Das social Distel-Ding – Ein Jahr bestachelt in der Krise

ID 108044
 
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Teil 68 der Kolumne, die jetzt seit genau einem Jahr Innenberichterstattung aus der Pandemie macht. Diesmal mit einem sachlichen Überblick über die Situation in der wir uns so lange schon befinden.
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mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 25.03.2021 / 16:31

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 25.03.2021
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Das social Distel-Ding 68

Das social Distel-Ding ist alt geworden. Heute vor einem Jahr begann es zu schreiben, nach etwas mehr als 10 Tagen im social distancing. Jetzt sind es 365 Tage, die es gemeinsam mit allen anderen Menschen in der Ausnahmesituation verbracht hat. Pandemie, globale Krise, Unsicherheit – alle gemeinsam sind wir vereinzelt vor der großen Herausforderung: Wie finden wir wieder heraus aus diesem größten sozialen Experiment der Menschheitsgeschichte?
Dafür zuerst nochmal die Rahmenbedingungen des Experiments:
Ein sich schnell und unbemerkt von Mensch zu Mensch verbreitender Krankheitserreger befällt global Menschen und wird häufig erst mehrere Tage nach dem Befall erkannt, wenn überhaupt. Die Schwere der Erkrankung ist nicht vorhersehbar, es trifft aber wohl vor allem Ältere kritisch. Die Erkrankung an sich ist nur in seltenen Fällen tödlich, da in der Behandlung nach ersten Fehlern Fortschritte gemacht worden sind. Allerdings ist die Behandlung langwierig und dadurch werden bei hoher Ansteckungsrate in den Kliniken so viele Kapazitäten gebunden, dass auch andere gut zu behandelnde Erkrankungen und Unfälle wieder zu einer tödlichen Gefahr werden können. Hinzu kommt, dass diejenigen, die uns vor den schlimmsten Folgen retten könnten, selbst erkranken können, sowie die Gefahr von immer ansteckenderen und bedrohlicheren Mutationen. Die Ansteckung und Weiterverbreitung des Krankheitserregers erfolgt vor allem über die Atemluft und direkten Körperkontakt, weshalb weltweit mehrere Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung etabliert wurden: Begrenzte Mobilität, ein Mindest-Abstand zwischen Menschen von 1,50 Metern, konstante Handhygiene, Spuckschutze und im überwiegenden Teil der Länder auch Mund-Nasen-Masken. Hinzu kommen die Quarantäne und Kontaktnachverfolgung von Infizierten, um infektiöse aber symptomlose Überträger der Erkrankung zu identifizieren.
Aus diesem Pandemierahmen heraus haben sich zwei Wege etabliert: Testen und Kontaktnachverfolgung, um die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung auf ein Minimum zu drücken und Impfen, damit der Körper eine Immunantwort auf den Krankheitserreger ausbilden kann und somit eine schwere Erkrankung sehr unwahrscheinlich zu machen. Ziel bei beiden Bemühungen ist es, die medizinischen Kapazitäten wieder frei zu machen und dauerhaft soweit frei zu halten, dass alle anderen lebensrettenden Maßnahmen wieder problemlos funktionieren können.
Das waren also die Rahmenbedingungen des Experiments von Seiten des Virus. Theoretisch könnten wir sie auch den Stressfaktor nennen, der auf das „Versuchskaninchen“ Weltgesellschaft einwirkt, dessen Reaktion das soziale Experiment ist. Unser Versuchskaninchen, oder genauer gesagt, wir social Distel-Dinger, erleben in diesem Versuchsaufbau also folgendes:
Wir haben eine auferlegte allgemeine Vereinzelung in einer vernetzten Welt, gemeinsame Lernschritte in einer informationsüberflutenden Gesellschaft, allgemeingültige Regelungen für den Fremd- und Selbstschutz bei starkem Individualismus, neue Rahmenbedingungen in einem starr-regulierten System, psychische Belastungen und ein Überangebot an Ablenkungen, ein gemeinsames, ein globales Problem dessen eigennützige Lösung Einzelnen als Wettbewerbsvorteil dienen kann.
