offener Brief des Nobordernetzwerktreffens in Polen im Dezember 2021

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Klassifizierung

Beitragsart: Anderes
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Entstehung

AutorInnen: Max
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 20.01.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Am 21. Dezember 2021 fand ein Netzwerktreffen von NoBorderAktivist*innen in Polen statt.

Dieser offene Brief des Netzwerktreffens gegen das Grenzsystem in Polen vom Dezember 2021 konzentriert sich auf die verschiedenen Bereiche, die zusammen mit den polnischen Aktivist*innen ausgemacht wurden und in denen jetzt, in den nächsten Monaten und langfristig Aufmerksamkeit und Maßnahmen erforderlich sind.

Die seit Monaten andauernde Situation an der Grenze zwischen Polen und Belarus ist eine echte humanitäre Krise, die Tausende von Menschen, die versuchen, in Europa Zuflucht zu finden, in Gefahr bringt.
Aber es ist nicht nur das. Sie ist auch ein sehr fruchtbarer Boden für Fremdenhass, in Polen und ganz Europa. Die Art und Weise, wie die Menschen von der Regierung behandelt werden, rechtfertigt das Denken und Handeln rechtsextremer Gruppen und fördert das Wachstum eines faschistischen europäischen Grenzsystems. Die Angst und die Ohnmacht, die durch die tragischen Bilder in den Mainstream-Medien hervorgerufen werden, sind nicht neu. Sie machen Angst, lähmen und demonstrieren schwarz auf weiß die Autorität allmächtiger militarisierter Staaten, die mit Waffen und Stacheldraht ausgestattet sind. Sie lassen die Menschen glauben, dass dies die einzige Option ist, dass dies eine effiziente "Lösung" für eine "gefährliche Krise" ist. Wer ist hier in Gefahr? In der Zwischenzeit wird die Aufmerksamkeit von einer notwendigen Reflexion über mögliche Solidaritätsstrukturen und Eingliederungsstrategien abgelenkt, die nicht mehr kosten würden. Diese Angst in irgendeiner Form zu schüren, ist eine der am offensten angewandten Taktiken des letzten Jahrhunderts, um die immer hermetischere Schließung der Grenzen zu rechtfertigen. Es ist auch ein Mittel, um die Menschen zu lähmen, damit sie sich unfähig fühlen, auf unmenschliche Maßnahmen zu reagieren und sich ihnen zu widersetzen.

Viele Menschen und Gruppen sind jedoch trotz der immer größer werdenden Schwierigkeiten, Gefahren und fehlender Mittel aktiv geworden. Das sind zum einen Einheimische, die sich mit der Situation nicht abfinden wollten und aktiv wurden, einige schlossen sich mehr oder weniger institutionalisierten Vereinigungen an oder gründeten autonome Gruppen. Autonome anarchistische Gruppen haben sich ihnen direkt angeschlossen und auf ihre Weise ein System der ersten Hilfe organisiert. Über die physische Hilfe hinaus ist es ihr Ziel, ehrliche und effektive Informationen über das, was dort passiert, für den Rest Europas zu verbreiten.
Wozu es unter anderem eine Telegram Gruppe gibt
Link zum NoBorderTeam Telegram info-chanel: t.me/no_borders_team.

Im Dezember 2021 lud das No Border Team Polen Gruppen aus mehreren europäischen Ländern ein, um die Situation zu diskutieren. Ziel dieses Treffens war es, ein besseres Verständnis für die Lage in Polen zu bekommen, was bisher getan wurde und welche aktuellen Bedürfnisse bestehen. Außerdem sollten mehr autonome Gruppen zusammengebracht werden, um das europäische Netzwerk von NoborderAktivist*innen zu stärken und über gemeinsame Strategien nachzudenken.

Warum veröffentlichen wir diesen offenenBrief?
Wir hielten es für notwendig, diesen Text zu veröffentlichen, weil wir einen konkreten Bedarf festgestellt haben. Es scheint, dass viele Menschen und Gruppen in Europa den Wunsch und die Mittel haben, zu helfen, dass aber ein großer Mangel an Informationen besteht, um die Situation effektiv zu verstehen. Manchmal fehlen auch die Zusammenhänge. Wir hoffen, dass diese Analyse des Themas Perspektiven für gegenwärtige und zukünftige kreative Aktionen eröffnet.

