Geschichte wiederholt sich – von Parallelität zeitgeschichtlicher Abläufe

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Im Rahmen des Zerfalls des russisch dominierten Imperiums erlangt ein Landstrich erstmals nationale Eigenstaatlichkeit, der zuvor stets Bestandteil anderer Großmächte gewesen ist. Moskau gewährt im Rahmen der Konsolidierung einer eigenen Schwächephase der abtrünnigen Republik die Unabhängigkeit. 22 Jahre später erklärt die Moskauer Führung, dass die neue Nachbarrepublik eine Bedrohung der eigenen Sicherheit darstellt. Damit ein Aufmarsch feindlicher Truppen weniger effektiv möglich ist, werden die Abtretung großer Grenzgebiete ultimativ gefordert. Weil diesen Forderungen nicht nachgekommen wird, überfällt die Rote Armee das Nachbarland, was breite internationale Empörung auslöst. Dem deutlich kleineren Nachbarland werden wenig Chancen auf Gegenwehr eingeräumt. Nach westlichen Schätzungen sollte der Krieg nach zwei bis drei Wochen erledigt sein. Die Sache verläuft anders. Der nominell deutlich überlegenen Roten Armee fällt es sehr schwer, sich gegenüber den sich unerwartet geschickt und effektiv agierenden Verteidigern durchzusetzen. Erst nach drei Monaten Krieg und hohen Verlusten kann der weit überlegene Angreifer die Verteidiger soweit in die Enge treiben, dass ein Friedensdiktat mit Abtretung von rund 10 Prozent des Staatsgebietes erzwungen werden kann. Nein wir reden nicht von der Ukraine!
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Upload vom 02.04.2022 / 15:30

Dateizugriffe: 1392

Klassifizierung

Beitragsart: Anderes
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Mel
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 02.04.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Im Rahmen des Zerfalls des russisch dominierten Imperiums erlangt ein Landstrich erstmals nationale Eigenstaatlichkeit, das zuvor stets Bestandteil anderer Großmächte gewesen ist. Moskau gewährt im Rahmen der Konsolidierung einer eigenen Schwächephase der abtrünnigen Republik die Unabhängigkeit. 22 Jahre später erklärt die Moskauer Führung, dass die neue Nachbarrepublik eine Bedrohung der eigenen Sicherheit darstellt. Damit ein Aufmarsch feindlicher Truppen weniger effektiv möglich ist, werden die Abtretung großer Grenzgebiete ultimativ gefordert. Weil diesen Forderungen nicht nachgekommen wird, überfällt die Rote Armee das Nachbarland, was breite internationale Empörung auslöst. Dem deutlich kleineren Nachbarland werden wenig Chancen auf Gegenwehr eingeräumt. Nach westlichen Schätzungen sollte der Krieg nach zwei bis drei Wochen erledigt sein. Die Sache verläuft anders. Der nominell deutlich überlegenen Roten Armee fällt es sehr schwer, sich gegenüber den sich unerwartet geschickt und effektiv agierenden Verteidigern durchzusetzen. Erst nach drei Monaten Krieg und hohen Verlusten kann der weit überlegene Angreifer die Verteidiger soweit in die Enge treiben, dass ein Friedensdiktat mit Abtretung von rund 10 Prozent des Staatsgebietes erzwungen werden kann. Nein wir reden nicht von der Ukraine!

