Keine Abschiebung nach Afghanistan (Auszüge aus einer Analyse der Informationsstelle Militarisierung, Tübingen)

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Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland – ganz im Gegenteil. Das Institute for Economics and Peace stufte Afghanistan sowohl im Jahr 2019 als auch 2020 in seinem Global Peace Index sogar als den unsichersten Staat weltweit ein.[1] Dennoch finden seit 2016 fast monatlich Sammelabschiebungen von Deutschland nach Afghanistan statt. Mit der seither 35. Sammelabschiebung am 12. Januar 2021 wurden 26 Menschen in Begleitung von insgesamt 84 Bundespolizist*innen nach Kabul geflogen
Quelle: http://www.imi-online.de/2021/01/15/kein...
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Klassifizierung

Beitragsart: Nachricht
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Politik/Info
Serie: AKR Antikriegsradio im Querfunk
Entstehung

AutorInnen: Antikriegsradio im Querfunk, Karlsruhe
Kontakt: antikriegsradio_R(at)querfunk.de
Radio: Querfunk, Karlsruhe im www
Produktionsdatum: 17.01.2021
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Keine Abschiebung nach Afghanistan
Ein Blick auf die aktuelle Lage im Einsatzgebiet der Bundeswehr
von: Jacqueline Andres | Veröffentlicht am: 15. Januar 2021

Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland – ganz im Gegenteil. Das Institute for Economics and Peace stufte Afghanistan sowohl im Jahr 2019 als auch 2020 in seinem Global Peace Index sogar als den unsichersten Staat weltweit ein.[1] Dennoch finden seit 2016 fast monatlich Sammelabschiebungen von Deutschland nach Afghanistan statt. Mit der seither 35. Sammelabschiebung am 12. Januar 2021 wurden 26 Menschen in Begleitung von insgesamt 84 Bundespolizist*innen nach Kabul geflogen.[2] Die afghanischen Behörden weigerten sich aus humanitären Gründen einen afghanischen Staatsangehörigen anzunehmen, den das Bundesland Hessen abschob. Etwa einhundert Menschen demonstrierten am Abend der Sammelabschiebung im Düsseldorfer Flughafen, von wo aus der Flug startete.[3] Damit wurden seit 2016 insgesamt 963 Männer nach Afghanistan abgeschobenen und in Gefahr gebracht.[4]

Die geplanten Abschiebungen im Zeitraum von März bis November 2020 wurden pandemiebedingt und auf Bitte der afghanischen Regierung ausgesetzt.[5] Am 16. Dezember 2020 wurden sie jedoch wieder aufgenommen, d.h. just an dem Tag, an dem der Lockdown in der BRD ausgerufen wurde. Martin Link vom Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein kritisierte: „Dass trotz des nun auch in Deutschland ausgerufenen Lockdowns eine bundesweite Charterabschiebung ausgerechnet in das vom Bürgerkrieg und einer grassierenden Pandemie heimgesuchte Afghanistan – wo ein Drittel der Bevölkerung als infiziert gilt – stattfinden soll, ist purer Zynismus.“[6]

Sogar die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Bayern forderte im Dezember 2020 aus Sorge um ihre Beamt*innen eine vorübergehende Einstellung der Abschiebungen nach Afghanistan, denn dabei komme es immer wieder zu Zwischenfällen. So würde die Polizei immer wieder bespuckt werden und es bestehe für sie eine hohe Infektionsgefahr. Zudem sieht selbst die GdP die Lage in Kabul als „sehr umstritten und teilweise unsicher“[7] an. David Förster vom Bayerischen Flüchtlingsrat kritisiert die Abschiebungen scharf und schlägt vor: „Sollte es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei den Ausländerbehörden und in den Innenministerien geben, denen langweilig wird, können sie sinnvoll die Gesundheitsämter bei der Kontaktnachverfolgung unterstützen. Der Infektionsschutz gebietet hingegen die drastische Reduktion direkter Kontakte und damit einen generellen Abschiebestopp!“[8]

Die wiederhergestellte Kooperationsbereitschaft der afghanischen Behörden in Hinblick auf die Abschiebungen könnte laut Thomas Ruttig in Zusammenhang mit der zugesagten Weiterfinanzierung der Entwicklungshilfe bis 2024 auf der Geberkonferenz in Genf vergangenen November 2020 stehen.[9]