Dieser Text soll die aktuelle Situation kurz aufzeigen, sich aber vor allem auf die verschiedenen Bereiche konzentrieren, die gemeinsam mit den polnischen Aktivist*innen identifiziert wurden, in denen jetzt, in den nächsten Monaten und langfristig Aufmerksamkeit und Maßnahmen erforderlich sind! Jeder Bereich kann auf verschiedenen Ebenen angegangen werden - politisch, direkte Aktionen, Vernetzung - je nach den Möglichkeiten, Erfahrungen und Kapazitäten der Person oder Gruppe. Jede dieser Ebenen ist wichtig und ihre Sichtbarkeit notwendig um sie miteineander zu vernetzen.

1. Die Situation an der Grenze zwischen Polen und Belarus und wo Hilfe benötigt wird

Wie weitgehend bekannt ist, gibt es bereits seit Monaten ein Netzwerk verschiedener Gruppen an der polnisch-belarusischen Grenze, entweder innerhalb der Grupa Granica Struktur oder als autonome No Border Gruppen. Natürlich gibt es immer die Notwendigkeit von Geld oder bestimmten Gegenständen, damit die Gruppen ihre Arbeit fortsetzen können - allerdings kommunizieren polnische Aktivist*innen und Gruppen derzeit, dass die Strukturen, die sie an der polnisch-belarusischen Grenze aufgebaut haben, stabil sind und derzeit keine dringende Unterstützung von internationalen Aktivist*innen benötigen, auch weil es Netzwerke mit Einheimischen gibt. Die Situation verlagert sich aktuell an die litauische Grenze, und dort ist die Unterstützung durch erfahrene Aktivist*innen willkommen.

Aber das Wichtigste, was wir gemeinsam herausgefunden haben, ist, dass die Aktionen und das Engagement von Menschen und Gruppen, die sich engagieren wollen, sich auf die lokalen Strukturen und Bedürfnisse in den Zielländern konzentrieren sollten, um eine langfristige und nachhaltige Angehen des Gesamtproblems zu gewährleisten, anstatt zu kurzfristigem Aktivismus an der Grenze zu neigen!
Wenn an der Grenze dringende Unterstützung benötigt wird, werden die Aktivist*Innen von vor Ort sich melden und den Bedarf formulieren.

Kurzum: Organisiert euch in euren Städten, Dörfern und Regionen! Darauf wird in den folgenden Abschnitten noch genauer eingegangen.


2. Druck auf die Regierungen der europäischen Zielländer

Ein wichtiges Element einer kurz- und langfristigen Strategie ist es, kontinuierlichen Druck auf Politiker*innen und Regierungen in Deutschland und anderen Zielländer auszuüben, damit diese eine Erklärung zur Aufnahme von Flüchtlingen abgeben. Eine solche Erklärung wird die Strategien der polnischen Regierung gegenüber Menschen auf der Flucht direkt beeinflussen.

In den letzten Monaten wurden mehrere Demonstrationen, Aktionen und Infoveranstaltungen in verschiedenen Regionen und Städten organisiert, um auf die Situation an der polnisch-weißrussischen Grenze aufmerksam zu machen und die Regierungen zum Handeln zu drängen. Es ist dringend notwendig, dass dies weitergeht und eine Mobilisierung in größerem Umfang erreicht wird. Kreativität und Radikalität in unseren Aktionen sind mehr denn je gefragt, um unseren Stimmen Gehör zu verschaffen.

Da die Medien eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit der Menschen und der Regierungen auf einen bestimmten Punkt zu lenken, ist es wichtig, unsere Stimmen und Bilder nicht nur in unsere alternativen Medien, sondern auch in die Mainstream-Medien zu bringen. Die Situation an der Grenze wird in den deutschen Medien nicht mit der notwendigen Aufmerksamkeit behandelt. Zusammen mit polnischen Aktivist*innen haben wir auch festgestellt, dass die deutschen Medien keine detaillierte und fortlaufende Berichterstattung oder Analyse der aktuellen Situation liefern. Ein vollständiges Bild davon, wie Menschen auf der Flucht von allen beteiligten Regierungen behandelt werden und wie wiederholend die Probleme sind, die durch die europäische Grenzstrategie entstehen, erreicht die deutsche Gesellschaft nicht.

