Das social Distel-Ding – Der Kompromiss im Weltsicherheitsrat ist ein Angriff auf unsere Demokratien

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Teil 49 der Kolumne aus dem social distancing - Diesmal mit der Entscheidung im Sicherheitsrat 1,3 Millionen Menschen in Syrien von humanitärer Hilfe abzuschneiden
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Upload vom 13.07.2020 / 19:26

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 13.07.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Und wieder geht es ab in eine neue Woche in Corona-Zeiten. Wir sind zurück in der Pseudo-Normalität, in der Pandemieschutz für einige wie eine faule Ausrede klingt, sei es um einer unpassenden Einladung zu entgehen oder den schlechten Service in der Gaststätte zu begründen. Bei all dem Sonnenschein, der Feierlaune auf öffentlichen Plätzen und der Vorbereitung auf die Sommerferien, erscheinen die ersten Wochen der Krise wie aus einem anderen Zeitalter gefallen. Vorbei sind die täglichen Extras und Spezials nach den Nachrichten. Jetzt ist die Zeit der Sommerinterviews in luftigen Sommeranzügen, zu denen der RBB sogar Politiker einlädt die wahrlich keine Sonne brauchen um braun zu sein.
Die bangen Stunden vor dem Fernseher haben wir social Distel-Dinger eingetauscht gegen letzte Sonnenstrahlen am See oder Flussufer. Die zuvor so grausame Welt scheint in goldenes Sommerlicht getaucht befriedet zu sein. Alles ja nicht so schlimm bei uns. Die subjektive Wahrnehmung ist eben auch vom Wetter abhängig und profitiert davon, wenn uns weniger Nachrichten erreichen.
Diese schöne Weltsicht wird allerdings eingetrübt, wenn Mensch sich wieder mit der politischen Großwetterlage beschäftigt. Am unwohlsten wird einem bei der am Samstag gefällten Entscheidung des UN Sicherheitsrats zum Syrien-Konflikt. Statt wie bisher über zwei Grenzposten dürfen humanitäre Hilfsgüter in den nächsten 12 Monaten nur noch über einen Grenzposten zwischen der Türkei und Syrien geliefert werden. Wie häufig bei solchen zwischenstaatlichen Entscheidungen auf Ebene der Vereinten Nationen, ist die Bedeutung dieser Entscheidung erst einmal nicht leicht zu verstehen. Deshalb hier eine stark vereinfachte Erklärung der Situation und der Entscheidung:
In Syrien ist der 2011 ausgebrochene Bürgerkrieg noch nicht beendet. Der syrische Präsident Baschar al-Assad hat dank der Unterstützung Russlands große Teile des Landes zurückerobern können und versucht seit längerer Zeit die letzten Orte, die sich noch unter Kontrolle der Opposition befinden, einzunehmen. Diese Gebiete sind zugleich Rückzugsort für Millionen Binnenflüchtlinge in Syrien, die ohne humanitäre Hilfe zum Spielball zwischen den Bürgerkriegsparteien zu werden drohen. Mehr noch, durch das Zurückhalten von Lebensmitteln und Medikamenten und die Bombardierung von Krankenhäusern wird das Leid der Zivilbevölkerung zum Druckmittel der Regierung Assad die Rebellion zu beenden.
Unter anderem um diese mittelalterliche Methode der Belagerung und Aushungerung ganzer Städte unmöglich zu machen gibt es den UN Sicherheitsrat und die von ihm organisierten und legitimierten humanitären Hilfslieferungen. Sie sollen dafür sorgen, dass weder die Rebellenführer noch die Regierung alleine darüber bestimmen, wer Lebensmittel und Medikamente erhält.]
Am Samstag haben Russland und China, die mit ihrem Veto alle Entscheidungen des Weltsicherheitsrats blockieren können, so lange von ihrer Veto-Macht Gebrauch gemacht, bis letztlich dieser, von Heiko Maas gelobte Kompromiss herauskam: Über einen einzigen Grenzposten können innerhalb der nächsten 12 Monate noch Lebensmittel und Medikamente ohne Erlaubnis oder Zugriff von Assad ins Land gebracht werden. Dadurch soll die Versorgung von ca. 3 Millionen Menschen in der Region Idlib sichergestellt werden können. Die ca. 1,3 Millionen Menschen, darunter ca. 500 000 Kinder, in der Region Allepo können aber nach der Schließung des zweiten Grenzposten nun nicht mehr unabhängig von Assad versorgt werden.
