Das social Distel-Ding – Der revolutionäre Geist liegt in der Luft

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Teil 43 der social distancing Kolumne - Diesmal: Gedanken nach der großen Black Lives Matter Demo in München
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07:58 min, 18 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 08.06.2020 / 18:04

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Politik/Info
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 08.06.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Und wieder gab es eine Demonstration an der dieses social Distel-Ding sich beteiligt hat. Zusammen mit vielen anderen. Am Samstag haben sich in München ca. 30.000 Menschen versammelt um gemeinsam und entschlossen für eine eigentlich selbstverständliche Tatsache einzustehen: „Black lives matter“ – Schwarzes Leben zählt und hat Bedeutung.
Dass es so viele Menschen werden, die diese Botschaft, aber auch die erschütternden Aufnahmen von George Floyds Ermordung, auf die Straße treiben würde, damit hatte die Polizei anscheinend nicht gerechnet. Dabei hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass die Bevölkerung der Metropolregion München regelmäßig in großer Zahl demonstriert, wenn es darum geht für Menschlichkeit, gegen Hass und gegen Überwachung aufzustehen. In der Kalkulation der Polizei und des KVR, dass viele Menschen der Kundgebung fern bleiben um die Virusausbreitung aufzuhalten, hat wohl die Variable „revolutionärer Geist“ keine Rolle gespielt.
Diese Variable ist allerdings in keinem Fall außer Acht zu lassen. Dieses größte soziale Experiment der Menschheitsgeschichte, das daraus besteht Milliarden Menschen mit der beinahe vollständigen Eindämmung des öffentlichen Lebens vor der unkontrollierten Ausbreitung des Corona-Virus zu schützen, während die Mehrheit Zugriff auf die größte Menge an Informationen und Informationsverbreitungsmöglichkeiten der Menschheitsgeschichte hat, verstärkt den revolutionären Geist in uns allen.
Die Folge sind unvorhersehbare Akte des Protests, der Solidarität, der Meinungsäußerung. Von den Corona-Rebellen über die teils anti-semitischen Verschwörungserzählungen hin zum politisch vereinnahmten Klatschen für Leistungsträger*innen in der Pandemie und der internationalen Bewegung gegen Rassismus. Auch wenn diese Protest- und Solidarisierungsbewegungen absolut nicht in einen Topf geworfen werden dürfen und auch nicht miteinander vergleichbar sind:
Das soziale Gefüge bricht auf und strebt nach Veränderung.
Das ist auch kein Wunder, schließlich sind die gesellschaftlichen Kontroll-Funktionen abhanden gekommen. Lange Zeit gab es keine Verbrüderung und Unterhaltung mehr, die Bundesliga und die anderen Sportligen waren ausgesetzt. Lange Zeit gab es keine Predigten, kein ora et labora also bete und arbeite, mehr. Der Mensch ist auf sich zurückgeworfen worden. Alleine oder mit der Familie zu Hause, mit den eigenen Gedanken und einer Welt da draußen die nicht wieder zu erkennen war. Strukturelle und existentielle Unsicherheit.
Der Virus als Gleichmacher hat allen ihr gemeinsames „Menschsein“ vor Augen geführt. Kein Geld, kein sozialer Status, keine Hierarchie, keine Herkunft, keine Bildung war und ist gegen die tödliche Gefahr für eine*n selbst und die eigenen Lieben gefeit. Alle die vor den Bildschirmen sitzen und saßen beschäftigen sich mit der gleichen Unsicherheit.
Nur, dass dann doch wieder die Unterschiede auftraten. In den USA am deutlichsten, wo weiße Männer bewaffnet gegen die Pandemie-Bekämpfung demonstrierten und Afro-Amerikaner verhaftet wurden, wenn sie keine Masken hatten oder in Gruppen unterwegs waren. Wo die Corona-Pandemie vor allem in den unterversorgten schwarzen Communitys fatal zuschlug und die soziale Spaltung aus rassistischen Gründen noch deutlicher zu Tage trat. Wo die qualvoll langsame öffentliche Ermordung George Floyds mit seinen Worten. „I can‘t breath“ allen mitfühlenden Menschen die Luft abschnürte und das Knie des rassistischen Mörders in Polizeiuniform gleichbedeutend mit dem strukturellen Rassismus in den USA wurde, der allen Afro-Amerikanern die Luft zum Atmen nimmt.
