"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Armer Günter Grass -

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Armer Günter Grass! – Jetzt darf er nicht mehr nach Israel einreisen, und vor allem hat die israelische Hochintelligenz definitiv nachgewiesen, dass sich in diesem Schriftsteller die ganzen Jahre über immer jener Nazihelfer versteckt hielt, der er zum Schluss des Zweiten Weltkriegs war. Was heißt da Nazi-Helfer, natürlich freiwilliges Mitglied bei der Waffen-SS und damit erstens mit verantwortlich für den Holocaust und zweitens eben ein in der Wolle gefärbter Antisemit, der dies einfach über die Jahre hinweg mit ein paar umfangreichen Täuschungsmanövern, u.a. mit seinem ganzen literarischen Werk, vertuscht hat.
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10:34 min, 12 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 01.05.2012 / 10:57

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 24.04.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Als ich diese Geschichte kurz in der umfassenden Plaudertasche Internet nachschlug, fand ich dort aus dem Archiv des «Spiegel» eine Passage von Grass, welche aus dem November 2007 und aus dem Umfeld einer Klage von Grass gegen den Goldmann-Verlag stammt: «Ich habe mich als 15-Jähriger in Gotenhafen freiwillig zur Wehrmacht gemeldet, und zwar zum Dienst bei der U-Boot-Waffe, ersatzweise zur Panzerwaffe. Mit einer Meldung zur Waffen-SS hatte das weder direkt noch indirekt irgendetwas zu tun. Die Einberufung zur Waffen-SS erfolgte ohne ein aktives Zutun erst im Zuge der Zustellung des Einberufungsbefehls im Herbst 1944.» Dem hielt aber der Goldmann-Verlag entgegen, Grass hätte laut seiner eigenen Autobiografie zusätzlich gefragt, ob er bei der Panzertruppe im Tiger-Panzer zum Einsatz kommen würde, und da er sich als Jugendlicher darstelle, der außergewöhnlich gut über Militärisches informiert war, hätte er wissen müssen, dass die Tiger vorrangig den schweren Panzerabteilungen der Waffen-SS zugeteilt wurden. Mit anderen Worten: Der Beweis war geführt, schon im Jahr 2007. Wofür, weiß allerdings kein Mensch.

Vor ein paar Tagen habe ich erfahren, dass ein im Wortsinn alter ehemaliger Bekannter von mir gestorben ist. Ich hatte ihn vor Jahren bei einem Theaterprojekt kennen gelernt. Er war Sekundarlehrer und hat während seiner aktiven Laufbahn dafür gesorgt, dass ganze Generationen in einem ansonsten praktisch unbekannten Seitental in den Alpen Bekanntschaft schlossen nicht nur mit dem Alpöhi und dem Geißenpeter, sondern auch mit Fernando Arrabal, Eugène Ionesco und Bertolt Brecht. Er hat in einer dieser kaum je beschriebenen Biografien nichts weiter getan als die Fackel der reinen Vernunft hoch gehalten, er hat damit hinein gezündet in reaktionäre, verstockte Verhältnisse in einer Region, die ansonsten praktisch als höchstes kulturelles Ereignis den Durchzug der Truppen von General Suworow im Jahr 1799 für sich reklamieren konnte. Er war einer der belesensten und intelligentesten Köpfe, was dann aufs Alter hin auch in größeren Kreisen anerkannt wurde. Und dieser Mann, ungefähr im gleichen Alter wie der Literatur-Nobelpreisträger Grass, überquerte im Alter von 17 Jahren die Schweizer Grenze bei Kreuzlingen, um sich freiwillig zur Wehrmacht zu melden, für den Kampf an der Ostfront. Ich nehme an, dass dabei nicht die U-Boot-Waffe im Vordergrund stand, sondern eher die Panzertruppe; aber ob er damals wusste, dass die Tiger bei de schweren Panzerabteilungen der Waffen-SS zum Einsatz kamen, darüber haben wir nie gesprochen. Die Jugendsünde als solche reichte vollends, ein Fehler, mit welchem der Bekannte natürlich umso leichter leben konnte, als ihn die deutschen Behörden umgehend wieder zurück in die Schweiz überstellten.

