Das social Distel-Ding – Nichts gelernt

ID 104959
 
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Teil 59 der Kolumne aus dem social distancing - Diesmal mit der Feststellung, dass mit der zweiten Welle auch die zweite Rolle, der erneute Ansturm auf das Klopapier kommt, dass Markus Söder lieber die Schuld in der Privatsphäre sieht und die Opposition ihre Rolle nicht verstanden hat.
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08:09 min, 7654 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 22.10.2020 / 18:04

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Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 22.10.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Lebenslanges Lernen ist ja angeblich die Schlüsselqualifikation dieses Jahrtausends der beschleunigten technischen Umbrüche. Aber so gerne auch in Sonntagsreden diese Lernbereitschaft gefordert wird, scheint sich die Lust auf Hausaufgaben seit der Grundschule nicht wirklich vergrößert zu haben. Während wir social Distel-Dinger in immer weniger Zeit immer komplexere Zusammenhänge verstehen sollen, scheint an vielen Ecken noch immer die altbayerische Devise zu gelten: „Des ham mir scho allweil so gmocht, des mach ma a weiter so!“
Diese offensive Lernunwilligkeit kennen wir natürlich alle aus dem Alltag. Warum etwas ändern, wenn es noch bequem ist? Warum Pläne schmieden um die eingetrampelten Pfade zu verlassen, wenn das bisherige Überleben doch der beste Beweis dafür ist, dass man doch was richtig gemacht haben muss?
Gut, diese Logik ist es halt leider, die uns jetzt überrascht auf die sogenannte zweite Welle reagieren lässt. Zwar ist es noch nicht so lange her, dass wir von dem über uns einbrechenden Pandemiegeschehen verschreckt wurden, aber das heißt noch lange nicht, dass wir uns gemerkt hätten, dass schon in der letzten ARD-Extra und ZDF-Spezial Saison im Frühjahr vor der zweiten Welle im Herbst gewarnt wurde. Und so erleben wir jetzt die lange erwartete zweite Welle und die so nicht erwartbare zweite Rolle, den neuerlichen Ansturm auf das Klopapier. Scheinbar haben wir nichts gelernt und assoziieren die Extra-Berichterstattung nach den Nachrichten mit dem großen Geschäft.
Nun ist die Konsumentenverantwortung, die uns Hamsterkäufe als unmoralisch ablehnen lassen sollte, eine der schwächsten Formen der gesellschaftlichen Mitbestimmungsarten. Unsere regelmäßige Wahl der Parlamentarier, die wiederum die Regierungschefs wählen, sollte hingegen einen großen Einfluss auf die langfristige Entwicklung des Landes, des Bundes, vielleicht sogar der Europäischen Union und letztlich der Welt haben. Dumm nur, dass nicht nur das Konsumentenverhalten scheinbar stark von äußeren Reizen geprägt wird, sondern auch das Verhalten der gewählten Parlamentarierinnen, Parlamentarier und nicht zuletzt der Regierenden.
Nach der Schockstarre angesichts der Bilder aus Bergamo und der in der Bundesrepublik zeitgleich ansteigenden Infektions-Zahlen, war es in den Parlamenten stiller geworden, als es aufgrund der verringerten Anwesenheit zu erwarten gewesen wäre. Klar, Singen und Schreien sind als Super-Spreader-Aktivitäten recht schnell außen vor, aber parlamentarische Höhepunkte waren die Singeinlagen von Andrea Nahles und Co. auch zuvor nie gewesen.
In der Bundesrepublik und den Ländern mag man es sich gar nicht mehr vorstellen können, aber die Idee des Parlaments war einmal gewesen, dass Abgesandte aus den Wahlkreisen als deren Repräsentanten die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger ihres Kreises in die politische Debatte einbringen. Das zweitgrößte Parlament der Welt, der Bundestag, wäre demnach also der Ort an dem die gewählten Repräsentanten die Anliegen und Bedürfnisse ihrer Wahlkreise repräsentieren und versuchen einen Kompromiss zwischen all den Anliegen zu finden. Die Parteien waren mal dafür gedacht, dass man sich anhand von Werten zusammenschließen und Themen vorbesprechen kann, damit die Gewählten anschließend ihr freies Mandat nach bestem Wissen und Gewissen ausüben können.
Nun gut, solche frommen Ideen scheitern gerne mal daran, dass der Mensch eben ein fehlerhaftes Wesen ist. Nur scheint es mittlerweile nicht der menschliche Fehler zu sein, der die Vorstellung ad absurdum führt, dass die politischen Themen der Öffentlichkeit von den gewählten Volksvertreter*innen an oberster Stelle öffentlich und konstruktiv ausdiskutiert werden. Stattdessen finden die Diskussionen in den Besprechungsräumen der Parteien und Fraktionen statt. Auf der großen Bühne gilt dann - Einigkeit und Recht und Freiheit: Einigkeit mit der Partei - Recht behalten vor den anderen - Freiheit von jeder Verantwortung vor den Wähler*innen.