Aber auch in Deutschland zeigt sich in dieser Krise, dass „Menschsein“ eben nicht ausreicht um gleich zu sein, dass eben doch Unterschiede gemacht werden. Rassismus gibt es auch und auch gerade in Deutschland. Rassismus zu vergleichen oder als weniger schlimm zu erachten, ist niemals eine gute Idee. Der deutsche und europäische Rassismus, der sich anders äußert als in den USA, ist ebenfalls tödlich, strukturell, und wird gerne klein geredet. Aber auch hier gibt es racial profiling, auch hier sterben Menschen aus vermutlich rassistischen Gründen im Polizeigewahrsam, auch hier gibt es eine strukturelle Diskriminierung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Und auch hier gibt es Menschen, die das öffentlich machen und dafür angefeindet werden.
Und wie auch in den USA ist der Rassismus in Deutschland nicht die einzige Ungleichheit die während der kurzen Phase der Schließung des öffentlichen Lebens und darüber hinaus noch zu Tage treten.
Wer mitbekommen hat, wie viel Aufmerksamkeit die Automobilindustrie für ihre Forderungen nach einer Verkaufsprämie bekommen und trotz mit Staatsmitteln finanzierter Kurzarbeit Dividenden ausgeschüttet hat, während zugleich die Kreativwirtschaft und die Gastronomie mit einem praktischen Berufsverbot belegt wurde, kann nachvollziehen, dass die Wut groß ist.
Aktuell zeigt sich schon in den Nachrichten, welche Wirschaftsbereiche seit Jahrzehnten gute Beziehungen zur Politik führen, deren Veranstaltungen finanziell unterstützen und regelmäßig Wahlkampfspenden tätigen.
So viel Aufmerksamkeit für Politik wie heute gab es in den letzten Jahren kaum. Und solch einschneidende Maßnahmen in die persönliche Freiheit der Einzelnen auch nicht. Es ist also kein Wunder wenn der revolutionäre Geist geweckt wird.
Und so sah Mensch zuerst diejenigen demonstrieren, die sich sehr selten von der Politik eingeschränkt sehen und die dann die Grundlage dieser Einschränkungen anzweifeln. Diejenigen, denen es zuvor meist gut ging, die lieber weniger staatlichen Einfluss haben als mehr, die sich stark und unabhängig fühlen. Für sie war und ist das Problem zuvorderst die Einschränkung ihres Lebens für den potentiellen Schutz anderer Menschenleben, bzw. zweifeln sie die Beweggründe und die Wirkung dieser Einschränkungen an. Dann kamen die Öffnungen, die teilweise auch ungerechte Diffamierung in der Presse, die massive Eindämmung der Proteste durch die Polizei, die gemeinsam diesen libertären und ehrlicherweise auch sozialdarwinistischen Drang nach Veränderung beschränkten. Zurück bleiben noch einige, die glauben in diesem Protest eine anschlussfähige Bewegung gefunden zu haben, mit der die ungehörten Stimmen lauter werden, und zu viele, die diese mit Verschwörungserzählungen in einen tendenziell rechten Dunstkreis ziehen möchten.
Und dann kam Black lives Matter. Eine Bewegung die grundsätzlich für Grundrechte und Menschenrechte einsteht. Die nicht zulassen möchte, dass Menschenleben unterschiedlich gewichtet werden, dass sich eine Gesellschaft auf den Rücken einer Bevölkerungsgruppe bereichert, sie ermordet. Ein Anliegen, dem sich viele Menschen anschließen können, weltweit.
Nachdem jetzt in dieser Abfolge eine Ungleichbehandlung der Demonstrationen gegeben ist, sich scheinbar zeigt, dass die Demonstrationsverbote und –Einschränkungen in Zeiten von Corona politisch bedingt sind, droht uns wieder Ungemach. Es gibt zwar Argumente warum diese Ungleichbehandlung der Kundgebungen erfolgte: Unvorhergesehene Teilnehmeranzahl, unterschiedlicher Umgang mit den Beschränkungen und dem Maskengebot auf den Kundgebungen, grundsätzliche Richtung des Protests und vieles mehr…
Aber wer den Königsplatz am Samstag gesehen hat und in Corona keine harmlose Grippe sieht, dem wird trotz allem ein wenig mulmig zumute sein. Gespannt blicken wir auf die Zahlen und hoffen, dass in zwei Wochen nicht der Backlash kommt, der unser Verhalten als verantwortungslos bestätigt.
Das ändert allerdings alles nichts daran, dass der revolutionäre Geist die Gesellschaft erfasst hat. AC is not BC. Nach Corona ist eben nicht mehr so wie vor Corona. Und das wird sich auch politisch auswirken. Hoffen wir, dass ein Weg gefunden werden kann, diese politische Veränderung auszulösen, ohne, dass damit eine 2. Welle oder maßlose Repression einhergehen. Und damit diese politische Veränderung auch eine Verbesserung für alle beinhaltet gilt:
Maske auf und‘s Maul aufreißen! Gegen Rassismus, für eine gerechte Teilhabe aller an dieser Gesellschaft.

Kommentare
08.06.2020 / 20:03 Cornelius, Radio Blau, Leipzig
übernommen in Aktuell bei Radio Blau
danke! heute zwischen 19-20 Uhr bei Radio Blau in Leipzig gespielt
 
09.06.2020 / 18:09 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 9.6.. Vielen Dank!