Lorettas Leselampe Mai 07

ID 16984
 
Comic-Schwerpunkt. Beginn mit Wissenschaft - Stephan Packard: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse.
Audio
17:56 min, 8405 kB, mp3
mp3, 64 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 25.05.2007 / 12:18

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Klassifizierung

Beitragsart: Rezension
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: Lorettas Leselampe
Entstehung

AutorInnen: Lorettas Leselampe
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 25.05.2007
keine Linzenz
Skript
Stephan Packard: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse. Wallstein: Göttingen 2006.

Es gibt keine dringlichen Fragen einer Wissenschaft, die sich mit Comics beschäftigt, denn das müßte bedeuten, es gäbe einen Diskurs innerhalb der Universitäten, in dem sich Autoren aufeinander beziehen, sich vehement widersprechen oder auf Kolloquien über ihre unterschiedlichen Antworten dieser dringlichen Fragen streiten würden – das alles ist aber nicht der Fall. Wer auf die letzten dreißig Jahre wissenschaftlicher Literatur über Comics in Deutschland zurückblickt, wird eine Reihe von erratischen Werken, meist Dissertationen, entdecken, die mit Hilfe einer gerade aktuellen oder aus der eigenen Ausbildung erlernten Theorie sich an den Gegenstand machen, der wie kaum ein anderer in seiner Ästhetik dringliche Fragen des 20. Jahrhunderts reflektiert (Stereotype, rassistische Gewalt, Subjektkonstitution usw.). Stephan Packards Anatomie des Comics steht in dieser Tradition, die einige bis heute gültige und lesenswerte Analysen hervorgebracht hat – allen voran Ulrich Kraffts textlinguistische Analyse Comics lesen aus den frühen achtziger Jahren. Nicht von ungefähr sind diese erratischen Versuche einzelner, eine kohärente Theorie des Comic zu bilden, oftmals der Semiotik verpflichtet, der Analyse der Zeichen.
Doch gerade wer Ulrich Kraffts Buch gelesen hat, sollte gewarnt sein. So anregend seine Theorie des Anzeichens ist, so lektürenah seine Beobachtungen über die performative Qualität der Zeichen im Comic sind, der Versuch einer allgemeingültigen Zeichentheorie, die darüberhinaus ein brauchbares begriffliches Analyseinstrumentarium für Comics liefert, scheitert. Dieses Scheitern ist nicht einfach zu verstehen, der offensichtlichste Grund ist die fehlende Kontextualisierung seiner Beispiele. Berüchtigt absurd ist sein Räsonnieren über den Aufbau der Panels in den Peanuts-Reprints, das sich bei etwas größerer Kenntnis der Produktionsbedingungen, denen Charles M. Schulz ausgesetzt war, erübrigt hätte. Ein anderer, sehr schlichter Grund von Kraffts Scheitern, so schlicht wie Comics vielleicht auch sind, besteht darin, dass eine allgemeine Zeichentheorie dieses Mediums dessen spezifische ästhetischen Qualitäten nicht erfassen kann, die untrennbar von den Zeichen und ihrer Erscheinung in einem bestimmten historischen Moment existieren. So lehrreich Kraffts Beobachtungen über die Setzung von Räumen, die Relief-Struktur der Comicseiten sind, sie geben ausschließlich Auskunft über gewisse Konventionen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt im Franko-Belgischen Album eingehalten werden. Dieses Wissen ist fraglos wichtig und muß gebildet werden, doch, wie schon angedeutet, ist es aufgrund der erratischen Struktur der Erforschung und des fehlenden Diskurses schwer sich des Eindrucks zu erwehren, dass jede/r Autor/in versucht, das Rad neu zu erfinden. Auch dagegen wäre nichts einzuwenden, es gibt üblere Beschäftigungen in unserer Gesellschaft. Doch Stephan Packards psychosemiotische Medienanalyse weiß eigentlich nicht, warum sie überhaupt den Comic analysiert.
Sehr schön hebt das Buch unter der Kapitelüberschrift Unbequeme Zeichenverhältnisse mit Lessings berühmter Schrift über das Verhältnis von Poesie und Malerei Laokoon an, in der das bequeme Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem in der jeweiligen Kunst bestimmt wird, die Sequentialität in der Schrift, die Simultaneität in der Malerei, die Geschichte in der Literatur, das Ereignis im Bild. Die Überschrift verspricht, diese wunderbare Vorlage von 1766 in das 21. Jahrhundert zu übersetzen, denn immerhin liegt die ganze Entwicklung bürgerlicher Herrschaft zwischen Lessings Untersuchung und unserer heutigen Lektüre. Was ist unbequem geworden? Und warum sind die Zeichenverhältnisse selbst unbequem? Packard beantwortet dies ganz immanent: „Erst wenn das Vorurteil in einer klaren These auf den Punkt gebracht wurde, kann die Diskussion jener Vielzahl semiotischer Unbequemlichkeiten beginnen, mit denen verschiedene Kunstwerke verfaßt sind und asus denen sie besondere Faszination gewinnen“ (11). Das mag sein, aber worin bestehen die semiotischen Unbequemlichkeiten? Eine Antwort bleibt der der Autor schuldig.
Stattdessen wiederholt er Bekanntes, das auch durch die psychosemiotische Sicht nicht neuer erscheint: Natürlich darf jede und jeder Wissenschaftler noch einmal feststellen, dass Panels im Comic anders als einzelne Buchstaben auf der Buchseite funktionieren. Aber das psychosemiotische Vokabular hilft nicht weiter, wenn die Differenz von Schrift und Bild dadurch erklärt werden, dass „die einzelnen piktoralen Elemente vollständige Aussagen über die erzählte Welt präsentieren“ (75). Welche piktoralen Elemente? Welche Welt? Die erkenntnistheoretischen Implikationen und ihre Diskussion bleiben ausgespart, dafür werden „diese Propositionen auch als Behauptungen“ präsentiert – auch wenn „dies freilich noch eine andere Frage“ ist (ebd.). Auch ein Exkurs zu Peirce („Mit Peirce wäre hier zwischen dem auf Objekte verweisenden Dicent, der wahrheitsheits- und falschheitsfähigen Proposition und dem Argument zu unterscheiden, das als komplexes, vollständig triadisches Zeichen Dicent und Rhema enthält.“ – ebd.) hindert den Autoren nicht an wahrheitsunfähigen Aussagen: „Es ist zwar wahr, daß die Summe der hier erhältlichen Informationen erst durch eine kombinierte Rezeption beider Panels lesbar wird: Insbesondere die Bewegung der Aktanten wird erst dadurch sichtbar und vom halbwegs geübten Comicleser schon vor den Details der einzelnen Panels gesehen.“ (76) Die Rede ist übrigens von zwei Panels aus Der Kampf der Häuptlinge. Auf dem ersten zeigt eine Frau auf ein „Sprechzimmer“, rechts liegt verschattet das gleichfalls beschriftete „Wartezimmer“. Die allseits bekannten Helden – Asterix und Obelix – stehen und staunen. Das zweite Panel wiederholt die drei Figuren wie sie an einem schüchteren Barbaren vorbeigehen, der sich seines Berufes schämt. Welche Bewegung sieht der halbwegs geübte Comicleser? Die Bewegung von dem Ort des ersten Panels zum Ort des zweiten wird freundlicherweise ausgespart. Das Tolle an Comics ist ja, anders als übrigens in vielen deutschen Fernsehkrimis, dass sie nicht zwanghaft die Bewegung der Figuren von einem Ort zum anderen darstellen zu müssen. Wir sehen sie einmal statisch, einmal in Bewegung. Das müssen wir allerdings „kombinieren“, ohne dass wir Nick Knattertons Lupe brauchen, aber selbst dann braucht die Leser hier nicht interessieren, dass sie „Informationen“ erhalten, wenn sie sich über die Figur des Barbaren amüsieren oder sich auch nur an piktoralen Elementen wie Obelix’ Zöpfen erfreuen – ganz aussagefrei. Durch diesen Einwand wird der Schluß von Packards Arguments zwar nicht falsch – „Dennoch enthalten jedenfalls auch die einzelnen Panels Informationen, wie sie der herausgerissene Buchstabe eines Schriftzugs nicht vermittelt“ (ebd.) –, aber was passiert, wenn wir die Zöpfe des Aktanten Obelix aus dem Zusammenhang reißen? Welche Informationen enthalten sie dann noch? Und dass manchmal die winzige Differänz eines einzigen im Wort falsch geschriebener Buchstabe die Informationen ändern kann, ist auch schon ein paar Jahre bekannt.