Abschiebungen trotz Protesten

Die Entscheidung, Sammelabschiebungen nach Afghanistan durchzuführen, obwohl sich im Jahr 2016 der bereits seit mehr als einem Jahrzehnt andauernde Kriegszustand verschlimmerte und es sich um ein Einsatzgebiet der Bundeswehr handelte, stellte einen Dammbruch dar.[10] Trotz zahlreicher Demonstrationen, Kundgebungen, Banneraktionen, Appelle, Petitionen und mutigem Einschreitens, wie im Falle der rund 300 Berufsschüler*innen in Nürnberg, die sich mit ihrem spontanen Protest der Abschiebung ihres damals 20-jährigen Mitschülers in den Weg stellten, laufen die Abschiebungen weiter.[11]

Bereits vor Beginn der Pandemie wurden sie lediglich zeitweise verschoben bzw. ausgesetzt. Dies geschah z.B. auch mit dem Sammelabschiebungsflug, mit dem auch der besagte afghanische Berufsschüler aus Nürnberg im Jahr 2017 mitfliegen sollte. Dieser Flug vom 31. Mai 2017 musste wegen eines Anschlages in der Hauptstadt Kabul verschoben werden. An diesem Tag starben mehr als 150 Menschen bei der Explosion einer Autobombe im Diplomatenviertel Wasir Akbar Chan vor der deutschen Botschaft und mehr als 400 wurden verletzt. Das Gebäude der deutschen Botschaft wurde massiv beschädigt und ein afghanischer Sicherheitsangestellter der Botschaft wurde getötet. Aufgrund von „organisatorischen Fragen“ und aus „Rücksicht auf Botschaftsangehörige“[12] sei die Abschiebung verschoben worden – nicht etwa aus Sorge um die Sicherheit der Abgeschobenen. Sogar die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit flog nur wenig später fast ihr gesamtes deutsches und internationales Personal aufgrund von Sicherheitsgründen aus[13], doch die Bundesregierung hielt weiterhin daran fest, dass das kriegszerrüttete Land sicher genug für Abschiebungen sei. Wissen kann sie das eigentlich nicht, denn abgesehen davon, dass die Vorstellung, Afghanistan sei ein sicheres Herkunftsland an Absurdität kaum zu überbieten ist, heißt es in einem dem NDR vorliegenden Asyllagebericht von Dezember 2020: „Seit dem Anschlag vom 31. Mai 2017 ist die Funktionsfähigkeit der deutschen Botschaft in Kabul massiv und anhaltend eingeschränkt.“ Aus diesem Grund sei auch „die Gewinnung korrekter Informationen […] nach wie vor außerordentlich schwierig“. Die Botschaft kann damit keine zuverlässige Lageeinschätzung geben und „die Bundesregierung kann nicht zuverlässig beantworten, wie sicher Afghanistan ist“.[14] Anderen scheint dies zu gelingen, wenn sie den Stimmen vor Ort zuhören.

Erfahrungen abgeschobener Afghanen

Recht ausführlich und aufwendig zeigt die Sozialwissenschaftlerin Friederike Stahlmann in ihrer Studie zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen mit Hilfe von Interviews mit 55 der von 2016 – 2019 bis dato insgesamt 574 abgeschobenen Menschen in Afghanistan, was sie bei einer Rückkehr erwartet. Zunächst ist die Ausgangslage in Afghanistan katastrophal: „Schon im Jahr 2016 war das Armutsniveau mit 54,5 Prozent wieder so hoch wie zum Zeitpunkt des Sturzes der ersten Taliban-Herrschaft im Jahr 2001 und 86 Prozent der Stadtbevölkerung lebten in Slums. Die Zahl derer, die akut von humanitärer Hilfe abhängig sind, hat sich im letzten Jahr nahezu verdoppelt. Im Jahr 2018 hatten im Vergleich zum Vorjahr 6 Millionen Menschen mehr keinen ausreichenden Zugang zu Nahrung. Mehr Hungernde gibt es nur in Jemen, die Arbeitslosenrate ist die höchste weltweit und 80 Prozent der Arbeit ist nicht existenzsichernd.“[15]

