Wachpolizei Sachsen ist „gefahrengeneigte Billiglösung“ – wo „Polizei“ draufsteht, muss auch richtige Polizei drin sein

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Auszüge aus der Landtagsrede von Enrico Stange

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren,



Lassen Sie mich bitte eingangs der Debatte, auch wenn Sie sagen mögen, es nütze nichts, über Vergangenes zu klagen, dennoch darauf aufmerksam machen, dass der personelle Notstand bei der Polizei durchaus hausgemacht und nicht erst mit dem deutlich angewachsenen Demogeschehen, Fußballspielen usw.
entstanden ist.


Es gab schon lange Zeit zuvor mahnende, ja insistierende Worte, die die heutige Ist-Situation in prophetischer Weise vorhergesagt hatten. So sagte Hagen Husgen, Chef der GdP, im Jahr 2010: „Folge der Unterbesetzung ist eine ständige Überbelastung, die krank macht. Jeden Tag fehlten in Sachsens Polizeiapparat 1.500 Beamte wegen Krankheit, sagt Husgen und merkt salopp an: 'Burn-out lässt
grüßen.' Solle sich diese Situation nicht noch verschärfen, müsse das Konzept zum Polizei-Umbau […] überarbeitet werden.“ (www.neues-deutschland.de)

Das war 2010, damals hatten wir noch mindestens 1.500 Polizeibedienstete mehr im Freistaat Sachsen. Und im Ergebnis des Polizeiumbaus und des Personal- und Stellenabbaus ist die sächsische Polizei komplett überlastet und hetzt buchstäblich von einem Einsatz zum nächsten. Und täglich bleiben wichtige Aufgaben liegen. Das alles verdeutlicht sich im Anstieg der
offenen Vorgänge, die innerhalb nicht mal eines Jahres um 38% gestiegen sind, oder bei den Überstunden, die nicht mehr abgebaut werden können und die sich mittlerweile auf rund 114.000 auftürmen.


Um es noch mal deutlich zu sagen: Die Zunahme von Demonstrationen, Auseinandersetzungen bei Fußballspielen und der Einsätze rund um Asylunterkünften sind nicht die Ursache für den Polizeinotstand. Sie lässt diesen aber deutlicher und eher zutage treten. Auch ohne diese spezielle Situation wären wir mit der vollständigen Umsetzung des geplanten Personalabbaus von gut 2.600 Beamten und Beschäftigten in dasselbe Dilemma gekommen. Und stellen Sie sich vor, dass dieser Stellenabbau erstens noch immer nicht gestoppt ist – es gibt keine haushalterische Grundlage – und zweitens also weiter läuft. Eine irsinnige Situation, in die uns aktive (passive) Politik der letzten Jahre und der Gegenwart führt.


In der Konsequenz und zwei Tage nach Übergabe des Evaluierungsberichts der Polizei-Fachkommission liegt heute kein Gesetz für einen Nachtragshaushalt mit Streichung von ausgebrachten KW-Stellen und einer Ausweitung des Einstellungskorridors auf dem Tisch und dem Hohen Hause zur Abstimmung vor, sondern eine halbseidene, mit großen Problemen behaftete „Notlösung für ein paar Jahre“. Also keine Lust, Geld in die Hand zu nehmen, sondern gefahrengeneigte Billiglösung.


Die Staatsregierung versucht, die Notlage mit der Einführung einer sogenannten Wachpolizei auszusitzen. Bei der Wachpolizei handelt es sich deutlich schlechter bezahlte und befristet angestellt Personen, die ca. 1.400 Euro im Monat netto bekommen ( Entgeltgruppe E 5, Stufe 1), die gerade einmal 12 Wochen ausgebildet werden und die „nur Fesseln und Reizstoffe sowie als Waffen nur Schlagstock und Pistole“ (§4 SächsWachdienstG) zur Verfügung haben. Dies sind alles Umstände, die nicht geeignet erscheinen, zukünftige Wachpolizisten im hoch sensiblen Bereichen der Sicherung von Asylunterkünften einzusetzen.