Hätte Otto Brühlmann deswegen kein Recht gehabt, über Israel das zu sagen, was angeblich gesagt werden muss? Oder hätte umgekehrt ich, der ich eindeutig nach Kriegsende geboren wurde, das Recht dazu? – Solche Rechnungen sind derart offensichtlich scheps, dass sie nicht einmal von den israelischen Nationalisten einhellig bestätigt werden; Benjamin Netanyahu wirft Günter Grass denn auch nur vor, dass er Ursache und Wirkung verwechsle, dass also nicht Israel den Iran angreifen wolle, sondern dass der Iran die Vernichtung Israels plane, und wenn man der Rhetorik Glauben schenken kann, dann hat Netanyahu zweifellos Recht. – Übrigens liegt eine etwas kleinere Distanz, nämlich keine, auch zwischen Nord- und Südkorea, wo der Nordkoreaner im Moment gerade mit der vollständigen Auslöschung der südkoreanischen Hauptstadt Seoul droht – was es mit dieser Rhetorik auf sich hat, will ich im Moment gerne den internationalen Agenturen und Befehlshabern überlassen, die sich mit der Lage hoffentlich besser auskennen und die Ankündigung nicht übermäßig Ernst zu nehmen scheinen, aber man weiß ja nie. – Ich selber bin nicht dazu berufen, im Streit zwischen Netanyahu und Grass zu schlichten, es stehen nämlich keine neutralen Beobachter zwischen ihnen, im Gegensatz zur Grenze zwischen Nord- und Südkorea, wo Schweizer Soldaten tapfer auf beide Seiten spähen. Aber eines kann ich festhalten, ohne dass ich das inkriminierte Gedicht von Grass auch nur gelesen habe: Günter Grass ist kein Dichter. Er war es noch nie – was er in Zeilen und Reime gefasst hat, ließ jedem Sprachverständigen zuverlässig die Haare zu Berge stehen –, und er wird es auch nie werden. Was durchaus nicht heißt, dass Grass kein Schriftsteller ist oder war oder wenigstens ein schlechter; Günter Grass hat ein paar ganz ordentliche und tüchtige Werke geschrieben, und zwar nicht nur die Blechtrommel, und dass er den Literatur-Nobelpreis erhielt, geht insofern in Ordnung. Bloß hätte das Nobelpreiskomitee die Auflage erlassen sollen, dass er künftig keine Gedichte mehr verfasst.

Aber wies halt geht, er tut es dennoch wieder, und einer der Faktoren dabei ist der unglückliche Umstand, dass die durchschnittliche Lebenserwartung immer weiter steigt. Auch so ein durchschnittlicher Schriftsteller und meinetwegen auch ein überdurchschnittlicher Schriftsteller wird uns heute immer älter, aber Schriftsteller bleibt er, und ein Literatur-Nobelpreis reicht einfach nicht aus, um ihn definitiv zum Schweigen zu bringen, und so schreibt er halt vor sich hin, und wenn dann einmal zwei Jahre lang keine Schlagzeile mehr war, dann produziert man halt eben ein Gedicht auf einem Gebiet, wo man zum Vornherein sicher sein kann, dass sich irgend eine Zielgruppe empört geben wird, und da drängen sich die Israeli imperativ auf, nicht nur wegen der kalkulierbaren Reflexe bezüglich der Vorwürfe zu seiner Nazi-Vergangenheit, sondern weil die Israel-Frage tatsächlich eine anhaltend offene Wunde darstellt, eine Wunde aus dem Massenmord an den Juden, welcher offenbar die Vertreibung der Palästinenser rechtfertigt und heute die schleichende Landnahme in der Westbank; das Grasssche Gedicht über einen möglichen israelischen Militärschlag gegen den Iran kann ja Wirkung überhaupt nur entfalten, wenn es vor allem als Chiffre für diese Frage ohne jegliche Aussicht auf eine Antwort verstanden wird.

Und damit Schluss hierzu.

