Die Situation in Gaza unter COVID-19

ID 102390
 
Seit 14 Jahren leben die Menschen auf engstem Raum in Gaza unter der Israelischen Besatzung. Bereits wurden die ersten Corona-positiven Falle in Gaza registriert.
Susanne Gfeller von medico international schweiz führte ein Skype-Interview mit Dr. Aed Yaghi von der Palästinensischen medizinischen Hilfsorganisation – Palestinian Medical Relief Society in Gaza.
Dr Yaghi berichet er über die medizinische und soziale Situation in Gaza während dem Ramadan und erklärt welche Massnahmen die Hamas-Regierung und das Gesundheitsdepartment in Gaza ergriffen haben.
Audio
19:23 min, 30 MB, mp3
mp3, 217 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 14.05.2020 / 14:18

Dateizugriffe: 16

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Religion, Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Radio LoRa, Bianca Miglioretto und medico international schweiz Susanne Gfeller
Radio: LoRaZH, Zürich im www
Produktionsdatum: 14.05.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Moderation und Übersetzung Interview mit Dr. Aed Yaghi, PMRS Gaza
Die Situation in Gaza unter COVID 19
O-Ton Yaghi
Seit 14 Jahren leben die Menschen auf engstem Raum in Gaza unter der Israelischen Besatzung.
Gaza ist auch als das grösste Open Air Gefängnis der Welt bekannt. Die Menschen können den Gazastreifen kaum verlassen. Bereits wurden die ersten Corona-positiven Falle in Gaza registriert. Die Gesundheitsversorgung war schon vor dem Virus prekär und die Einrichtungen überlastet.
Musik
Susanne Gfeller von medico international schweiz führte ein Skype-Interview mit Dr. Aed Yaghi von der Palästinensischen medizinischen Hilfsorganisation – Palestinian Medical Relief Society in Gaza.
Dr Yaghi erklärt, dass seine Organisation mobile Gesundheitsteams aufgestellt hat, die Risikogruppen und ältere Leute zu hause besuchen und tausende von Hygienekits verteilen.
Im folgenden berichet er über die medizinische und soziale Situation in Gaza während dem Ramadan und erklärt welche Massnahmen die Hamas-Regierung und das Gesundheitsdepartment in Gaza ergriffen haben.
Musik
0:01 Frage: Inwiefern ist Gaza bis jetzt von Covid-19 betroffen?

00:03 Antwort: Verglichen mit anderen Städten und Ländern haben wir bis jetzt Glück.
Gaza befindet sich bekanntlich seit 14 Jahren unter der israelischen Blockade, und die Anzahl Menschen, denen es gelingt, Gaza zu verlassen –über die Grenzübergange in Rafah oder Erez – ist limitiert. Es gibt keine internationalen Grenzübertritte nach Gaza. Das minimiert die Anzahl Fälle. Gleichzeitig sind das Gesundheitssystem und die medizinische Infrastruktur schwach und fragil und unsere Ressourcen nicht auf Covid-19 vorbereitet.
Bis jetzt wurden 17 Fälle identifiziert. Die ersten am 21. März. All diese Fälle wurden in Quarantäne-Einrichtungen registriert. Am 15. März begannen die Autoritäten, unter der Führung von Hamas, alle nach Gaza zurückkehrenden Menschen unter Quarantäne zu stellen. Es war ein koordinierter Entscheid mit den Ägyptern, den Grenzübergang in Rafah nur für Palästinenser und Palästinenserinnen zu öffnen, die nach Gaza zurückkehrten. Bis jetzt wurden rund 4000 Personen unter Quarantäne gestellt. Im Moment haben rund 1000 Palästinenser und Palästinenserinnen die 21 Tage Quarantäne bereits hinter sich und wir erwarten, dass die Ägypter den Rafah-Grenzübergang erneut öffnen, um weitere 1000 bis 1500 Personen den Grenzübertritt nach Gaza zu ermöglichen. Diese werden sich ebenfalls sofort in Quarantäne begeben müssen.
Bis jetzt wurden mehr als 5700 PCR-Tests durchgeführt, um alle unter Quarantäne Gestellten zweimal zu testen. Ein erster Test wird am vierten Tag der Quarantäne und ein zweiter am zweitletzten Tag vor Ablauf der Quarantäne durchgeführt.
Von den 17 Corona-positiven Fällen sind 12 bereits genesen und konnten nach Hause gehen. Fünf Infizierte befinden sich derzeit noch im Isolationsspital in Rafah.


02:25 Frage: Welche Massnahmen hat de-facto Regierung unter Führung der Hamas für die breite Bevölkerung getroffen?