Die Lage hat sich Covid-19-bedingt innerhalb der letzten Monate weiter verschlechtert: Die Auswirkungen der Pandemie drohen laut dem afghanischen Wirtschaftsministerium die Arbeitslosigkeit um weitere 40 % und die Armut um 70 % zu steigern. Die National Union of Afghanistan Workers & Employees schätzte im Mai 2020, dass etwa zwei Millionen Arbeiter*innen und Beamt*innen (bei rund 32 Millionen Einwohner*innen) aufgrund der Pandemie ihre Arbeit verloren haben.[16] Ärzt*innen vom Mirwais Hospital in Kandahar berichten, dass sie allein in ihrem Krankhaus etwa jeden zweiten Tag eine Frau nach einem gescheiterten Selbstmordversuch behandelten, als die Coronavirus-Infektionen im Mai und Juni stiegen. Dies begründet Heather Barr, die Interims-Ko-Direktorin der Frauenrechtsabteilung bei Human Rights Watch, mit der Wirtschaftskrise im Land.[17] Die Nahrungsmittelpreise stiegen im Vergleich zum Vorkrisenniveau um ganze 30%,[18] wodurch sich die Situation der Hungersnot im Land zuspitzt.

90,3% der Befragten berichteten von Gewalterfahrungen. So zum Beispiel „haben in einem Fall Taliban innerhalb einer Wochenfrist erfahren, dass der Betroffene zurückgekehrt war, haben ihn gefangen genommen und drei Tage lang misshandelt, um ihn für die Flucht zu bestrafen und zur Mitarbeit zu zwingen. Er konnte nur entkommen, weil ihm ein Bekannter half, der erst seit Kurzem bei den Taliban war. Anschließend verließ er sofort erneut das Land.“[19] 54% waren sogar von speziell gegen Rückkehrende gerichtete Gewalt betroffen, die entweder durch die Taliban oder auch durch das eigene soziale Umfeld erfolgt. Stahlmann erklärt: „Um der Verfolgung durch die Taliban zu unterliegen, genügt die Tatsache, in Europa gewesen zu sein. […] Vorwürfe sind nicht nur »Ungläubigkeit«, sondern auch »Spionage« und »Verrat«. In zwei Fällen wurde in den Drohschreiben explizit auf die Zufluchtsländer in Europa Bezug genommen, in denen die Rückkehrer Asylanträge gestellt hatten. Eine Familie musste Nachbarn Schutzgeld zahlen, weil man ihnen angedroht hatte, den Taliban die Rückkehr des Sohnes zu verraten.“[20] Zum Teil sind die Taliban auch in der eigenen Familie präsent: „Ein weiterer Abgeschobener wurde durch den eigenen Vater bedroht, der auch bei den Taliban ist, und durch Informanten in der afghanischen Community in Deutschland herausgefunden hatte, dass sein Sohn in Deutschland eine Freundin hatte.“ Berichtet wurden auch von acht Vorfällen, „bei denen sie auf der Straße, in der Moschee und bei der Arbeitssuche von Fremden als »Verräter« oder »Ungläubige« bedroht, gejagt oder sogar angegriffen wurden.“[21]

Abgesehen davon stellen Kriegshandlungen und Anschläge eine Gefahr dar: „So gab es drei Vorfälle, bei denen Abgeschobene durch Anschläge so schwer verletzt wurden, dass sie im Krankenhaus auf Notfallbehandlungen angewiesen waren. Durch einen vierten Anschlag wurde die Unterkunft eines Abgeschobenen schwer beschädigt und er ist nur einer Verletzung entgangen, weil er zufällig nicht zu Hause war.“[22] Mindestens eine Person beging nach seiner Abschiebung Suizid. Vor dem Hintergrund dieser Gefahrensituation wird auch ersichtlich, warum 89.9% der Befragten angaben, versteckt zu leben. Abgesehen von der Gewalt erwartet die Abgeschobenen Obdachlosigkeit (18,4% waren davon betroffen) und Armut: „Der einzige Befragte, der hauptsächlich von seiner Arbeit leben konnte, hat diese durch die Vermittlung eines Onkels gefunden. Der Ladenbesitzer hätte um seine Abschiebung gewusst und wäre einer der wenigen gewesen, die verstanden hätten, dass man kein Verbrecher sein müsse, um abgeschoben zu werden. Er hätte jedoch mit dem Betroffenen striktes Stillschweigen über die Flucht und Abschiebung vereinbart, um keine Gefährdung für das Geschäft zu provozieren. Nachdem er diese Arbeit verloren hatte, weil das Geschäft schließen musste, gab ihm der Onkel zu verstehen, dass er ihm nicht mehr helfen könne und er das Land verlassen solle.“[23]