Darüber hinaus scheint die Anzahl der geplanten 550 Wachpolizisten auch noch nicht einmal ausreichend zu sein um die vorgesehenen 23 Erstaufnahmeeinrichtungen abzusichern. Wie Erik Berger, Vorsitzender des Polizei-Hauptpersonalrates beim Sächsischen Staatsministerium des Innern, bei der öffentlichen Anhörung zum Gesetz darlegte, benötigte man hierfür mindestens 642 Wachpolizisten (S.3). Also wird noch massiv gespart. Dazu passt auch der Umstand, dass es noch nicht einmal genügend Uniformen und Pistolen für die Wachpolizisten gibt, so müssen diese mit den ausgemusterten Altbeständen der regulären Polizei vorlieb nehmen.


Auch verfassungsrechtlich ist das „Gesetz über den Sächsischen Wachpolizeidienst“ hochgradig bedenklich. Stellungnahme von Thomas Giesen, Anhörungsprotokoll Anhang:

„Die Verfassung des Freistaats Sachsen bindet die Gesetzgebung und die Verwaltung an ihre Grundsätze als unmittelbar geltendes Recht (Art. 36). - Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus; sie wird durch besondere Organe der vollziehenden Gewalt ausgeübt (Art. 3 Abs. 1). Die staatliche Exekutive hat folglich das Gewaltmonopol. - Die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse ist als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, die in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen (Art. 91). Das ist das Beamtenprivileg.“

Mit dem Wachpolizeigesetz werden nicht verbeamteten Personen die Befugnisse gegeben, unter Einsatz von Waffen in das Recht der körperlichen Unversehrtheit einzugreifen. Aufgrund der Eingriffstiefe in die Grundrechte sollte dies nur verbeamteten Personen zustehen und nicht befristet Angestellten nach 12-wöchiger Ausbildung.


Ich will es Ihnen plastisch machen, weshalb ich persönlich nicht nur große Bauchschmerzen bei dieser Frage habe: Nach einer Kurzzeitausbildung wollen Sie erstens Wachpolizisten zur Personenbewachung, also auch bei Gewahrsamsnahmen einsetzen im Beisein eines Vollzugsbeamten. Auch das wurde bei der Anhörung zum Gesetz deutlich in Zweifel gezogen. Zweitens aber wollen Sie Wachpolizisten zur Objektbewachung einsetzen. Hier ausdrücklich nicht im Beisein eines Vollzugsbeamten, also auch allein.


Jetzt verdeutlichen wir uns, was alles Objektschutz sein kann und in welcher Zeit wir leben. Wachpolizisten, die notdürftig ausgebildet wurden, kaum gefestigt gelten dürfen hinsichtlich Deeskalationstrainings etc. stehen in vielleicht bedrohlicher und eskalativer Situation zwischen einem rasenden Mob vorn und einer EAE mit mehreren hundert mittlerweile aufgebrachten Flüchtlingen und Asylsuchenden. Und der rasende Mob drängt auf die Unterbringungseinrichtung zu. Steine und Böller werden geworfen.


Was werden in ihrer hohen Not diese Bediensteten des Wachpolizeidienstes mit 1.450 Euro netto wohl tun? Sie werden sich ob der fehlenden Ausbildung nicht erinnern können, wie sie sich in solchen Situationen deeskalierend verhalten sollen. Sie werden wegen der fehlenden Ausbildung kaum bis keine interkulturelle Kompetenz aufgebaut haben können, um mit der angesichts der Bedrohung außerhalb der Unterkunft aufgebrachten Stimmung in ihrem Rücken, also in der EAE umgehen zu können, und der rasende Mob rückt näher. Was werden diese Wachpolizisten in höchster Not tun?


Wenn die ersten Schüsse aus einer Dienstwaffe eines Wachpolizisten abgefeuert wurden und nicht nur dieser Wachpolizist in erhebliche juristische Probleme gerät, werden Sie merken, welchen Wahnsinn sie angesichts der aktuellen und sich weiter verschärfenden Situation in diesem Land heute beschlossen haben.


Die Lage ist anders als 2001. Ging es damals um den Schutz von besonders bedrohten Gebäuden vor einer abstrakten Terrorgefahr nach den Anschlägen auf das World-Trade-Center New York, so muss doch jedem auffallen, dass die Gefahr beim Schutz und der Sicherung von Asyl- und Flüchtlingsunterkünften heute eine andere ist. War damals, also 2002 ff. die Gefahr, dass irgend jemand mit Sprengstoffgürtel, großem Koffer oder Flugzeug das Bundesverwaltungsgericht Leipzig oder das World-Trade-Center Dresden anzugreifen suchte, so ist die Lage heute etwas anders. Asyl- und Flüchtlingsunterkünfte werden von Menschen aus dem direkten Umfeld angegriffen, um eine Unterbringung von Geflüchteten zu verhindern. Mittlerweile werden auch Leib und Leben dieser Menschen in Not aufs Spiel gesetzt, um die fremdenfeindlichen Ziele zu erreichen. Diese Gefährdung ist nicht mehr abstrakt sondern tägliche Realität.