Heißt: Wir bleiben zuhause, aber treffen Menschen aus der ganzen Welt online. Wir lernen gemeinsam epidemiologische Begriffe und Formeln kennen, die zugleich von unzähligen Menschen unterschiedlich interpretiert und angezweifelt werden. Wir sollen uns alle als Teil der Lösung sehen, unser Gesicht bedecken und uns zurückhalten, haben aber über Jahre nur den Selbstwert in der modischen und kommerziellen Abgrenzung zu anderen definiert. Wir erleben wie die andauernde Unsicherheit und Vereinzelung uns belastet und können uns über Unterhaltungsangebote in zahllose andere Welten flüchten. Weltweit erleben die Menschen diese Pandemie als beängstigenden Zustand und den Weg heraus als dringend zu bearbeitende Herausforderung und trotzdem führt dieses Problem nicht zu einer globalen Solidarisierung und Herangehensweise an die Krisen. Stattdessen ist der massenhafte Einkauf von Impfstoffen ein Rettungsmittel für längst abgeschriebene Politiker*innen in ihrem Wahlkampf, stattdessen ist die Beschaffung von Schutzmitteln ein Weg für die Bereicherung von Mandatsträgern. Statt: Wir schaffen das – gilt die Krise als Königsmacher und Kür, weil die Fehler der anderen, selbst wenn sie Menschenleben kosten, als Kontrast zur eigenen Leistung gerne gesehen sind.
Und was durfte das Distel-Ding in diesem einen Jahr Innenberichterstattung aus dem größten sozialen Experiment beobachten?
Jeder Mensch geht anders mit der Situation und der Frustration um. Es gibt diejenigen die sich ihr verweigern und diejenigen die nichts anderes mehr sehen wollen. Für die einen ist das Virus das einzig relevante Problem, für die anderen diejenigen die die Maßnahmen dagegen verkünden und durchsetzen. Für die meisten ist es aber von Tag zu Tag unterschiedlich. Mal versteht Mensch die Maßnahmen und am anderen Tag reicht es einfach. Mal sieht Mensch ein Licht am Ende des Tunnels, mal erscheint der Tunnel mehr als Brunnenschacht in dem Mensch gefangen ist. Mal ist das Leid und die Sorge um die Menschen auf den Intensivstationen präsenter, mal ist es das Leid der Alleinerziehenden im Homoffice, der Kinder, der Senior*innen und nicht zuletzt der Künstler*innen, Unternehmer*innen und Angestellten. Mal überwiegt die Ohnmacht und dann wieder die Empörung und der Kampfeswille.
Die Sorgen wabern über uns und da es ein globales Problem ist, kann niemand einen Hebel ziehen und eine funktionierende Lösung durchsetzen. Die alte Normalität ist auf Dauer verloren und wird nun anders wieder kommen. Aber es gibt auch einige Punkte die uns social Distel-Dingern als Denkanstöße dienen sollten. So hat sich ein System offenbart, dass von Relevanten aufrechterhalten werden kann. Es hat sich gezeigt, dass diejenigen, die zur Aufrechterhaltung des Systems relevant sind, selbst unterdurchschnittlich von diesem System profitieren. Deutlichstes Beispiel sind vermutlich die chronisch überarbeiteten und unterbezahlten Pflegekräfte, die mit letzter Kraft und unter eigener Gefährdung Leben retten. Aber es gibt so viele Aufgaben mehr, die erfüllt werden müssen um dieses System aufrecht zu erhalten, deren Erfüllung aber nur unzureichend entlohnt und gewürdigt wird. Und es gibt noch die unbezahlte Care-Work, die Pflege von Kindern, Alten, Behinderten und auch von Freundschaften, die dieses System unweigerlich am laufen hält.
Dazu kommt dann noch eine Politik, deren Exekutive eigentlich alles am Laufen halten sollte, die aber starr-reguliert und übervorsichtig lieber Lösungen aufhält, als sie sich zu eigen zu machen.
So steht dieses social Distel-Ding jetzt also da, ein Jahr nach den ersten Worten zur neuen Selbstwahrnehmung, zur Innenberichterstattung aus der Krise, und stellt fest: Die Stacheln der Distel, sie stechen so wie zuvor. Abstandhalten ist normal geworden und dieser Zustand wird wohl noch fast ein Jahr andauern.
Aber: Jetzt wo wir gesehen haben, dass es ein System gibt, das von Relevanten aufrechterhalten werden kann, aber es Menschen trotzdem in diesem System schlecht geht und ihr Leben eingeschränkt ist, stellt sich doch die Frage:
Was soll das System sein mit dem wir in die nächste Krise eintreten?