Kindergeburtstag - Ein Abenteuer mit der Deutschen Bahn

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So geschehen am 9. Mai 2024 (Christi Himmelfahrt).
Zehn Stunden für 237km.
Audio
10:04 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 21.05.2024 / 15:49

Dateizugriffe: 28

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: MoRa3X
Entstehung

AutorInnen: die meike
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 21.05.2024
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wir wollen zum 5. Geburtstag meiner Nichte. Planmäßige Abfahrt: 10:07h am Freiburger Hbf. Fahrplanmäßige Ankunft am Südbahnhof in D.: 13:21h.
Die Schwierigkeiten beginnen schon am Vormittag in Freiburg. Als unser FlixTrain eine Stunde Verspätung hat. Das soll hier nicht das Thema sein und außerdem kennen wir das ja von der Deutschen Bahn zur Genüge. