpunkt aller sozialen Organisationen die Familie.

Insbesondere in das Grundgesetz der Bundesrepublik wurde 1949 der Familismus eingeschrieben, indem die Auffassung von der Familie als wichtigster Baustein einer Gesellschaft aufgenommen und somit eine konservative Familienideologie verfestigt wurde, die Frauen und Männern eindeutige Rollen zuweist – und die bis heute wirkt. Erst die neue Frauenbewegung entwickelte Gegenkonzepte, die heute allerdings zu verblassen scheinen. Staatliche Familienpolitik fördert nach wie vor die traditionelle, mit Vater, Mutter und Kindern «normalbesetzte» Kleinfamilie, in der diese erzogen und pflegebedürftige Menschen versorgt werden sollen. Die soziale Realität hat sich indes längst von diesem ideologischen Gemälde entfernt.

> In ihrem Vortrag (Trier 2017; ca. 80 Minuten) beleuchtet Gisela Notz historische Theorien und Praxen, die zu jenem ideologisierten Familienverständnis führen, das vorgeblich auf das «Gemeinwohl» abzielt, faktisch aber alle Menschen ausschließt, die nicht zu einer Familie gehören, und Frauen tendenziell zu rechtlosen Wesen macht.

> Ergänzt werden diese Betrachtungen durch ein paar Aspekte des revolutionären Programms, die Familie zu überwinden. Bini Adamczak schildert die progressiven Ideen, die sich aus der Misere von Armut und Landleben, Tradition und Famile heraus entwickelten. (Auszüge aus einem Vortrag in Leipzig 2010; ca. 10 Minuten)

> Eingeleitet wird die Sendung allerdings mit einem Beitrag von Lilly Lent und Franza Ranner: "Das zweifelhafte Glück von Liebe und Familie" (gekürzt; ca. 20 Minuten)


Ironischerweise sind heute die rabiatesten Verfechter einer restaurativen Familienideologie die neuen Rechtspopulisten. Ironischerweise, weil das Ressentiment gegen Migranten und ihre «Kultur» – die tradierten Familienbande und Ehrvorstellungen – im Rechtspopulisten eher Neid als Kritik hervorruft. Nichts liegt doch der rechtspopulistischen Programmatik näher, als sich auch für westliche Gesellschaften wieder etwas mehr «Familienehre» und klare Rollenverteilungen zu wünschen, sprich: die ordnende Hand eines intakten Patriarchats.

Mit der «Familie» ist es wie mit dem «Mittelstand»: Das gesellschaftlich verbindliche Wunschbild wird von links bis ganz rechts, von der unverdächtigen politischen Mitte bis zum radikalen Liberalismus vereinnahmt. Dabei ist es unerheblich, ob dies (von links) aus sozialpolitisch-humanitären oder (von rechts) aus wertkonservativen Motiven heraus geschieht. Wer sich hierzulande politisch profilieren will, muß das Hohelied auf die Familie singen – und auf den Mittelstand; beide treffen sich schließlich auch noch im redlichen «Familienunternehmen». Und als Ideologe gilt nicht, wer diesem Horizont, dieser kleinen Welt verhaftet ist, sondern wer sie problematisiert.


Dauer: 120 Minuten

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Audio
01:59:59 h, 41 MB, mp3
mp3, 48 kbit/s, Mono (48000 kHz)
Upload vom 19.11.2018 / 11:32

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Klassifizierung

Beitragsart: Feature
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, SeniorInnen, Arbeitswelt, Kinder, Frauen/Lesben, Schwul, Kultur, Politik/Info
Serie: Sachzwang FM
Entstehung

AutorInnen: Dr. Indoctrinator
Radio: Querfunk, Karlsruhe im www
Produktionsdatum: 18.11.2018
CC BY-ND-NC
Creative Commons BY-ND-NC
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die musikalischen Intermezzi stammen vom Grips Kindertheater (1973).

- Notz' Vortrag ist betitelt "Kritik des Familismus - Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes"

- Adamczaks Vortrag ist betitelt "Von der Revolution der Geschlechterordnung zum Mütterchen Rußland"

Hintergrundmusik:
- Mick Harris & Neil Harvey (bei Lent & Ranner)
- Les Baxter, Martin Denny (bei Notz)
- Mick Harris & Eraldo Bernocchi (bei Adamczak)

Intro/Outro:
"Family" (Spectres, 2015)

Intermezzo:
"Family man" (Hall & Oates, 1982)