Indigenes Kino - "Wir wären Diejenigen, die die Apokalypse überleben!"

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Dr. Jules Koostachin ist Filmemacherin, Regisseurin, Schauspielerin und Produzentin und lebt in Vancouver auf dem angestammten Land der Coast Salish Peoples. Jules Koostachin wurde im Norden Ontarios geboren und ist Mitglied der Attawapiskat First Nation. Sie wuchs bei ihren Cree sprechenden Großeltern in Moosonee und bei ihrer Mutter in Ottawa auf, einer Überlebenden des kanadischen Residential School Systems.

In ihren Filmen und Dokumentationen erzählt sie "Geschichten, die einen Sinn haben", über Frauen, die Gewalt erleben, über Geburtszeremonien, die Wechseljahre und die Überinhaftierung Indigener Menschen. Sie gründete die Firma VisJuelles Productions Inc. und empfiehlt ihre Fernsehserie AskiBOYZ auch für ein deutsches Publikum. Im Februar besuchte sie Stuttgart für das Nordamerikafilmfestival. Wir sprechen über Indigenes Filmemachen und einen Weg, abwertende Begriffe zu überwinden.

Audio
10:41 min, 20 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (48000 kHz)
Upload vom 17.04.2023 / 18:10

Dateizugriffe: 88

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: MoRa3X
Entstehung

AutorInnen: die meike
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 17.04.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Meike: In deiner Doktorinnenarbeit hast du eüber die bedeutsung von indigenem dokumentarfilm in der praxis geschrieben. Was ist der character von indigenem dokumentarfilm, was macht es so besonders?

Jules: Weißt du, Ich habe immer schon Kunst gemacht und als ich das erste Mal vor 30 Jahren nach Montréal zog, lernte ich dort die Filmemacherin Alanis Obomsawin kennen. Das was den Indigenen Dokumentarfilm von anderen unterscheidet, ist daß unsere Geschichten eine Wirkung haben und tatsächlich die Indigene Person in den Augen der Gesellschaft vermenschlicht. Wenn wir mit Indigenen Geschichten arbeiten, müssen wir uns sicher sein, daß wir die Protokolle befolgen, daß die Leute im Film wissen, wohin die Reise geht. Wir haben gegenüber der Community die Verpflichtung, sie wissen zu lassen, wie die Geschichte verwendet wird, ob sie vielleicht in irgendeiner Weise manipuliert wird. Wenn wir mit Indigenen Geschichten und Communities arbeiten… - das sind irgendwie auch ethische Fragen bei der Recherche: Du mußt deine Hausaufgaben machen; du mußt dich sehr gut vorbereiten; du mußt verantwortungsvoll sein. Die Zusammenarbeit muß auf gegenseitigem Respekt basieren. Diese ethische Praxis überschneidet sich mit Indigenem Dokumentarfilm. Und der Einsatz für uns als Indigene Filmemacher*innen ist hoch weil wir meist in unsere eigenen Communities gehen und ihnen Rechenschaft schuldig sind. Das heißt auch, daß der Druck, das Richtige zu tun, sehr groß ist. Du willst ja auch niemanden verärgern (lacht). Du willst ja auch sichergehen, daß du dich respektvoll verhältst in dem Prozess. Wie der Indigene Dokumentarfilm am Ende umgesetzt werden kann ist also abhängig von der Art der Annäherung an die Recherche und von deiner Methode.

Meike: kommen wir mal zum spielfilm. Ich bin ja ein filmnerd und bin vor einer weile auf das genre des afrofuturismus gestoßen. Als ich deinen kurzfilm mistik gesehen habe, hat mich das irgendwie an einige dieser filme erinnert.. vielleicht ist es auch nur der banale fakt, daß es sich um eine dystopie handelt und nicht-weiße leute als protagnonist*innen besetzt werden. Dann haben wir auf dem nordamerika filmfestival in stuttgart im februar diesen jahres viele spielfilme mit übernatürlichen elementen gessehen, mit visionen, geistern, symboliken – du hast uns dem publikum z.b. erläutert, daß die krähe eine botscahfterin des todes ist. Sera lys mcarthur, die schauspielerin, die du als protagnositin in deinem langfilm broken angel besetzt hast, bezeichnete das als indigenes kino. Stimmst du dem zu?