Das aufgescheuchte und polarisierte Wahlvolk soll scheinbar durch klar vorgegebene, parteiische Wahrheiten in Sicherheit gewogen werden. Nicht auszudenken, wenn Menschen mit den gleichen Werten und ähnlichen Meinungen dennoch diskutieren, was denn der richtige Weg sein könnte. Dadurch könnte ja der Eindruck entstehen, dass es Alternativen für die Entscheidung gibt, dass es eine Abwägungsfrage und eben keine reine Entscheidungsfrage ist. Wie de Maizière damals sagte: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“
Da ist es doch besser die Verunsicherung gleich auszuschließen und nur klare Ansagen zu geben. Alle hören ab jetzt auf Markus Söder, der hat die Weisheit mit dem Löffel gefressen und dann beschlossen, dass egal was passiert, die Schuld bei der Bevölkerung zu suchen ist und zwar in deren Privatleben. Er hat ja schließlich alles getan: Maßnahmen treffen, Warnen, die Gefahr verdeutlichen, Warnen, Ampeln installieren, Warnen, Maßnahmen verschärfen, Warnen, mit noch schärferen Maßnahmen drohen, Warnen… Wenn das nicht funktioniert, dann liegt die Schuld an neuerlichen Infektionsanstiegen bei partysüchtigen Jugendlichen, unverantwortlichen Hochzeitsgesellschaften und nicht zuletzt bei diesem leichtsinnige Jens Spahn bzw. bei den schlecht arbeitenden Berliner Gesundheitsämtern.
All diese Menschen sind in ihrer menschlichen Fehlbarkeit dafür verantwortlich zu machen, dass es zu neuerlich nicht mehr direkt nachvollziehbaren Infektionsketten kommt. Das Privatleben und die eigenen Wohnungen, die einzigen Sphären für die Markus „Ich rette euch alle“ Söder noch keine Maßnahmen erlassen konnte, müssen die Horte der Verbreitung sein, alle anderen Erklärungen würden die Bevölkerung vermutlich verunsichern.
Und die Opposition jammert rum, dass sie in dieser Zeit nicht mitbestimmen darf, obwohl der Robert „der grüne Messias“ Habeck doch so schön erklärt hatte, dass es Verantwortungspolitik sei, die Maßnahmen der Regierung mitzutragen und nicht rumzumeckern. Als Verantwortungspolitiker überlässt er scheinbar die Überprüfung und Anpassung dieser Maßnahmen lieber den Gerichten, anstatt seiner Partei Mut zu machen in einer öffentlichen Plenardebatte so etwas wie einen tragfähigen und grundrechtskonformen Plan für die Krisenmaßnahmen auszudiskutieren und als überparteilichen Kompromiss einzufordern.
Auch wenn das Argument einer beschleunigten Entscheidungsgewalt in Krisenzeiten durchaus greift, Verantwortung übernehmen heißt nicht, sich wegzuducken und darauf zu warten, bis man wieder ungestüm kritisieren kann, ohne Menschenleben zu gefährden. Verantwortung heißt die Maßnahmen die man mitträgt auch selbst zu überprüfen und konstruktiv zu verbessern, statt nur die Warnungen vor den Negativ-Konsequenzen bei Nichteinhaltung der Maßnahmen zu wiederholen.
Wir social Distel-Dinger, deren soziales Abstandsverhalten und ständiger Lüftungsdrang sich mittlerweile fast anfühlt wie eine Zwangsstörung, müssen hier einwenden, dass neben all den Maßnahmen und Warnungen doch vielleicht auch die eine oder andere Lösung gefunden hätte werden können. Nicht zuletzt fragt sich dieses social Distel-Ding, warum es den gesamten Sommer über so gelebt hat, als wäre es ansteckend, um jedes Infektions- und Übertragungsrisiko zu vermeiden, nur um heute gesagt zu bekommen, dass dieses Verhalten nicht ausreichend ist.
Es fehlen die Positiv-Beispiele, die Räume in denen alles vorbildlich abläuft und von denen wir lernen können, was hilft um den Virus einzudämmen. Selbst im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist die Verwirrung groß: Müssen Mirkos jetzt mit Plastiktüten geschützt oder nur die Griffflächen desinfiziert werden?
Anscheinend haben wir nichts gelernt und müssen bald wieder zuhause bleiben, jeden Tag nachschauen ob die Klopapier-Regale wieder aufgestockt wurden und unser Leben online gestalten. Und täglich grüßt das Virustier – aufstehen, Jogginghose und Computer an, neue Virus-Zahlen checken, Angst vertreiben, hoffen, ablenken, schlafen gehen.
Damit das nicht kommt, ein Vorschlag zur Güte: Die Kommunen richten hygienische Räume ein, in denen Mitarbeiter*innen des Gesundheitsamts oder von ihnen angeleitete Freiwillige penibel darauf achten, dass keine Infektion möglich ist. Diese Räume stehen allen nach Anmeldung offen und jede und jeder kann dort lernen worauf zu achten ist und sich gleichzeitig guten Gewissens mit Freund*innen und Familie treffen. A safe place in an unsafe world! Vielleicht lernen wir dann etwas und können noch besser Verantwortung übernehmen.

Kommentare
23.10.2020 / 18:01 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 23.10.. Vielen Dank!
 
27.10.2020 / 07:31 hike, Radio Unerhört Marburg (RUM)
in der fruehschicht 27.10.2020
gesendet. danke!