Und dahinein wollen Sie nach 12-wöchiger Schnellbesohlung Wachpolizisten stellen, die Sie mit 1.450 Euro monatlich motivieren wollen. Sie müssen, offen gestanden nicht mehr ganz bei Trost sein.


Zudem bleibt fraglich, ob sie die 550 Wachpolizisten überhaupt bekommen. Geplant ist, diese aus dem Bewerberpool zur Einstellung in den Vorbereitungsdienst Laufbahngruppe 1 zu nehmen, die bei der diesjährigen Einstellung nicht berücksichtigt wurden oder die die Einstellungsvoraussetzungen nicht erfüllt haben. Und Sie glauben allen Ernstes, dass bei der gegenwärtigen Situation auf dem Ausbildungsmarkt, dass diese Bewerber jetzt arbeitslos sind und nur auf einen Brief der sächsischen Polizei warten?


Um die Polizei aus der Misere zu führen, sind andere Maßnahmen erfolgversprechender:


Festlegung der Zielpersonalstärke für Beamte und tarifbeschäftigte im Polizeidienst in Sachsen von mindestens 15.000 Beschäftigten im Ergebnis der Evaluierung durch die Fachkommission. Denn die vorgeschlagenen zusätzlichen 1.000 Stellen schaffen nicht einmal den nötigen Ersatz für die bereits weggefallenen Stellen aus der von CDU und SPD in der vorangegangenen Koalition beschlossenen Reform.

Sofortige Anhebung des Einstellungskorridors auf 600 Anwärter und perspektivisch auf 800 ab 2017, um zügig die nötige Personalstärke zu erreichen.

Veränderung der Ausbildung und des Praktikumsanteils (Verkürzung oder Verlängerung), um von den motivierten Beamten in Vorbereitung schnell viele in die Reviere und Streifenwagen zu bringen als direkte und gut ausgebildete Unterstützung. Das ist tausendmal sinnvoller. Denn Sie wollen im Grunde in 2016 maximal 200 Wachpolizisten einstellen, sofern Sie sie bekommen. Dann greifen Sie doch auf die Ausbildungsjahrgänge zurück. Das ist sinnvoller und sachgerechter.

Geeigneter als dieses halbgewalkte Gesetz ist es, finanzielle Anreize zu schaffen, um Polizeibeamte auf freiwilliger Basis zur Ruhestandhinausschiebung zu bewegen. Die so gewonnen zusätzlichen Beamten wären mit ihrer Berufs- und Lebenserfahrung eine echte Unterstützung bei der hochsensiblen Aufgabe der Absicherung des Polizeidienstes.


Es gibt viele Möglichkeiten, die Sächsische Polizei aus der Misere zu führen. Der Bürger hat einen Anspruch darauf, dass Polizei drin ist, wo Polizei drauf steht. Der Bürger hat einen Anspruch auf einen gut ausgebildeten und weitergebildeten Beamten, der die hoheitlichen Aufgaben zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit ohne Einschränkungen erfüllen kann und darf.

Der Bürger hat im Grunde einen Anspruch darauf, dieses Gesetz nicht passieren zu lassen.


Wir werden uns beim Änderungsantrag der Koalition enthalten. Schließlich sei es Ihnen gestattet, den eigenen Gesetzentwurf zu bearbeiten. Das Gesetz in Gänze werden wir allerdings wegen der genannten Gründe ablehnen.

Tim Thaler sprach mit Enrico Stange darüber er ist MdL im säsische Landtag für die Partei die Linke




Audio
11:19 min, 10 MB, mp3
mp3, 125 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.12.2015 / 13:19

Dateizugriffe: 553

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Tim Thaler
Radio: coloradio, Dresden im www
Produktionsdatum: 18.12.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
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Kommentare
30.12.2015 / 11:00 radio blau, Radio Blau, Leipzig
aktuell
...haben wir am 29.12. in Leipzig gespielt, Danke!