Kunst und Politik - Speed - Teil 1

ID 23652
 
Hans-Christian Dany im Gespräch über sein Buch 'Speed. Eine Gesellschaft auf Droge', mit passender Musik von Inger Schwarz.
Audio
31:52 min, 29 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 12.08.2008 / 14:18

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Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Kultur
Serie: Kunst und Politik
Entstehung

AutorInnen: Kunst und Politik
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 02.03.2008
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der Druck des Postfordismus
Hans-Christian Dany: Speed. Eine Gesellschaft auf Droge. Hamburg 2008.

Vor genau hundert Jahren wurde von der Abschlachtung der Rinder in den Schlachthöfen Chicagos die Fließbandproduktion abgeschaut. Während dort die Rinder seriell zerlegt wurden, begann die Detroiter Firma Ford damit, Autos zusammenzubauen. Die Arbeitsgänge wurden zerlegt in stumpfe Repetition, in viele sich ständig wiederholende Gesten. Das gleichmäßige Rattern des Fließbandes gab dazu den Takt. Diese Veränderung der Produktionsbedingungen wirkte sich weltweit aus – nicht zuletzt sah die KPDSU Anfang der 20er Jahre und gegen den Widerstand der Gewerkschaften darin eine Möglichkeit, die sowjetische Wirtschaft auf Trab zu bringen. Bis heute herrscht auf der Welt die fordistische Produktionsweise vor – je nach Kontinent ersetzen mehr oder weniger Roboter die früheren ArbeiterInnen. Mehr Roboter bedeuten mehr pharmazeutische Produkte: Amphetamin¬ähnliche Mittel sind in den westlichen Ländern ein Wachstumsmarkt.
In seinem Buch Speed – eine Gesellschaft auf Droge erzählt Hans-Christian Dany die Geschichte dieser Beschleunigung der Arbeit und liefert damit einen Schlüssel zum Verständnis der durchgängigen Beliebtheit von Amphetaminen im 20. Jahrhundert. Speed ist die Droge des Fordismus. Wer sie nimmt, kann weniger schlafen, die Körperfunktionen reduzieren sich auf die lebensnotwendigen, und identische Wiederholungen können ermüdungsfrei genossen werden. Speed ermöglicht seinen Benutzern nicht nur mit der gesellschaftlichen Beschleunigung mitzuhalten, sondern sie auch zu bejahen. Während die Kulturkritik seit den zwanziger Jahren die identische Wiederholung als kalt, langweilig oder dumpf verschreit, wissen alle Amphetaminseligen, welches Glück die mechanische Reproduktion in jedem Moment bereit halten kann. Es kommt nur auf den Kontext an. Die Diskothek ist für sie eben doch nicht das Fließband. Einerseits. Andererseits – daran läßt Dany keinen Zweifel – gibt es zwischen beiden Produktionsorten aufgrund des künstlichen Stoffes eine Beziehung, die ihn schließen läßt, es gebe „aller faszinierender Möglichkeiten der Drogen zum Trotz, gute Gründe, nüchtern zu bleiben“ (S. 181).
Damit redet der Autor weder den sozialdemokratischen ‚Arbeiter, laß den Alkohol sein!’-Kampagnen des 19. Jahrhunderts noch dem Autonomen ‚Dealer verpißt euch!’ das Wort, sondern setzt die Droge und ihren Konsum in den nötigen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext. Die Beliebtheit des Speed heute kann Dany nicht von den Produktionsbe¬dingungen trennen, in denen sich der Druck auf den einzelnen und seine oder ihre individuelle Produktivität erhöht hat. Wer nicht funktioniert, wie beispielsweise unkonzentrierte Kinder, wird mit Medikamenten wie Ritalin® behandelt, einem Amphetaminen nicht unähnlichen Stoff. Es lässt sich für das 20. Jahrhundert eine Biopolitik nachweisen, Dany deutet dies an, in der die Bevölkerung durch Mittel wie Amphetamin oder Metamphetamin kontrolliert wird. Es geht um nicht weniger als darum, wie die Herrschaft in den heutigen Gesellschaften erhalten wird. Als hätte es die Krise des Fordismus nie gegeben, sorgt Speed im Postfordismus dafür, dass alles so bleibt wie es ist.
Fordismus – Postfordismus: Hans-Christian Dany bleibt solchen Zuschreibungen gegenüber zögerlich und das ist nur eine der vielen Tugenden, die sein Buch auszeichnet. Denn dabei verzichtet er keineswegs auf den nötigen analytischen, urteilssicheren Blick, dem die Erkenntnisse der Hirnforschung ebenso zweifelhaft erscheint wie der Hype um Copyright-freie Produkte. Dieser Blick vergisst eben nie, dass er eine Gesellschaft betrachtet, die warenförmig organisiert ist und deren Überbauten a.k.a. Kultur hiervon nie auszunehmen sind. Dabei umgeht Dany Begriffe, mit denen schon alles erklärt zu sein scheint, bevor die LeserInnen selber genauer hingeschaut haben und erst dann die entsprechenden Muster erkennen. Solche Vorsicht ist bei einem so diffusen – und wie bei anderen Drogen auch: mythenbeladenen – Gegenstand nötig. Problematisch wäre es dennoch, Dany einfach als (Post-)Marxisten einzuordnen, um durch eine solche Klassifizierung die Wirkung der geübten Kritik zu entschärfen. Und doch darf mit seinem Buch behauptet werden, dass Drogen wie Speed zu den entscheidenden Produktivkräften des 20. Jahrhunderts gehören.