Russland und China scheinen diese Menschen nicht so wichtig zu sein, wie die Wiederherstellung der absoluten Souveränität von Baschar al-Assad.
Natürlich ist davon auszugehen, dass die beiden Veto-Mächte sich ihre Unterstützung versilbern lassen werden. Russland hofft wahrscheinlich auf mehr geopolitischen Einfluss in der Region und nicht zuletzt neue Rohstoffe.
China hingegen braucht eine befriedete Region um das Mega-Projekt der neuen Seidenstraße auch durch den Nahen Osten laufen lassen zu können. Dabei geht es sowohl um Straßen, als auch Schienen und Pipelines.
Es sind also zwei Mächte die diesen Konflikt, der schon eine halbe Million Tote forderte und 12-14 Millionen Menschen zur Flucht gedrängt hat, gerne für Assad entscheiden würden, egal wie viele Menschenleben das noch kostet. Das scheint ihr vordergründiges Interesse und das ist es auch was die Diplomaten und Kommentatoren aus beinahe allen anderen Länder der Russischen Föderation und der Volksrepublik vorwerfen.
Nun könnt ihr, liebe social Distel-Dinger fragen, warum hier versucht wird mit dieser grausamen Darstellung hoher Diplomatie den schönen Sommertag zu betrüben. Letztlich bringt nichts die Ohnmacht der einzelnen Bürger*innen so sehr ans Licht, wie die Entscheidungen über Krieg und Frieden auf Ebene des Weltsicherheitsrats.
Nun, ganz so einfach ist es nicht. Zwar ist das vordergründige Ziel Putins und Xi Jinpings sicher die Machterhaltung Baschar al-Assads, aber es gibt auch ein hintergründiges, das uns direkt betrifft und selten offen angesprochen wird: Das Auslösen neuer Fluchtbewegungen die über innenpolitische Verwerfungen Europa schwächen sollen.
Diese Feststellung ist grausam zynisch: Menschen werden auf dieser Ebene der Politik zum Spielball der Mächte, zum Druckmittel, zur Verhandlungsmasse. Während Millionen Menschen nichts anderes als überleben und eine verhältnismäßig sichere Zukunft wollen, gibt es einige, die diesen Überlebensdrang dafür nutzen um Politik zu machen.
Oder um es konkreter zu machen: Russland und China profitieren von einer in sich zerstrittenen EU deren Wertekompass abhanden gekommen ist. Egal ob Sanktionen wegen der Krim-Annektion oder die Einstellung des Auslieferungsabkommens mit Hongkong, nachdem die EU ihre Entscheidungen einstimmig trifft, ist jeder Zankapfel Gold wert, den die beiden autoritär regierten Länder in die Union werfen können. Dass sowohl Russland als auch China Propaganda-Maschinen betreiben, ist vielen klar.
Viele der im Internet aufgeworfenen Konfliktlinien, die die Gesellschaft spalten und unüberbrückbare Wahrnehmungsdifferenzen auslösen, werden von Russland bezahlte Troll-Armeen entworfen und unterfüttert. Rechtspopulisten, die vor allem auf das Thema „Flüchtlinge“ bauen, wie AfD, Rassemblement National und andere, ständig am Tabu kratzenden und nicht an Einigung interessierten rechten Lautsprechern, werden immer wieder finanzielle und personelle Verbindungen nach Russland nachgewiesen. Das Negativ-Beispiel der USA deutet an, wie verwundbar Demokratien für digitale Beeinflussung und rechtspopulistische Propaganda sind.