Kurzum: Wir müssen eine größere Mobilisierung erreichen, um unsere Regierungen unter Druck zu setzen und sie mit ihrem Teil der Verantwortung zu konfrontieren. Konnten wir in den deutschen Medien eine Stellungnahme zur Entscheidung der Regierung, Migrant*innen Zuflucht zu gewähren, lesen? Irgendeinen Artikel über den geplanten Bau einer Mauer zwischen Belarus und Europa oder über polnische Internierungslager? Lasst uns alle Kommunikationsmittel nutzen, um dies zu ändern!

3. Haftanstalten in Polen

Neben der roten Zone an der polnisch-belarusischen Grenze sind ein zentrales Feld der Unterdrückung, Unmenschlichkeit und Grausamkeit die Haftzentren in Polen, in denen derzeit Tausende von Menschen ohne rechtliche Unterstützung beim Zugang zu einem Asylverfahren, ohne kontinuierliche medizinische und psychologische Betreuung oder Zugang zu Grundbedürfnissen eingesperrt sind.
Die Zentren sind ständig überfüllt und kaum zugänglich. Anfang Dezember brach als Reaktion auf die unmenschliche Behandlung und die fehlenden Perspektiven ein Aufstand der im Haftzentrum in Wedrzyn eingesperrten Menschen aus.
Wir müssen ein Geflüchtetenlager als einen Ort neu definieren, der als Gefängnis dient und ein Ort ist, an dem Menschen ihrer körperlichen und geistigen Freiheit beraubt werden, an dem der Staat fortwährend Folter und Verfolgung betreibt. Langfristig gesehen sind Internierungslager nicht die Lösung, nicht nur wegen unserer ideologischen Differenzen. Langfristig wird die Beibehaltung der derzeitigen Politik zu einem systemischen Versagen führen.

Es besteht ein großer Bedarf daran, Informationen über die aktuelle Situation in den Haftanstalten zu sammeln und zu veröffentlichen und die alltägliche Verletzung grundlegender Menschenrechte an diesen Orten aufzuzeigen und zu skandalisieren!
Die Zustände in den Zentren und die grausamen Strategien der polnischen Regierung, mit der aktuellen Situation umzugehen, müssen die Aufmerksamkeit der Gesellschaft erlangen. Insbesondere die deutschen Regierungen müssen unter Druck gesetzt werden, da eine große Zahl von Dublin-Fällen in Deutschland zu Abschiebungen nach Polen führen wird.
Es besteht ein großer Bedarf an internationalen Unterstützungsnetzwerken rund um die verschiedenen Abschiebegefängnisse in Polen, da sich die Arbeit und Energie der polnischen Aktivist*innen derzeit auf die Grenzen konzentriert und die Kapazitäten begrenzt sind.

Kurz gesagt: Die Abschiebeknäste in Polen sind die eigentlichen Orte, auf die man sich konzentrieren sollte. Recherchen, Informationsbeschaffung, Beobachtung und Dokumentation der aktuellen Situation in und um die Haftanstalten sind dringend notwendig, um den Status Quo zu skandalisieren und die Menschen, die dort festgehalten werden, zu unterstützen.

4. Der Bau der Mauer in Polen

Bereits vor Wochen hat die polnische Regierung den Bau einer Mauer an der Belarusischen Grenze angekündigt. Der Bau hat bereits begonnen und wird in den nächsten Monaten mit Hilfe britischer Pioniertruppen und mehrerer polnischer und internationaler Stahl- und Materialfirmen kontinuierlich fortgesetzt. Die Mauer wird durch den Białowieża-Urwald, den letzten Urwald in Europa, gebaut und wird die Funktion des örtlichen Ökosystems stören sowie zur Zerstörung von mehreren Dutzend Hektar Wald führen.

Es ist dringend notwendig, die Angelegenheit in den Mainstream- und alternativen Medien sowie unter Aktivist*innen bekannt zu machen, da die Tatsache, dass eine Mauer zwischen Polen und Belarus gebaut wird, in der Öffentlichkeit nicht präsent ist. Die Folgen des Mauerbaus werden entscheidend sein für die Richtung der Migration und die Möglichkeiten der Migration. Verantwortliche Unternehmen und Regierungen unserer eigenen Länder müssen identifiziert und gestoppt werden!
Kurzum: Deutschland beteiligt sich passiv und aktiv am Bau einer Mauer - das können wir nicht hinnehmen! Wir müssen es stoppen, physisch! Und so viele Akteure wie möglich dazu bringen, die Kampagne gegen die Mauer zu unterstützen.