1917 – das riesige Zarenreich versinkt in Chaos und Bürgerkrieg. Eine gute Gelegenheit für zahlreiche Völker, sich aus den Klauen des russischen Imperialismus zu lösen. Das Großherzogtum Finnland, gehörte seit 1809 zu Russland, zuvor zu Schweden. Eine finnische Eigenstaatlichkeit hatte es nie gegeben, ein nationales Bewusstsein kam in diesem recht entlegenen nordosteuropäischen Landstrich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts auf. Die Bolschewiki hatten bis 1922 an genügend Fronten zu kämpfen, sodass sie dem wenig wichtigen Waldgebiet die Unabhängigkeit kampflos gewährten. 1939 war die Macht der Bolschewiki gefestigt, Stalin hatte Millionen echter und vor allem vermeintlicher Gegner im multinationalen Sowjetstaat erfolgreich umbringen lassen, sodass sich die imperialen Machtgelüste wieder nach außen richten konnten. Im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts wurden die baltischen Staaten, Ostpolen und auch Finnland der sowjetischen Einflusszone zugesprochen.
Prompt verlangte Stalin von Finnland Gebietsabtretungen und die Stationierung sowjetischer Truppen zu Sicherung von Leningrad, das sich nur 50 km hinter der damaligen Grenze befand. Nachdem die finnische Seite das ablehnte, annullierte die russische Seite den seit 1932 bestehenden Nichtangriffspakt – vergleichbar mit dem Bruch der Sicherheitsgarantien Russlands gegenüber der Ukraine von 1994 – und überfiel das kleine Nachbarland, vorgeblich um seine eigenen Sicherheitsinteressen wahrzunehmen.
Der sogenannte Winterkrieg 1939/40 verlief für die weit überlegene Rote Armee zunächst äußerst verlustreich und unbefriedigend. Die kleine und schlecht ausgerüstete finnische Armee verteidigte sich so geschickt, dass die Erwartung des sowjetischen Außenministers Molotow, die finnische Hauptstadt Helsinki würde nach drei Tagen erobert sein, sich als arrogante Überheblichkeit erwies. Die Westmächte Frankreich und England unterstützen Finnland mit eher geringen Waffenlieferungen, eine direkte militärische Hilfe lehnten sie analog zur heutigen Situation ab. Der Völkerbund verurteilte die sowjetische Aggression mit der gleichen geringen faktischen Wirkung, wie dies die heutigen UN-Resolutionen zur Ukraine tun.
Die sowjetische Führung hatte hinsichtlich der raschen Eroberung des Nachbarlandes nicht nur auf militärische Überlegenheit gesetzt. Aus überlieferten Propagandamaterial geht auch hervor, dass sie mit der Unterstützung durch die damals recht starke sozialistische Arbeiterbewegung Finnlands rechnete und glaubte, von den werktätigen finnischen Massen willkommen geheißen zu werden. Auch hier ist die Analogie zum Ukrainegeschehen unverkennbar.
Nach mehrmonatigem Kampf neigte sich die Waagschale jedoch in Richtung der zahlenmäßig und materiell weit überlegenen Roten Armee, sodass Finnland zu einem Waffenstillstand und Gebietsabtretungen gezwungen war. Auch diesbezüglich ist leider eine Wiederholung der Geschichte nicht unwahrscheinlich.

Was waren die Folgen dieses Winterkrieges?
Finnland konnte sich trotz der Gebietsverluste die Unabhängigkeit bewahren – im Gegensatz zu den baltischen Staaten, welche die sowjetische Besatzung unfreiwillig aber kampflos akzeptiert hatten und kurze Zeit später annektiert wurden.
Für die zuvor durch einen früheren Bürgerkrieg gespaltenen finnische Gesellschaft war die Erfahrung des Winterkriegs extrem einigend und konstituierend. Auch dieser Aspekt kann in der Ukraine ebenfalls gesehen werden.
Stalin reformierte seine wenig überzeugende Armee zum wiederholten Male, indem er einige Generale erschießen liess und die Führungsstruktur umbaute. Ob dies die Schlagkraft der Roten Armee erhöhte, lässt sich nicht beurteilen.
Hitler fühlte sich durch die schwache Performance der russischen Armee in seinen Eroberungsplänen im Osten bestärkt und unterlag der gleichen arroganten Selbstüberschätzung wie zuvor der sowjetische Diktator.

Bei all diesen geradezu verblüffenden Parallelen möchte ich eine nicht ziehen: Putin ist nicht Stalin. Der sowjetische Diktator war ein paranoider Menschenschlächter, der für den Tod und das Leid von Millionen von Menschen innerhalb und außerhalb seines Staates verantwortlich ist. Seine politischen Führungsentscheidungen waren im hohen Maße irrational und schadeten den Menschen der Sowjetunion und auch dem Land selbst in kaum vorstellbaren Ausmaß. Das stalinistische Herrschaftsregime basierte auf einem bislang nicht wieder erreichten Level der Gewaltausübung und auf umfassendem, jeden einzelnen Menschen in seinem Machtbereich treffendem Terror.

Putin ist ein machtbesessener Revisionist und Anhänger einer nationalistisch-großrussischen Idee. Sein Vorgehen ist im machiavellischen Sinne rational. Seine Macht beruht auf aufgebauten Loyalitäten, Seilschaften, elitären Zirkeln und eine weite Teile der Bevölkerung betreffende Renten- und Versorgungswirtschaft. Die gleichzeitig notwendigen und eingesetzten gesellschaftlichen Unterdrückungsmaßnahmen befinden sich auf dem Niveau eines mäßig autoritären Staates und erreichen zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht das Ausmaß der Unfreiheit wie beispielsweise in China.

Was lernen wir aus der Geschichte und ihrer Wiederholung?
Freiheit ist ein stets bedrohtes, verletzliches Gut – wer sie behalten will, muss sie verteidigen

Kommentare
07.04.2022 / 15:15 Attac-Magazin, radio flora, Hannover
Danke!
gesendet am 05.04.