Insofern sieht dieses social Distel-Ding in der am Samstag für Syrien gefällten Entscheidung einen Angriff auf die europäischen Demokratien. Dass weitere Fluchtbewegungen die Folge der Entscheidung, 1,3 Millionen Menschen von humanitären Hilfsgütern abzuschneiden, sein werden, ist vorherzusehen. Diese Fluchtbewegung kann von den Nachbarländern Libanon und der Türkei, die beide in tiefen Wirtschaftskrisen stecken, nicht wirklich aufgefangen werden. Dass syrische Flüchtlinge zu weiten Teilen einen Anspruch auf Asyl haben, ist unbestreitbar. Die Folge ist, dass der Druck auf die EU Flüchtlinge aufzunehmen weiter steigt. Und das in einer Zeit in der Griechenland eine Barriere auf dem Mittelmeer aufbaut um Flüchtlingsboote aufzuhalten, illegale Push-Backs durchgeführt werden und wir 30 000 Menschen in der Hölle von Moria schmoren lassen. Ach ja, und all das auch in Zeiten einer Pandemie, die droht in Flüchtlingslagern unbegrenzt wüten zu können.
Und warum das alles? Weil unsere Politiker*innen Angst vor der Wut ihrer eigenen, flüchtlingsfeindlichen Bevölkerung haben, die im Internet auch aus Russland immer weiter aufgestachelt wird. Weil eine Einigung zum Lastenausgleich zwischen den EU-Staaten von Rechtspopulisten in den Regierungen blockiert wird. Die Gesellschaften spalten sich immer weiter, in diejenigen, die den Schutz der Grund- und Menschenrechte als wichtigstes Gut der europäischen Einigung sehen, und diejenigen, die bereit sind diese Rechte für die Illusion einer stabilen und historisch gewachsenen europäischen Identität einzutauschen.
Getrieben von dieser Auseinandersetzung, getrieben von dem verzweifelten Versuch nicht alle Werte fahren zu lassen und dennoch über Abschreckung die Fluchtbewegungen aufzuhalten, zerbricht die europäische Einigung an den innenpolitischen Konflikten die sich am Streitpunkt der Migration entzünden. Wenn also Russland und China bewusst dafür sorgen, dass mehr Menschen fliehen müssen, ist das nicht nur ein Angriff auf diese Menschen. Es ist auch ein Angriff auf Europa, auf unsere europäischen Demokratien. Und als solcher sollte es auch dargestellt werden, damit auch den letzten selbst ernannten Patrioten bewusst wird, dass das was sie mit ihrer flüchtlingsfeindlichen Propaganda verbreiten, letztlich zur Schwächung der Europas auf internationaler Ebene führt.
Wenn sie also über die Abschaffung der Meinungsfreiheit sprechen, nur weil sie für ihre menschenfeindlichen Äußerungen Widerspruch erhalten, dann helfen sie Ländern, in denen Zensur herrscht dabei, die bei uns erkämpfte Meinungsfreiheit einzuschränken.
So wenig wir begeistert von unseren aktuellen Regierungen und Politiker*innen sein mögen, in weiten Teilen Europas können wir noch von Presse- und Meinungsfreiheit sprechen und können zumindest ein rechtsstaatliches Verfahren erwarten. Unser Schutz gegen „Die da oben“ ist zumindest ansatzweise gegeben.
Hingegen sind die einfachen Menschen in Russland und China „denen da oben“, den Mächtigen, größtenteils schutzlos ausgeliefert. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass viele immer noch darauf hoffen, dass unser am liebsten kritisierter Verbündeter, die USA, irgendwann wieder eine Regierung bekommt, die sich wieder zu westlichen Werten bekennt.
Bleibt für uns nur eins: Um nicht getrieben zu werden, müssen wir uns offen zu unseren Werten bekennen. Save them all! Lasst uns die Flüchtenden mit offenen Armen aufnehmen und sie nicht die Geiseln der anderen Mächte werden lassen, die ihnen Finger abschneiden um uns zur Kooperation zu bringen. Nur durch ein klares Bekenntnis zu den europäischen Werten können wir diese Werte auch für die nächsten Generationen bewahren. Und es geht nicht nur um unsere Werte, es geht ganz einfach auch um Menschenleben. Und Menschenleben sind schützenswert und unbezahlbar. Zumindest war das mal Konsens.

Kommentare
14.07.2020 / 18:03 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 14.7.. Vielen Dank!