Die Ausführlichkeit mit der eine fast nebensächliche Stelle hier zur Sprache kommt, sei verziehen, aber immerhin kündigte der Autor an, „bei noch früheren Gründen (zu) beginnen als jenen, bei denen Lessing ansetzt“ (12). Und sie illustriert das Dilemma nahezu aller semiotischen Analysen des Comics, von Wolfgang K. Hünigs Strukturen des Comic-Strip (1974), über Kraffts Comics lesen bis zu Stephan Packards Anatomie des Comic: Sie alle versuchen etwas zu systematisieren, was sich konstitutiv ab einem bestimmten Punkt der Systematisierung entzieht, um sich dann der Ästhetik zu überantworten. Zweifellos läßt sich alles in Zeichen übersetzen – schon Krafft liebte Diagramme, die Figuren in Strichbeziehungen auflösen. Merkwürdigerweise ähneln sie bei Packard immer genealogischen Stammbäumen, als gäbe es einen Ursprung für alles und eben nicht die offenbar unheimliche Zerstreuung der Zeichen über die Comicseite, die sich nicht immer systematisieren läßt.
Selbstverständlich erhellt ein solches Vorgehen wie in Packards Anatomie immer wieder Aspekte, über die sich mit Hilfe seines semiotischen Vokabulars genauer nachdenken lässt, unterschlägt dabei jedoch konstitutiv, dass der Aktant Dagobert als Cartoongraph (so nennt Packard diese Methode der Aufschlüsselung, in der Carl Barks Zeichnung zu vier Kreisen oder vier Strichen gerinnt) nicht ganz so beliebt geworden wäre. Sicher: ohne Semiotik keine Ästhetik des Comics, aber ebenso sicher ist diese nicht ohne Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie zu haben. Wie Packard in dieser Hinsicht Lacansche Psychoanalyse und Peircesche Semiotik schließlich mit Schleiermachers Hermeneutik unter einen Hut kriegt, bleibt nur ein Rätsel, wenn ignoriert wird, dass die ersten beiden in dem entsprechenden Kapitel durch Abwesenheit glänzen.
Das alles würde weniger stören, wenn der Autor in seinem ersten Buch nicht schon das professorale „Wir“ verwenden würde und im übrigen auch sonst so überzeugt von der Bedeutung seines gelehrten Werkes erscheint, dass die Lektüre dadurch nicht unterhaltsamer wird. Gelehrt ist es sicher, er hat sich durch viele der vorherigen anatomischen Versuche, Comics allgemein zu fassen, durchgearbeitet (es wundert allerdings, dass dem Lacan-Leser Thierry Groensteens Systeme de la Bandes Dessinees entgangen ist). Und jede Gelehrtheit wirft – das darf nicht verschwiegen werden – manche Frucht ab, so die Herleitung, warum Donald Duck nicht als quakende Ente gelesen wird. Doch bleibt diese ohne ein wenig Kulturtheorie, die sie reifen ließe, sauer.
Zugegeben, Geschichte ist in der Studie nicht völlig abwesend: „Zumindest für den Bereich des modernen Comic müssen wir jedenfalls, wenn schon nicht wegen seiner historischen Situierung in den Tageszeitungen der vorigen Jahrhundertwende, dann angesichts der in ihnen demonstrierten dominanten Kraft der schriftlichen Symbolanordnung, eine vermutlich kulturell bedingte Priorität des schriftlichen Codes annehmen.“ (263). Aber in Beispielen erscheint Geschichte nicht. Packards Kanon beginnt nach 1950. Er scheint davon überzeugt, dass es eine – offenbar überhistorische – Anatomie des Comics gibt. Aber haben sich die Zeichen und insbesondere das Schrift-Bild-Verhältnis im Laufe der letzten hundert Jahre wirklich nicht verändert? Dass darüberhinaus die Schrift eben das Medium beherrschen muß, dessen ökonomischer Erfolg sich nicht selten im Witz der einzelnen gezeichneten Linie begründet liegt, erklärt sich vielleicht aus der Tatsache, dass auch die Psychosemiotik ihre Herkunft aus der Linguistik nicht überspielen kann. Entsprechend konsequent ist es, wenn in der Analyse der zehnten Folge von Neil Gaimans Sandman statt der analysierten Comic-Seiten nurmehr Packards eigene Graphen seinen Gedankengang illustrieren: es bleiben nur Knochen. Tatsächlich bestätigt sich so der Eindruck, einer Anatomiestunde in der Medizin beigewohnt zu haben, bei der an Skeletten der Mensch erklärt wird. Auch wenn solche Metaphern keine Wahrheit produzieren: glücklicherweise wird von der Medizin nicht der Anspruch erhoben, den lebendigen Körper zu verstehen. Oder anders gewendet: Comics brechen sich nicht die Knochen, sie brauchen keine Anatomie, solange sie ihre Leser zum Lachen bringen, indem sie alle Regeln der Anatomie brechen.

Der Text erscheint auch in 'Kultur und Gespenster', Heft 4.