Das social Distel-Ding – Einrichten in der neuen Normalität

ID 106990
 
AnhörenDownload
Teil 65 der Kolumne aus dem social distancing - Diesmal mit der Feststellung, dass wir uns in der neuen Normalität eingerichtet haben, auch wenn sie weiterhin grausam ist.
Audio
07:48 min, 7316 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 12.02.2021 / 12:35

Dateizugriffe: 3030

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 11.02.2021
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Alles bleibt beim Alten. Es wäre auch seltsam gewesen jetzt auf einmal die neu gewonnene Normalität wieder einzutauschen gegen das was einmal Menschen, die als soziale Wesen und nicht als social Distel-Dinger klassifiziert wurden, als „normalen Alltag“ bezeichneten:
Unverdeckte Gesichter, enger Kontakt zu Wildfremden, Umarmungen, Shoppen gehen, Friseurbesuche, Kneipenabende, Restaurantbesuche, Kino, Theater, Disco, Urlaubsreisen, Planbarkeit und so vieles mehr…
Das alles ist zumindest bis zum 7. März aufgeschoben. Wobei, ab 1. März sollen dann zumindest die Friseursalons wieder öffnen, damit wir alle eine Woche Zeit haben um die Selbstachtung dank schnieker Frisuren wieder zurückzugewinnen, bevor dann der Lockdown, die Zurückhaltung, die auferlegte Genügsamkeit enden soll.
All diese Pläne natürlich unter Vorbehalt. Die 7-Tagesindzidenz muss dafür stabil unter 35 nachgewiesenen Infektionen pro 100.000 Einwohnern liegen. Es bleibt zu hoffen, dass die furchterregenden Hochrechnungen der Verbreitung der Mutationen, die wohl bereits als Pandemien in der alten Pandemie wüten, sich nicht bewahrheiten. Sonst droht im schlimmsten Fall, also der Perspektive die uns nach einem Jahr des immer schlimmer Werdens mittlerweile vertraut sein dürfte, ein Rückfall in das Chaos. Chaos in der Nachverfolgung, Chaos in den Krankenhäusern, Chaos in den Gefühlen. Das Chaos der unberechenbaren Verbreitung.
Denn, so seltsam es sich auch anhört, zumindest dieses Distel-Ding ist mittlerweile so eingespielt auf die Pandemie, dass es sich nicht mehr chaotisch anfühlt.
Froh darüber, nicht mehr hinter jedem Anruf eine Schreckensnachricht zu vermuten. Froh darüber, dass die unmittelbaren Sorgen um die Gesundheit, der eigenen und der der Lieben, einer eingespielten Corona-Routine gewichen sind. Froh über die kleinen Dinge, die planbar und machbar erscheinen. Froh bis dankbar, diese ersten beiden Wellen ohne persönliche Schreckensnachrichten überstanden zu haben.
So kann sich dieses Distel-Ding wie so viele in der Pandemie einrichten, den Stress senken. Diese neue Normalität, die sich aus dem entwickelt hat was wir mittlerweile als alltäglich ansehen, ist angekommen.
In der neuen Normalität gilt es täglich mindestens einmal das Haus zu verlassen, an die frische Luft und Vitamin D tanken. Fast wichtiger als es selbst zu tun ist es anderen telefonisch mitzuteilen, dass dieser tägliche Spaziergang wichtig ist.
In der neuen Normalität gilt es außerdem Abstand von der Vielzahl der Bildschirme zu gewinnen, die unseren Blick so einfangen und uns langsam aber sicher die Seele zu rauben drohen. Und auch hier gilt: Wer andere darauf hinweist, macht schon alles richtig. Wer dazu noch Tipps gibt, wie Puzzeln, Zeitungen und Bücher lesen oder gar Meditieren, kann diese neue Normalität als gemeistert ansehen.
Grundsätzlich gilt es darüber hinaus auch das eigene körperliche Wohlbefinden nicht außer Acht zu lassen. Sitzen ist das neue Rauchen, hieß es in der alten Normalität, in der neuen Normalität gilt Rauchen schon fast als gesund, weil die meisten dafür zumindest kurz rausgehen, Sitzen hingegen als die große Gefahr. Die Wirbelsäule, das Knochengerüst und die Muskeln des Menschen, die eigentlich für ein nomadisches Leben in der Steppe konzipiert waren, sind auf den Stühlen und Sofas verkrümmt und fordern Bewegung. Gymnastik, Yoga, Pilates, Aeorbic, Hula-Hoopen, Tanzen, all das soll als Ausgleich für die langen Wanderungen dienen, auf die sich der Homo sapiens einmal spezialisiert hatte. Andere darauf hinzuweisen gilt in dieser neuen Normalität als Bürgerpflicht, im besten Falle gleich in Verbindung mit der Verlinkung passender Angebote im Internet, auch wenn dabei dann wieder das Bildschirmproblem auftritt.
