"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Forschung an der Universität Erfurt

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Jacopo Strada war im 16. Jahrhundert ein gesuchter Kurator, Kunsthändler und Antiquar, der sich selber auch mal Archäologe nannte und diesen Begriff damit etwas sachfremd in das Vokabular der Geschichtsforschung einführte. Seine erste Spezialität war das Sammeln von Wappen von Adelshäusern, die er im Auftrag von Johann Jakob Fugger zusammentrug und in fünfzehn Folianten festhielt....
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11:38 min, 22 MB, mp3
mp3, 258 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 10.05.2022 / 14:42

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 10.05.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript

Daneben begann er, aufgrund alter und antiker Münzprägungen Bilder von allen möglichen Kaisern seit der Römerzeit bis in die damalige Gegenwart anzufertigen, die ebenfalls in Folianten gebunden wurden. Diese Sammlung verwertete er mehrmals, daneben beschäftigte er sich eben mit Kunst und Architektur und wurde von verschiedenen Fürsten und auch Kaisern zu Rate gezogen; laut Wikipedia porträtierte ihn in dieser Zeit sogar die Tochter Tintorettos, Marietta Robusti; ihr wird auch ein Porträt von Jacopo Stradas Sohn Ottavio zugeschrieben.

Warum ich das hier erwähne? Vielleicht, weil mir im Angesicht des Ukraine-Kriegs nichts anderes mehr einfällt, wer weiß; nachdem U2 ein Konzert in Kiew gegeben hat und Jill Biden ein Schlacht­plätt­chen mit Volodimir Selenski verspeist hat, erwarten wir jeden Tag mit Spannung das neue List-up für Selenskis Late-Night-Horror-Show, wen hatten wir noch nicht, Friedrich Merz jedenfalls war da, ganz zu Beginn haben wir, wie es sich gehört, auch Bernard-Henri Lévy gesehen, ich glaube, das war in der Gegend von Odessa, er wollte sich im weißen Hemd mit einem blutigen russischen Kadaver ablichten lassen oder vielleicht mit einem von den Russen ermordeten blutigen Kadaver, aber ein Korporal der ukrainischen Streit­kräfte hat es ihm untersagt; nein, dazu kommt mir im Moment wirklich nichts Gescheites in den Sinn, eine derartige Zelebration des Krieges im Namen des Pazifismus und aller anderen guten Dinge ist einfach sittenwidrig. Deshalb habe ich mich mal zur Entspannung bei den Forschungs­pro­jek­ten der Universität Erfurt umgesehen, und eines dieser Projekte beschäftigt sich tatsächlich mit Jacopo Stradas Magnum ac Novum Opus; das sind die 30 Bände mit Kaiser-Bildern, von denen noch 29 erhalten sind und die in der Forschungsbibliothek Gotha aufbewahrt werden. Der bisher dritte Teil dieses Forschungsprojektes läuft in diesen Tagen aus; die Ergebnisse fließen unter anderem in die Datenbank Census of Antique Works of Art and Architecture Known in the Renaissance ein, auf die man über das Internet freien Zugriff hat. Eine schöne Sache; ich habe mir zum Beispiel ein nach einem augustäischen Vorbild gefertigtes Mar­mor­relief von einem Sarkophag auf den Bildschirm gezogen, das eine Prozession mit 3 Frauen­figuren und einem Engel zeigt, die Musik machen. In der Beschreibung ist von einem Getränkeopfer die Rede; was mich aber vor allem beeindruckt, ist die Qualität der Aufnahme, die interessierte Laiin kann sich wirklich bequem zuhause vor dem Bildschirm jedes Detail zu Gemüte führen. Die Bestände von Jacopo Strada waren allerdings bei meinem Besuch beziehungsweise bei meinen Stichproben-Anfragen noch nicht freigegeben. Aber immerhin.