Jules: Oh ja absolut! Ich glaube, daß für viele von uns ein ganz wichtiger Teil unseres alltäglichen Lebens unsere Spiritualität ist. Viele von uns sind so aufgewachsen. Wenn du religiös bist, oder Teil einer religiösen oder spirituellen Gruppe bist, dann ist diese Praxis Teil deines Alltags. Ich spreche hier für mich. Ich wurde von meinen Großeltern aufgezogen und Spiritualität war ein sehr großer Teil unseres Lebens. Unsere Identität ist also davon ganz durchdrungen als Indigene Menschen. Es ist schwierig, eine Geschichte zu erzählen, ohne diesen spirituellen Bereich anzuerkennen. Das würde sich auch für mich in keiner Weise richtig anfühlen. Natürlich gibt es dort draußen auch Indigene Filmemacher*innen, die das nicht tun. Ich sage nur, daß für mich, die eben in meiner Familie und meiner Community aufgewachsen ist, das eben ein sehr wichtiger Teil unserer alltäglichen Kommunikation ist. Ja, vielleicht ist es Indigenes Kino oder aber wir sehen vielleicht auch eine Verschiebung in der Filmindustrie. Wenn ich mit dem Werk Indigener Geschichtenerzähler*innen zu tun habe, dann sehe ich den gleichen roten Faden in unser aller kollektiver Arbeit: wir erkennen den spirituellen Bereich an. Ja, vielleicht schaffen wir unser eigenes Genre. Ich will nicht sagen, daß es ein neues Genre ist, weil uns das wieder auf eine Zeitleiste setzen würde. Wir Indigene waren schon immer da und wir sind auch schon seit es den Film gibt in der Branche beschäftigt. Jetzt gibt es endlich einen Raum für uns, in dem wir unsere Geschichten auf unsere Art erzählen können. Und ein neues „Label“ – „Label“ hier in Anführungszeichen – wäre, ja klar, Indigenes Kino. Und mit meinem Film Mistik… also ich war total frustriert, daß im Fernsehen und im Kino wir Indigene nicht repräsentiert wurden, so, als würden wir gar nicht existieren. Es ist eine komplette Auslöschung aus Geschichten, die mit postapokalyptischen Themen oder Futurismen zu tun haben. Wir wären diejenigen, die überleben würden (lacht)! Es ergibt keinen Sinn für mich, uns aus diesem Genre auszuschließen, denn wir sind so dermaßen resiliente Menschen! Wir sind immer noch hier, bis heute, trotz der desaströsen Auswirkungen des Kolonialismus! Es ist also wirklich erfrischend, Indigene Charaktere in Thrillern, in Dramen, in postapokalyptischen Filmen, in Fantasy und Science-Fiction zu sehen. Das ist längst überfällig. Aber wir müssen all diese Arbeit erledigen, niemand macht sie für uns. Wir besetzen unsere Leute in dieser Art von Filmen.

Meike: du sagtest in stuttgart, du seist es leid, über stereotype zu sprechen, also es tut mir leid, dieses thema anzuschneiden. Aber wir hier in deutschland wir hinken wirklich deutlich hinterher in der debatte um kulturelle aneignung und rassismus. Du hast es auf dem podium in stuttgart gesehen: redfacing ist immer noch übliche praxis in kinderfilmen im jahr 2022. du sagtest, du hättest probleme mit dem wort „tradition“ , da es suggeriert, daß wir über eine verlorene und tote kultur sprechen. Wir deutschen wiederum haben probleme mit dem wort „Indianer“, denn es hat diese wirklich sehr spezielle konnotation, die mit den märchen von karl may zusammenhängen. Deswegen wurde bei der eröffnung in stuttgart auch über den namen des festivals gesprochen. Bruachen wir eine neue terminologie?? ein neues mindset? Oder am besten beides?