Das Buch liest sich wie eine bisher unterdrückte oder zumindest geheime Geschichte der Gesellschaften des 20. Jahrhunderts und hat in seiner Leichtigkeit gar nichts von dem in diesem Bereich ja auch immer wieder gern bemühten Enthüllungs¬journalismus. Denn die Geheimnisse unserer Gesellschaft liegen bekanntlich offen zu Tage – sie müssen nur zusammen gelesen werden. Und eine solche Lektüre liefert Speed. Gelegentlich etwas schnell, manchmal sogar atemlos, aber es wäre verwunderlich, würde der Gegenstand nicht auch die Darstellung selbst affizieren. Denn so wichtig es sein mag, nüchtern zu bleiben, wer die Wirkung der Droge nicht kennt, kann sie auch nicht analysieren. Wie die Produktionsbedingungen ihren unähnlichen Ausdruck in den Wirkungen der Droge finden, übertragen sich offenbar deren Wirkungen auf das Schreiben über diese Wirkungen. Die Stellen des Bandes, an denen detailliert die Wirkung bei meist prominenten Nutzern beschrieben werden, amüsieren in ihrem fiktiven Detailreichtum und interessieren zugleich.
Manchmal rekonstruieren sie eine verdrängte Geschichte. Dass der Blitzkrieg der Wehrmacht mit Pervitin®, einem Metamphetamin, gewonnen wurde, mag den wenigsten bekannt sein. Dass die Stuka das Ergebnis der manischen Phantasie des Pervitin®-abhängigen Genralluftzeugmeisters Ernst Udet war, wirft ein neues Licht auf Carl Zuckmeyers Des Teufels General, das dessen Schicksal schönredet. Aber auch die Kunstge¬schichte lässt sich aus der Amphetamin-Perspektive neu schreiben: Dany weiß zu berichten, dass Andy Warhol seine Siebdruck-Produktion mit der Wiederholung der immer selben Suppendose begann, nachdem er Amphetaminhaltige Diätpillen verschrieben bekommen hatte. Wem das zu konstruiert erscheint, sollte sich fragen, warum der erste Film des dauerwachen Obetrol®-Konsumenten einen Schlafenden zeigt, Sleep heißt und achtzehn Mal dieselbe zwanzigminütige Aufnahme hintereinander zeigt. Das zeugt schon von besonderem, zwingendem Humor, dessen Hintersinn nicht weniger heißt, als Warhols Dekonstruktion des Künstlergenies noch einmal zu wiederholen.
Der Gefahr, die Geschichte des Stoffes zur Aneinanderreihung von Anekdoten verkommen zu lassen, entgeht Speed durch die Annahme, die jeweiligen Kontexte veränderten auch die Wirkungen der Droge. Für Jean-Paul Sartre hat die „graue Maus unter den Drogen des 20. Jahrhunderts“ eine andere Wirkung als für die Northern-Soul-Hörer im Norden Englands. Die Formen, die Amphetamine angenommen haben, Pervitin®, Obetrol®, Benzedrine®, Crank, Crystal, Speed sind immer Warenformen. Wie bei anderen Waren auch entscheidet sich ihre Bedeutung nicht in der Produktion und Distribution, sondern im Konsum. Erst aus dieser Perspektive wird der Alleinanspruch einer jeden möglichen Geschichtsschreibung lächerlich: sei es die Geschichte der pharmazeutischen Industrie, die Geschichte des Krieges oder auch der Literatur, über die das 20. Jahrhundert aufgeschlüsselt werden soll. Die Droge durchkreuzt alle diese Bereiche und gibt eine entscheidende Produktionsbedingung des 20. Jahrhunderts an, die Produktivität des Konsums, durch den die Produktivität selbst beschleunigt und intensiviert wird. Keine Kritik unserer Gesellschaften wird ohne die Reflexion dieser Produktivität auskommen.
Amphetamine produzieren die fordistische Produktivität. Doch während die künstlichen Drogen, die Befreiung der zweiten Natur im Krieg, auf Arbeit und in der Diskothek immer Mittel für einen Zweck – die Kampfbereit¬schaft, die Leistungsverbesserung, der Flucht aus dem Alltag – geblieben ist, fragt Hans-Christian Dany implizit danach, wie eine Gesellschaft aussähe, in der Speed ein Mittel ohne Zweck wäre, eine Beschleunigung ohne Ziel, der reine Genuss der identischen Wiederholung. Manches Bild Andy Warhols gibt einen Vorschein von deren Schönheit – es wäre eben nicht die Wiederholung des immer Gleichen, sondern jede einzelne Wiederholung zählte mit einem Mal jenseits der Produktivität. Mit jeder identischen Wiederholung könnte alles anders werden. Das bleibt die zu erinnernde Hoffnung des 20. Jahrhunderts, die bis heute nicht eingelöst werden konnte.

Kommentare
12.08.2008 / 14:47 The Thing, Freies Sender Kombinat, Hamburg (FSK)
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