Daneben gibt es an der Uni Erfurt Forschungsschwerpunkte im Bereich Religionsgeschichte oder einen Sonderforschungsbereich mit dem Titel «Strukturwandel des Eigentums», der auf vier Jahre angelegt ist und laut eigenen Angaben «eine umfassende gesellschaftstheoretische Perspektive auf Eigentum (zurück-)gewinnen» sowie «einen angenommenen Strukturwandel des Eigentums in der Gegenwart untersuchen» möchte. Das finde ich auch persönlich ein sehr lustiges Projekt, da mich schon länger die Frage beschäftigt, ob der Superkapitalist sein Vermögen besitzt oder umgekehrt dieses ihn, also nur als Beispiel; ein früher Konflikt der kapitalistischen Gesellschaft, nämlich jener zwischen dem privaten Besitz der Produktionsmittel und ihrem kollektiven Charakter, hat in der Zwischenzeit verschiedene Wandlungen durchgemacht, die Wegwerfgesellschaft fügt dem Eigentumsbegriff eine neue Note bei, ebenso die Tatsache, dass der Wert des besessenen Produktes gegen null tendiert, und so weiter und so fort; ein Forschungsfeld also, das es in sich hat. Das Gesamtprojekt verteilt sich neben Erfurt auf die Universitäten Jena, Oldenburg, die TU Darmstadt und die FU Berlin; in Erfurt sind unter dem Haupttitel die Teilprojekte «Dinge verfügbar machen», «Hybride Eigentumsordnung», «Kampf oder Konvergenz der Kapitalismen», «Urbane Eigentums­ordnungen», «Besitz und Gewohnheit», «Eigentum am Körper» sowie «Göttliches Eigentum» angesiedelt. Vielleicht präsentiert die Universität im Lauf der Arbeiten oder nach ihrem Abschluss mal das eine oder andere Ergebnis auch auf diesem Sender.
Etwas ähnlich Antiquarisches oder Archäologisches hat die Digitalisierung und Erschließung von Handschriften der Bibliotheca Amploniana, welche nach ihrem Stifter, einem Herrn Amplonius Rating de Berka aus Köln, benannt wurde und 889 mittelalterliche Handschriften aus dem 9.–15. Jahrhundert umfasst, unter anderem mit verschiedenen medizinischen Schriften; sie geben laut Universitäts-Webseite einen Überblick über die internationalen Wissensnetzwerke in einer Zeit, in der die ersten Universitäten seit hundert oder mehr Jahren funktionierten, nach der Rechtsfakultät in Bologna 1088, der Medizinfakultät in Salerno ungefähr zur selben Zeit, Paris hundert Jahre später oder eben Erfurt 1379. Dieses Projekt soll im Herbst dieses Jahres abgeschlossen werden.

Bis Ende 2022 läuft das Projekt «Familienerinnerung an Alltag und Herrschaftswirklichkeit in der SED-Diktatur», neben dem noch weitere Forschungsaufträge zur neueren und DDR-Vergangenheit geführt werden. Auch Fragen rund um die Covid-Impfung werden behandelt, sind allerdings zum Teil schon abgeschlossen. Weiterhin läuft das Projekt «Jitsuvax: Jiu-Jitsu mit Fehlinformationen im Zeitalter von Covid: Einsatz von widerlegungsbasiertem Lernen zur Verbesserung der Impfstoffaufnahme und des Wissens bei medizinischem Personal und in der Öffentlichkeit». Es beruht auf zwei Prämissen, die ich hier gerne zitiere: «Erstens. Der beste Weg, sich Wissen anzueignen und Fehleinschätzungen zu bekämpfen, ist die Verwendung von Fehlinformation selbst, entweder in abgeschwächter Dosis als kognitiver „Impfstoff“ oder durch gründliche Analyse von Fehlinformationen während des „Widerlegungslernens“. Zweitens: Das medizinische Fachpersonal ist das kritische Bindeglied zwischen der Impfpolitik und der Aufnahme von Impfstoffen. Hauptziel von Jitsuvax ist es, Fehlinformationen über Impfungen zu minimieren. Dafür soll das medizinische Fachpersonal – auch argumentativ – geschult werden, um effektiver it Patienten zu kommunizieren.» Und im Projektbeschrieb heißt es: «Die Weltgesundheitsorganisation bezeichnet Impfverweigerung als ernsthafte Bedrohung für die Gesundheit der Menschen weltweit. Sie führt das Phänomen vor allem auf Fehlinformationen im Internet zurück.» Es geht mit anderen Worten nicht um COVID allein, sondern um eine ganze Reihe von Impfungen, welche mit fast naturgesetzlicher Konsequenz immer auch ihre Impfgegner hervor bringen.