02:32 Antwort: Am 7. März haben die Hamas-Autoritäten entschieden, die Kindergärten, Schulen und Universitäten zu schliessen. Am 22. März hat das Gesundheitsministerium zudem entschieden, alle Restaurants, und öffentlichen Märkte zu schliessen. Am 25. März wurden 32 medizinische Grundversorgungszentren des Gesundheitsministeriums geschlossen. Sämtliche öffentlichen Treffen wurden abgesagt, die Menschen wurden aufgefordert, weniger auf die Strasse zu gehen und zu Hause zu bleiben.
Selbstverständlich sollten wir auch über die Bereitschaftsvorkehrungen sprechen. Das Gesundheitsministerium hat am Rafah-Grenzübergang ein Feldspital für Covid-19-Fälle errichtet. Dieses ist mit Beatmungsgeräten, Intensivpflegebetten und weiterem Equipment ausgerüstet. Gleichzeitig hat das Gesundheitsministerium das Gaza Hospital so ausgestattet, dass es bei einer Ausbreitung von Covid-19 Patienten und Patientinnen aufnehmen kann. Zudem hat das Gesundheitsministerium einen Plan verabschiedet, wie in einer ersten, zweiten und dritten Phase mit Fällen umgegangen werden soll. Dieser Plan wurde gemeinsam mit Gesundheits-NGOs entwickelt. Ich habe das entsprechende Komitee geleitet.
Am 26. April hat die Hamas-Regierung entschieden, gewisse Restaurants und Cafés wieder zu öffnen, solange sie nicht zu viele Leute auf einmal empfangen und die Hygienevorschriften des Gesundheitsministeriums befolgen. Dieser Entscheid fiel auf Wunsch der Restaurantbesitzer, denn die Mehrheit der Arbeitstägigen in Gaza arbeitet in der alltäglichen Grundversorgung.

04:37 Frage: Haben Sie das Gefühl, dass es auch psychisch für viele Menschen schwierig ist, zuhause bleiben und die Nächsten nicht sehen zu können?

04:47
Antwort: Im Allgemeinen haben sich die Menschen in den ersten zwei Wochen an die Vorschriften des Gesundheitsministeriums gehalten. Aber seit ungefähr dem 10. April gehen die Leute wieder vermehrt auf den Markt und auf die Strassen.
Natürlich ist die psychosoziale Situation der Menschen beeinträchtigt, vor allem jener Leute, die Angehörige haben, die unter Quarantäne gestellt wurden. Das ist eine einmalige Erfahrung für alle, nicht nur hier in Gaza, sondern überall.
Die ägyptische Seite hat den Rafah-Grenzübergang unerwartet geöffnet, die Regierung entschied, alle einreisenden Personen unter Quarantäne zu stellen, war aber nicht darauf vorbereitet, hunderte von Menschen zu empfangen. Nach zwei, drei Tagen, gelang es der Hamas-Regierung, Hotels als Quarantäneeinrichtungen bereitzustellen. Die Menschen in Gaza machen sich Sorgen um ihre Verwandten, ihre Söhne, ihre Liebsten. Auch die Menschen in der Quarantäne haben ihre eigenen psychologischen Probleme.


06:00 Frage: Wir befinden uns gerade mitten im Ramadan. Wie wirkt sich das auf die Situation aus?

06:07 Antwort: Ja, korrekt. Besonders während des Ramadans besuchen die Menschen einander, vor allem Familienangehörige, und unterstützen die ärmsten Familien. Unter diesen Umständen geht dies nicht, da die Menschen angehalten sind, nicht rauszugehen, keine Besuche zu machen und physisch Abstand zu halten. Die Mehrheit hat finanzielle Probleme. Sie machen keine Besuche und können auch ärmere Menschen nicht unterstützen. Es ist schwieriger für uns in Gaza während des Ramadans.

06:38 Frage: Was hat Palestinian Medical Relief Society Gaza für Massnahmen getroffen?

06:43 Antwort: Wir bei PMRS haben unseren Plan den Phasen angepasst. Zuerst haben wir unsere Zentren vorbereitet und unser Personal ausgebildet, um mit der Situation umzugehen und die Hygienemassnahmen umzusetzen. Wir folgen allen Instruktionen der Weltgesundheitsorganisation WHO und des Gesundheitsministeriums. All unsere Zentren sind wie gewohnt geöffnet. Wir bieten weiterhin alle Dienstleistungen an, ausser zahnärztliche Leistungen bei neuen Patienten und Patientinnen. In jedem Zentrum haben wir einen speziellen Isolationsraum für Verdachtsfälle hergerichtet. Jede Patientin und jeder Patient muss vor dem Betreten unserer Zentren die Hygienemassnahmen befolgen und eine Krankenpflegerin misst die Temperatur. Personen, die verdächtige Symptome aufweisen, bringen wir in den Isolationsraum. Wenn nicht, kann er oder sie wie gewohnt unsere Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Das Gesundheitsministerium hat einige medizinische Grundversorgungszentren in Gaza geschlossen. Deshalb operieren wir neu mit mobilen Teams, welche die Risikogruppen und älteren Menschen zuhause besuchen. Wir bitten sie, ihre Häuser nicht zu verlassen. Wir haben hunderte Hygienekits an die Risikogruppen verteilt. Mit der Unterstützung von medico international schweiz planen wir, noch mehr Hygienekits an die Bevölkerung zu verteilen.
Die Aufstockung unserer Schutzausrüstungen für die medizinischen Teams ist zu kostspielig. Deshalb haben wir medico international schweiz und andere Partner angefragt, uns bei der Beschaffung dieser Ausrüstung zu unterstützen. Unser Hauptanliegen ist es, die Menschen in Gaza weiterhin medizinisch versorgen zu können und die Lücken im Gesundheitssystem, die das Gesundheitsministerium hinterlässt zu schliessen. Gleichzeitig wollen wir die Sicherheit unserer medizinischen Teams garantieren.

