FLÜCHTLINGE AN SPANIENS GRENZE ERSCHOSSEN - Radio Chapapote

ID 10270
 
An Spaniens Südgrenze sterben weiterhin viele MigrantInnen. Der Beitrag beschäftigt sich mit den jüngsten Ereignissen und informiert über die Wahrnehmung in Spanien. Mit O-Tönen aus dem spanischen Radio. Kritik, Kommentare und Vorschläge bitte an: RadioChapapote@yahoo.es
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mp3, 0 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 03.10.2005 / 12:50

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Klassifizierung

Beitragsart: Gebauter Beitrag
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Zwischen Ceuta und La Jonquera
Entstehung

AutorInnen: Johannes Mahn
Radio: WW-TÜ, Tübingen im www
Produktionsdatum: 03.10.2005
keine Linzenz
Skript
Hinweis zur Abmoderation: Im letzten Satz des Beitrags erwähne ich, dass kürzlich ein MigrantInnenboot kenterte, wobei drei Menschen starben. Inzwischen ist klar, dass es mindestens 17 Tote sind!

Für den Beitrag benutzte Quellen: Radio Nacional de España, El País, Indymedia Estrecho, DosOrillas.com

"Avalancha" ist das spanische Wort für Lawine. In den letzten Tagen ist dieser Begriff in Spanien ständig und überall zu hören und zu lesen. Doch nicht ein Erdrutsch wird damit bezeichnet. Das Wort hat sich als Bezeichnung für die Vorgänge durchgesetzt, die sich derzeit an der Grenze zwischen Marokko und den spanischen Enklaven Melilla und Ceuta abspielen: in großen Gruppen versuchen MigrantInnen aus Kongo, Côte d`Ivoire und anderen afrikanischen Ländern die Grenzanlagen zu überwinden.
Das Wort "Avalancha" verleiht den Eindruck von etwas Bedrohlichem. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue Meldungen über nach Spanien brechende "Migrantenlawinen" zu hören sind. So wird durch diese Begriffswahl in der spanischen Bevölkerung gezielt eine unbewusste Angst geschürt.

Wer jedoch wirklich Grund zur Angst hat, sind die MigrantInnen selbst. Immer wieder bleiben Tote und Verletzte am Grenzstreifen zurück. In der Nacht vom 28. auf den 29. September waren es in Ceuta über hundert Verletzte und mindestens fünf Tote, wobei es schwierig ist, verlässliche Angaben zu erhalten. Hieß es zuerst noch, die Opfer seien in der Panik überrannt worden bzw. an Schnittverletzungen gestorben, ließ sich später nicht mehr verheimlichen, dass sie erschossen worden waren. Nun beschuldigen sich die spanische Guardia Civil und die marokkanische Polizei inoffiziell gegenseitig, das Feuer auf die MigrantInnen eröffnet zu haben. Was wirklich geschehen ist, wird womöglich nie in Erfahrung zu bringen sein. So war es bereits Ende August, als an Melillas Grenze mehrere Tote zu beklagen waren. Nachdem tagelang über die Todesursache spekuliert worden war, verschwand das Thema aus den Schlagzeilen, nachdem immer mehr auf die Guardia Civil deutete. Laut der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" spricht alles dafür, dass zumindest einer der Toten durch den Aufprall eines Gummigeschosses gestorben war. Und Gummigeschosse verwendet nur die Guardia Civil. Dass diese paramilitärischen Polizisten nicht zimperlich vorgehen, betont in zynischer Weise sogar der rechte Präsident von Melilla Juan José Imbroda: "Que quede muy claro: no son azafatas". (Eines muss klar sein: sie sind keine Hostessen).

Was ebenfalls klar ist: die Guardia Civil und die marokkanische Grenzpolizei geht gegen die MigrantInnen mit massiver Gewalt vor. "Ärzte ohne Grenzen" beklagt die ständige Verletzung der Menschenrechte im spanisch-marokkanischen Grenzgebiet: Misshandlungen, auch durch sexuelle Gewalt, oder Abschiebungen von Verletzten seien an der Tagesordnung und hätten insbesondere in den letzten Wochen und vor allem auf der spanischen Seite deutlich zugenommen.
Die Guardia Civil setzt dabei Knüppel und eben auch Gummigeschosse ein. Ob sie zudem scharf auf Menschen schießt, soll hier dahingestellt bleiben. Auf alle Fälle wäre das nicht die erste ungesetzliche Handlung, denn viele Flüchtlinge berichten, dass sie, einmal auf spanischem Gebiet, von den Polizisten umgehend durch kleine Türen im Grenzzaun zurück nach Marokko abgeschoben werden, was eine absolut illegale Vorgehensweise ist. Der Präsident von Ceuta Juan Jesus Vivas forderte nun in Radio Nacional de España, diese Vorgehensweise zu legalisieren: "Es evidente que lo que vendría a remediar de una manera muy eficaz el asunto es si inmigrante que entra en Ceuta o Melilla de una manera irregular automáticamente es devuelto por la misma puerta a su lugar de procedencia inmediata que es Marruecos." (Es ist ganz klar, dass die Angelegenheit auf sehr effiziente Weise gelöst werden könnte, wenn jeder Migrant, der auf irreguläre Weise Ceuta oder Melilla betritt, automatisch auf dem selben Weg zurück nach Marokko abgeschoben wird.) Das aber käme einer Aufhebung des letzten Prinzips von Rechtsstaatlichkeit und einer faktischen Abschaffung des Asylrechts gleich.