Ein weiteres Projekt, das sicher in der Zwischenzeit aktualisiert wurde, läuft vom April dieses Jahres bis im März 2026 und hat den Titel «Knowpro: Wissensproduktion in der deutschen Friedens- und Sicherheitspolitik». Es untersucht laut Webseite «anhand der Fallstudien Afghanistan und Somalia die friedens- bzw. sicherheitspolitische Wissensproduktion in Deutschland und Ostafrika zu Beteiligungen an Interventionen in innerstaatliche Kriege mit militärischen und finanziellen Mitteln». Darunter kann ich mir vor allem im Zusammenhang mit Ostafrika nicht besonders viel vorstellen; wo genau soll dort friedens- und sicherheitspolitisches Wissen hergestellt werden? Und sowieso wird die «Wissensproduktion» in Kriegsfällen zum Vornherein überschattet nicht vom Verdacht, sondern von der Gewissheit der Propaganda. Wissensproduktion im Krieg, egal ob in Afghanistan, Somalia oder in der Ukraine, ist die Produktion von Propaganda, also das genaue Gegenteil von Wissen. Nun gut, es gibt auch einen Bereich, welcher eher abhängig ist vom Wahrheitsgehalt der Information, nämlich die Ebene hinter den Kulissen, zum Beispiel im Außenministerium, und laut Projektbeschrieb geht es in erster Linie um diese Ebene. Vielleicht ist gerade die Trennung zwischen Propaganda und Fakten ein Gegenstand des Forschungsprojektes. Nehmen wir es einmal an.

Der zweite Teil des Forschungsprojektes «Metamorphosen des Politischen» weckt meine Auf­merksamkeit vor allem wegen des Institutsnamens: «R. Tagore International Centre of Advanced Studies», kurz ICAS, wobei hier der Referenzname unterdrückt wird, nämlich Rabindranath Tagore, der mir aus einem alten Spottlied von Erich Weinert bekannt ist in den unvergesslichen Zeilen: «Und ist die Grütze aufgekaut, dann wird in blau und rosa/das Seelenleben aufgebaut, teils lyrisch, teils in Prosa. Hoch in die Wolken flieht der Blick. Wir ziehen uns aus der Welt zurück und sprechen leis im Chore: Rabindranath Tagore.» Wer einmal dieses Lied über die Wandervögel gesungen hat, der bringt einfach keine Ehrfurcht vor dem Philosophen Tagore mehr auf.
Trotzdem werfe ich noch einen Blick in den Projektbeschrieb und zitiere: «Das Zentrum kon­zen­triert sich auf politische Schlüsselprozesse, die sich im zwanzigsten Jahrhundert bis heute in vielen Teilen der Welt parallel entwickelt haben, Prozesse die verwickelt und doch heterogen sind. Im globalen Süden gelegen, wo „der größte Teil der Welt“ lebt, greift ICAS-MP kritisch in sozial­wis­senschaftliche Debatten ein, die, obwohl sie sich fast ausschließlich auf Beweise aus Gesellschaften am nordatlantischen Rand stützen, universelle Anwendbarkeit beanspruchen. Es wird als ein Zentrum fortgeschrittener internationaler Forschung mit Sitz in Indien dienen, um bewusst den methodologischen Nationalismus und Eurozentrismus zu erschüttern, die die Forschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften weiterhin bestimmen.» Oh – und sowas wird vom deutsch-europäischen Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert! Wenn das mal gut geht! Ich selber finde es immer seltsam, wenn europäische Wissenschaftler:innen die Kritik des Eurozentrismus betreiben. Für mein, durch keinerlei Fachstudium unterfüttertes Empfinden ist sowas ungefähr dasselbe, wie wenn sich Männer als Leitfiguren des Feminismus hervortun. Das mag für Allzweckwaffen wie Bernard-Henri Lévy gehen, aber unsereins kriegt von sowas eher Jucken auf der Kopfhaut hinter dem linken Ohr. Es ist verbunden mit der Vermutung, dass es bei einem solchen Ansatz kein Halten mehr gibt für Schwälle und Ströme von Studien und Publikationen, welche nicht nur den Nationalismus und Eurozentrismus in den Methoden unterlaufen und erschüttern, sondern die Methodik als solche. Aber vielleicht irre ich mich ja. Auf jeden Fall habe ich provisorisch den Eindruck, dass dies ein Projekt wäre, zu dem auch Michaella Rugangizowa einen wichtigen Beitrag leisten könnte. Allerdings ist die Stelle bei der Tony Blair Foundation wahrscheinlich besser bezahlt.

Ach Herrje. Wenn nur dieser Krieg in der Ukraine endlich vorbei wäre. Neuerdings spricht man davon, dass die Ukraine Russland erobern will. Meinetwegen, aber macht es bitte kurz.

Kommentare
12.05.2022 / 18:00 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 12.5.. Vielen Dank !