5. Abschiebeknäste in Deutschland und in anderen Zielländern und langfristige Unterstützungsnetzwerke für Asylsuchende

Was seit Beginn der Krise an der polnisch-belarusischen Grenze deutlich geworden ist, ist die Tatsache, dass die Menschen, die unterwegs sind, hauptsächlich nicht in Polen bleiben wollen (und Polen will nicht, dass sie bleiben), sondern andere Zielländer erreichen wollen - meistens Deutschland, Frankreich, die Niederlande oder Großbritannien. Die Migrationsmöglichkeiten sind einem ständigen Wandel unterworfen - Grenzen werden sich schließen, neue Routen werden sich öffnen, die politische Situation wird sich ändern, aber die Migration wird nie aufhören. Derzeit ist unklar, wie sich die Situation in Polen und Belarus entwickeln wird, aber es ist klar, dass bereits viele Menschen in die oben genannten Zielländer gekommen sind.

Polnische Aktivist*innen sind derzeit mit einer sehr dynamischen und sich ständig verändernden Situation an der Grenze konfrontiert, die sich auf erste Hilfe und kurzfristige Aktionen in dringenden Situationen konzentriert. Deshalb weisen sie dringend auf den großen Bedarf an stabilen und kontinuierlichen Unterstützungsnetzwerken für Menschen hin, die in den Zielländern angekommen sind und sich nun in einem langen Asylverfahren befinden. Die Orte in Deutschland, an denen Menschen in dieser Situation untergebracht sind, können unterschiedliche Charaktere haben (Erstaufnahmelager, Camp, Geflüchtetenlager, Gemeinschaftsunterkunft, Container, ...), sind aber meist alle fernab von größeren Städten und Infrastruktur gebaut. Die Isolation und der allgemeine Mangel an rechtlicher, medizinischer und psychologischer Beratung sowie an Zugang zu grundlegenden Informationen sind enorm! Viele Menschen sind der ständigen Bedrohung ausgesetzt, nach Polen abgeschoben zu werden, da viele von ihnen dort bereits registriert waren, oder in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt zu werden.

Die Menschen könnten aus Polen derzeit vor allem in Brandenburg ankommen, werden aber sofort auf Zentren in ganz Deutschland verteilt. Wir brauchen staatlich und kirchlich unabhängige und autonome Unterstützungsgruppen um jedes Zentrum herum, die ständig die Bedürfnisse der aufgegriffenen Menschen prüfen! Aktive Unterstützung sowie Schutz und Widerstand gegen faschistische Aktionen sind dringend notwendig.

Was über polnische Abschiebeknäste geschrieben wird, gilt auch für das deutsche Asylsystem. Auf politischer Ebene müssen wir darauf drängen, dass Lager und ein hochgradig repressives Asylsystem nicht die Antwort auf Migration sind, sondern vielmehr Isolation, Rassismus und rechte Positionen in unserer Gesellschaft verstärken.

Kurz gesagt: Wenn Menschen auf der Flucht in Deutschland, Frankreich, Italien usw. ankommen, ist das nicht das Ende. Das ist erst der Anfang.
Wenn es Netzwerke gibt, sollten wir uns darauf konzentrieren, die Situation unter verschiedenen Aspekten zu analysieren: politische Veränderungen, direkte Aktionen, kurz- und langfristige Unterstützungsstrukturen. Wenn es Gruppen gibt, sollten sie sich zusammenschließen und die verschiedenen Aufgaben aufteilen, um die Situation zu verstehen und angemessen handeln zu können. Wenn es keine Gruppe gibt oder es zu wenig Leute und Kapazitäten gibt, sollten wir in größeren Städten um Hilfe bitten, Treffen organisieren und über die Bedürfnisse der Region sprechen. Lasst uns laut sein, das Lagersystem anprangern und Wege finden, es zu überwinden!

Worauf wir in jedem Prozess besonders achten wollen:
Wir wollen die Stimmen und Bedürfnisse der Menschen hören, die von dem Grenzsystem betroffen sind
Wir nutzen unsere Privilegien, um sie zu unterstützen und wirklich etwas zu verändern, und nicht, um in die Rolle der "Wohltätigkeitshelden" zu gefallen
Wir wollen global und in langfristigen Aktionen denken, um die Fehler des bestehenden Systems nicht zu reproduzieren
Wir wollen, dass die Festung Europa zusammenbricht, wir wollen nicht nur darüber theoretisieren!