08:50 Frage: Wie sieht es mit dringenden medizinischen Fällen zurzeit aus? Ist es ihnen weiterhin erlaubt, Gaza zu verlassen, um in Israel behandelt zu werden?


08:57 Antwort: Wir sollten zwischen zwei Dingen unterscheiden: Niemand kann Gaza verlassen, ausser Patienten, die lebensrettende Behandlungen ausserhalb von Gaza benötigen, und Krebspatienten, die Bestrahlung benötigen. Bis jetzt können sie Gaza weiterhin verlassen, allerdings ist die Zahl gesunken. Jene, die eine Überweisung für eine Therapie benötigen, brauchen eine spezielle Genehmigung vom Gesundheitsministerium in Ramallah. Die zuständige Abteilung hat jedoch weniger Genehmigungen ausgestellt, weil meisten Leute in Ramallah nun von zuhause aus arbeiten müssen. Anfang April hat das Gesundheitsministerium in Ramallah ein privates Spital hier in Gaza damit beauftragt, Chemotherapie für jene Krebspatienten anzubieten, die für ihre Behandlung normalerweise nach Jerusalem reisen mussten.

09:48 Frage: Was denken Sie, sind momentan die grössten Bedürfnisse in Gaza?

09:53 Antwort: Die grösste Sorge ist, wie wir Corona-Tests durchführen können, da wie überall auf der Welt ein Mangel herrscht. Aufgrund der israelischen Besatzung sind wir in Gaza noch stärker davon betroffen. Zudem brauchen wir mehr Beatmungsgeräte, um dieser Pandemie zu begegnen, und zusätzliches medizinisches Personal. In den Quarantäneeinrichtungen arbeitet das Personal 21 Tage und muss danach 14 Tage in Selbstisolation. Das heisst, uns fehlt in dieser Zeit die Hälfte des medizinischen Personals. Dazu kommt, dass bereits vor Covid-19 Personalmangel im Gesundheitswesen herrschte.
Die zweitgrösste Sorge ist die ökonomische Situation. Rund 80% der palästinensischen Familien in Gaza leben von der humanitäre Hilfe durch UNO-Agenturen und internationale und lokale NGOs. Der Arbeitslosenanteil in Gaza lag bereits vor Covid-19 bei 53 Prozent. Es wird geschätzt, dass sich die Zahl der Arbeitslosen aufgrund der Schliessung von Restaurants, Cafés und des öffentlichen Verkehrs um 45'000 erhöht hat. Für diese Menschen ist es ein immeses Problem, das tägliche Überleben zu sichern. Wie helfen wir diesen Menschen, vor allem während des Ramadans?
Ich glaube, das sind die zwei Hauptanliegen: Gesundheit und Ernährungssicherheit. Sie sind verknüpft, denn um mit Covid-19 umzugehen, versuchen wir die Abwehrkräfte unserer Patienteninnen und Patienten zu stärken. Dies wird erreicht, indem sie sich gut ernähren.
Da in Gaza die Ernährungssicherheit für die meisten nicht garantiert ist, ist dies eine Riesenherausforderung.

Das war ein Interview, das Susanne Gfeller mit Dr. Aed Yaghi von der Palestinian Medical Relief Society in Gaza über Skype führte.
Die Palestinian Medical Relief Society ist eine langjährige Partnerorganisation von medico international schweiz.
medico international schweiz unterstützt das COVID-19 Massnahmenpaket der Palestinian Medical Relief Society. Dadurch können sie Corona-Test und das nötige Schutzmaterial für ihre Gesundheitsteams kaufen, damit diese die palästinensische Bevölkerung weiterhin versorgen und unterstützen können.

Unterstützen auch sie die wichtige Arbeit der Palestinian Medical Relief Society in Gaza. Spenden Sie auf das Postcheckkonto 80-7869-1 mit dem Vermerk COVID-19 Gaza. Oder besuchen Sie unsere Webseite auf www.medicointernatinal.ch.
Ich wiederhole nochmals die Postcheckkonto nummer für Spenden: 80-7869-1 und die webseite lautet www.medicointernational.ch, dort können Sie auch online spenden.
Das war ein Bericht von Bianca für Radio Lora. Die Übersetzung las Julia.
Die Musik el helwa di ist ein altes palästinensisches Widerstandslied von Said Darwich das vom Duo Shalabia gesungen wird.