Die Grenzanlagen in Ceuta und Melilla sehen übrigens ähnlich aus, wie einst die zwischen DDR und BRD: In einem Abstand von mehreren Metern befinden sich zwei Zäune, die mindestens drei Meter hoch und mit Nato-Draht bewehrt sind. Videokameras und Beleuchtungsanlagen gehören ebenso dazu wie Nachtsichtgeräte und Infrarotkameras. In den vergangenen zehn Jahren wurden allein in die Hochrüstung der gut 8 km langen Grenze von Ceuta 60 Millionen Euro investiert. Diesen Festungswall zu überwinden, ist nicht leicht. Und um die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs zu erhöhen, versuchen es die MigrantInnen - vor allem in Melilla - in großen Gruppen von 100 bis 500 Personen oder mehr.
Zwar häufen sich diese Versuche in letzter Zeit, doch sind sie nicht neu. Nun aber wird erneut aufgerüstet. Seit dieser Woche wird die Guardia Civil durch Militär verstärkt. Der Zaun zwischen Melilla und Marokko wird auf sechs Meter erhöht - und ist damit einen Meter höher als seinerzeit die Berliner Mauer. Aber dass Reisefreiheit in der Festung Europa kein Grundrecht, sondern eher ein Privileg für EuropäerInnen ist, ist ja spätestens seit der so genannten Residenzpflicht in Deutschland bekannt. Doch schon jetzt steht fest: die MigrantInnen werden neue, noch gefährlichere Wege suchen, nach Europa zu gelangen. Leider wird es auch künftig Tote an der spanischen Südgrenze geben.

Verantwortlich für alle Toten an Europas Außengrenzen ist die Europäische Union und damit nicht zuletzt die Bundesrepublik und deren Innenminister. Mit ihrer Abschottungspolitik verwehren sie den Flüchtlingen, was für unsereins so selbstverständlich ist: das bequeme Passieren von Grenzen, etwa der zwischen Marokko und Ceuta und das sichere Überqueren der Straße von Gibralter in modernen Fähren.
Um diese Verantwortlichkeiten zu verwischen, werden Begriffe wie "Avalancha" benutzt oder es wird so getan, als seien die Kräfteverhältnisse genau umgekehrt: "Utilizan tácticas y estrategias militares ... Son atletas." (Sie benutzen militärische Taktiken und Strategien ... Das sind Athleten.) erklärte jüngst ein Regierungsmitglied der Stadt Melilla und meinte damit nicht die Guardia Civil, sondern die Flüchtlinge.
Das rassistische Klischee von den primitiven, körperlich jedoch überlegenen Schwarzen bedient auch ein Artikel, der am 30. August in der spanischen Tageszeitung El País erschien. Dort wird ein Grenzübertritt folgendermaßen geschildert: "Lo que ocurrió recuerda los asaltos a las fortalezas en la Edad Media. Los inmigrantes trepaban por las escaleras y saltaban sobre la primera valla en solo 15 segundos. Recogían entonces otras escalas que les lanzaban sus compañeros y salvaban la segunda verja como gatos ... Los guardias, equipados con material antidisturbios, se interponían y trataban de rechazarlos con sus escudos, pero se veían superados por los corpulentos asaltantes."(Was hier passierte, erinnert an die Erstürmungen von Festungen im Mittelalter. In nur 15 Sekunden kletterten die Immigranten Leitern hoch und sprangen über den ersten Zaun. Dann holten sie andere Leitern, die ihnen ihre Kumpanen zuwarfen und überwanden wie Katzen den zweiten Zaun. Die gut ausgerüsteten Grenzwächter griffen ein und versuchten sie mit ihren Schilden zurückzudrängen, sahen sich aber von den korpulenten Angreifern überwältigt.)

Am 29. September, also am selben Tag, an dem in Ceuta so viele Flüchtlinge starben, fand in Sevilla ein Gipfeltreffen zwischen dem spanischen und dem marokkanischen Ministerpräsidenten statt. Dabei wurde beschlossen, dass beide Staaten in der Angelegenheit des so genannten "Migrantenproblems" besser zusammenarbeiten werden. Für die Flüchtlinge und MigrantInnen kann das nichts Gutes heißen.

Nachtrag: Während ich diesen Beitrag produziere, höre ich in den Nachrichten, dass drei MigrantInnen vor Fuerteventura ertrunken sind.

Kommentare
04.10.2005 / 18:39 Ralf, Radio Corax, Halle
Toller Beitrag- wenn man das sosagen kann
gesendet bei Widerhall-Radio CORAX am 4.10.
 
05.10.2005 / 18:06 stoffwechsel, Radio Z, Nürnberg
gesendet