Jules: Das war eine andauernde Debatte in Stuttgart für die gesamte Zeit unseres Aufenthaltes. Ich denke – erfindet doch einen Namen, der irgendwie zeitgemäßer ist und Spaß macht, der die Communities in Nordamerika oder überall auf der Welt beschreibt! Da ist offensichtlich noch viel Arbeit zu tun. Ich gehe oft zu diesem Festival in Los Angeles, es heißt „LA Skins“. Skins (übersetzt „Haut“) ist ein Wort, das wir unter uns Indigenen Nationen benutzen. Es ist eine Selbstbezeichnung. ImagiNative (wortspiel: kombination von „phantasievoll“ und „nativ“) ist finde ich ein ziemlich cooler Name für ein Festival. Sollen sie doch ein paar junge Leute an Bord holen und ein Brainstorming machen dazu, wie die passende Terminologie für dieses Festival sein könnte! Denn sie zeigen eine Menge toller Filme in Stuttgart! Meine Güte…! und was ich an dem Festival mag, ist daß die Leute wirklich zu Besuch kommen, sie reisen aus dem ganzen Bundesgebiet an, um aufs Festival zu gehen und sich mit den Filmen, mit uns und miteinander auseinandersetzen. Da ist definitiv eine Leidenschaft und ein starker Wunsch, zu lernen. Hier in Kanada, wenn ich mit Leuten darüber spreche, was für uns als Indigene Menschen wichtig ist, dann wollen die Leute das oft gar nicht erst hören, was wir zu sagen haben. Sie wollen sich nicht damit auseinandersetzen. Sie sind nicht bereit für den Diskurs. Aber wenn du ein Publikum hast, das bereit ist zu lernen, ist das doch die beste Möglichkeit, einen Wandel herbeizuführen, die Perspektive zu wechseln. Du setzt dich mit tollen Filmen auseinander…. Es gibt genug Studien, es gibt genug Filme von Indigenen Leuten. Mensch kann sich mit diesem Werk auseinandersetzen, wenn mensch das wirklich will und die nötige Arbeit selbst tun. Z.B. wenn die Leute Zeit in Nordamerika mit Indigenen verbringen würden, merken sie, daß wir auch Menschen sind. Ich versuche von diesem Wort Tradition wegzukommen. Ich weiß nicht, wie das Wort in Cree heißt, aber es bedeutet, etwas immer und immer wieder zu tun. Es kommt mir vor, als würde es diese besagte Zeitleiste kreieren: Aber wer definiert denn, was traditionell ist? Ist es das, was vor 50 Jahren auf besagter Zeitleiste passierte? Vor 100 Jahren? Vor 200 Jahren oder vor 500? Wer entscheidet das? Aber vielleicht dient das ja auch der Selbstreflektion für uns als Indigene Community. Was tun wir immer und immer wieder? Was sind Traditionen, mit denen wir uns liebend gern beschäftigen? Es ist definitiv ein Problem, wenn Leute sich so anziehen wie wir! (lacht) Es gibt nämlich sakrale Dinge bei uns. Ich habe mal in einer Dokumentation ein Lied gehört, das ich erkannt habe und wußte, daß die betroffene Community es mit Sicherheit sehr genau damit nimmt, wer dieses Lied singen darf und es genaue Protokolle darüber gibt, wie dieses Lied verwendet wird. Ich habe diese Dokumentation in Deutschland gesehen, vielleicht war es ein*e deutsche Filmemacher*in – ich weiß es nicht mehr so genau und weiß auch nicht mehr, wie der Film hieß. Aber ich habe eben dieses Lied gehört und da waren soviele nicht-Indigenen Leute in dieser Art Powwow Situation. Und ich so: Oh mein Gott! Wenn die Betroffenen hören würden, wie ihr Lied in dieser Weise verwendet wird, wären sie sehr verärgert. Da kommt meine Doktor*innenarbeit ins Spiel: es gibt ein Protokoll, wenn du Indigene Lieder oder Insignien verwenden willst; selbst bei Tänzen, bei Versammlungen, bei Zeremonien. Die sind heilig. Dafür gibt es die Protokolle! Wir wollen nicht, daß diese heiligen Dinge von anderen ausgebeutet werden, ich glaube, das will niemand. Mir kommt es vor, die jüngere Generation – und das finde ich ziemlich cool – ihr seid viel kritischer. Ich hatte mit Studierenden in Stuttgart zu tun und sie haben sehr gute Fragen gestellt. Ich habe den Eindruck gewonnen: die haben es wirklich verstanden. Sie verstehen, daß gewisse Dinge nicht gehen. Es gibt also einen Wandel, langsam, aber sicher (lacht).