Aber ich bleibe noch für einen Abstecher im Nahen Osten. Nämlich verweist die New York Times darauf, dass im Schatten des Bürgerkriegs in Syrien der Libanon daran ist, sich wieder in jenes paradiesische oder pariserische Idyll zu verwandeln, das er bis in die 80-er Jahre hinein war, mindestens rund um die Hauptstadt Beirut. Allerdings bildet dies offenbar nur so lange eine Perspektive, als die rivalisierenden Fraktionen nicht stark genug oder ganz einfach nicht willens sind, sich gegenseitig anzugreifen. Umgekehrt ist es durchaus denkbar, dass die Erfahrung eines länger anhaltenden Friedens in den Köpfen durchaus ihre Folgen hat, auch wenn zunächst vor allem die reicheren Bevölkerungsschichten betroffen sind. Aber in dieser Region ist es letztlich wohl egal, ob die Geld- und Warenkreisläufe und ein geordnetes gesellschaftliches Leben von unten oder von oben wieder in Gang kommen, Hauptsache, sie tun es einfach, und zwar für eine zunehmende Anzahl Menschen; hat man sich einmal geschäftlich verstanden, dann stellt sich vielleicht mit der Zeit auch wieder eine zwischenmenschliche Kommunikation ein, und das wäre ein Baustein für den Friedensprozess im Nahen Osten, der seinesgleichen sucht. Mal sehen, wie sich das weiter entwickelt. Vielleicht ist es ja auch bloß ein Anzeichen dafür, dass der syrische Geheimdienst im Moment anderweitig beschäftigt ist als mit dem Strippenziehen im Libanon, wer weiß.

Und dann der Franzose, habt Ihr gesehen? Neben den für mich sehr erstaunlichen fast 9 Prozent für den bürgerlichen Kandidaten François Bayrou stechen natürlich die 18.5% für die Nationalsozialistin Le Pen ins Auge, die übrigens vor allem bei den Jungen auf sehr viel Anklang stoßen soll; das sagen mindestens ihre eigenen PR-Büros. Deutlich unter den Erwartungen blieb Jean-Luc Mélenchon mit knapp 12 Prozent, während man mit dem Absturz von Eva Joly gerechnet hatte. Da wir uns immer noch im Monat April befinden, in dem Irrtümer bei den Wetterprognosen nicht erlaubt, sondern obligatorisch sind, wage ich mich nicht auf besonders dünnes Eis, wenn ich behaupte, dass der Sarkozy vor dem zweiten Wahlgang so weit im rechten Lager fischen wird, dass die politische Mitte zu einem schönen Teil, sagen wir mal zu einem Drittel zu Hollande wechseln wird. Wenn François Bayrou diesen Trend am Schluss aufgreift und mit dem Hollande einen Deal abschließt, dann sehen wir demnächst eine Regierung Bayrou unter dem Staatspräsidenten Hollande. Das ist meine gegenwärtige Vorzugsvariante; bei einer zweiten Variante bildet Hollande eine sozialistische Übergangsregierung bis zu den nächsten Parlamentswahlen, nämlich wenn sich Bayrou vor dem zweiten Wahlgang selber unmöglich macht als künftiger Premierminister unter Hollande. Dem Sarkozy dagegen räume ich nach dem ersten Wahlgang kaum mehr Chancen ein, noch nicht mal unter Berücksichtigung des alten Louis-de-Funès-Strickmusters, dass sich in solchen Filmen zum Schluss eben immer doch noch ein Happy End einstellt. Manchmal ist das Leben eben trotz allem nicht filmreif.

Sonst noch was? Ebenfalls der New York Times entnehme ich, dass die griechischen Nationalsozialisten bei den nächsten Wahlen am 6. Mai ebenfalls gute Aussichten haben, ins Parlament zu rutschen. Das ist nur logisch und halt eben auch eine der Folgen davon, dass es die antikapitalistische Linke einfach versäumt hat, eine Revolution zu machen. Wenn man dies unterlässt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Faschisten in die Lücken springen. Ich wünschte mir, es wäre anders, aber bei den Griechen scheinen wirklich sämtliche Klischees aus allen blöden Vergangenheiten nicht nur zuzutreffen, sondern auch einzutreten, und zwar offenbar weder als Tragödie noch als Komödie, sondern einfach als griechisches Affentheater. Quo usque tandem, Graeci, abutere patientia nostra? – Aber offensichtlich ist den Jungs und Mädels schon so viel egal, dass ihnen auch das gründlich am Arsch vorbei geht.