Natürlich gibt es einige ganz gewiefte Menschen, die sich für ihren Bewegungsdrang einen Gefährten in die Familie geholt haben, der alle auf Trab halten soll. Hinze und Kunze haben jetzt Hunde. Und diese Hunde sind nur gewöhnt an die neue Normalität. Sie wachsen auf mit der Familie zu Hause, sie kennen keinen Zustand der Einsamkeit mehr, werden unablässig geherzt und ausgeführt. Hund sollte Mensch sein. Oder Mensch sollte Hund sein?
Ganz egal, die Natur vor der Haustür und in den Wohnungen hält Einzug in unseren Alltag. Sie ist nicht mehr unbeachtetes Beiwerk sondern geschätzter Lebenspartner. Wie Hunde und andere Haustiere erfahren auch Pflanzen ungewohnte Aufmerksamkeit, das Basilikum steht unter Beobachtung. Sie liefern Gesprächsstoff, gestalten den Alltag in der neuen Normalität mit.
Gesprächsstoff liefern aber auch die neuen Persönlichkeiten der Öffentlichkeit, die Virologen und Virologinnen, Epidemiologen und Epidemiologinnen. Wie in einem Trumpf-Spiel überbieten sich die social Distel-Dinger mit den eingetroffenen Einschätzungen, Befürchtungen und Anmerkungen der von ihnen geschätzten oder gehassten Expert*innen.
Im Politiker*innen-Trumpf geht darum diejenigen zu finden, die den eigenen Befürchtungen, sei es um die Kinder und Jugendlichen, die Wirtschaft, die Demokratie, die sozial Geschwächten, die Risikogruppen oder die eigene Berufsgruppe, am besten eine Stimme geben. Und dann gibt es natürlich noch den Popstar der Befürchtungsleier, den Sachverständigen unter den Politiker*innen, den einzigartigen Prof. Dr. med. Dr. sc. Karl Lauterbach. Er sticht alle aus, meistgesehen, meistbeachtet, meistgehasst…
All das liefert uns den letzten Gesprächsstoff, die letzten Anregungen, aus denen Träume oder Alpträume werden können, den Rahmen den unser sonst von Wänden, Maßnahmen und Ängsten eingefasstes Leben in der neuen Normalität schmückt.
So schön sich das auch anhört, die neue Normalität ist leider nur bei manchen angekommen. Die Romantisierung der neuen Normalität lässt all jene aus, die sich in ihr nicht einrichten können. Deren Leben immer noch in der Krise ist, weil sie nicht arbeiten dürfen und keine Aussicht auf Besserung haben. Abgesehen von den indirekten Berufsverboten ist die neue Normalität auch ähnlich grausam wie die alte.
Wie zuvor leben diejenigen die es können ihr Leben mit Scheuklappen um das Leid um sie herum nicht zu sehen. Wie in der alten Normalität haben diejenigen denen es gut geht Angst vor zu viel Empathie mit den schwach Gehaltenen, mit den Ausgeschlossenen, mit den Anderen. Die Angst vor dem eigenen Abstieg ist groß, vielleicht sogar größer geworden.
Wie in der alten Normalität gibt es wenig Aufmerksamkeit für die Missstände der Gesellschaft, wenig Aufmerksamkeit dafür, dass der eigene Wohlstand auf dem gekrümmten Rücken vieler Menschen fußt. Es gibt ihn zwar, den Blick auf die Geschwächten, aber er gilt vielen als abschreckendes Beispiel, als Negativ-Entwurf, als Schreckensszenario und nicht zuletzt als Argument für die eigenen Klagen. „Die armen Friseur*innen wollen ja arbeiten, die brauchen ja das Geld, es geht mir ja nicht um mich“, heißt es dann und vergessen sind die Geschichten aus der alten Normalität, als deutlich wurde, dass Friseur*innen häufig eben nicht gut von ihrer Arbeit leben können. Und häufig geht es eben auch nur um die Kinder der sozial Geschwächten, weil die Besserverdiener im Home-Office und Home-Schooling Probleme haben.
Diese neue Normalität ist auch nur ein Einrichten in der verkorksten Situation. Wir machen das Beste draus und verdrängen die Gedanken an das Leid. Die Perspektive raus aus der Krise bleibt der Eintritt in die nächsten Krisen, in die Folgen unseres Lebensstils, der die Umwelt zerstört, Kriege befeuert und vielen Menschen die Migration als letzten Ausweg aus der Misere aufgezeigt hat.
Aber trotzdem scheint die Sonne, trotzdem müssen wir uns bewegen um nicht an Rückenschmerzen zu leiden, trotzdem richten wir uns ein in dieser neuen Normalität. Anders geht es auch gar nicht. Und dann? Dann verändern wir die Welt zum Guten, was denn sonst, wenn auch alle anderen Pläne unsicher sind?

Kommentare
12.02.2021 / 18:01 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 12.2.. Vielen Dank!
 
17.02.2021 / 14:12 TA, Radio Corax, Halle
gesendet
am Montag im Morgenmagazin. Vielen Dank!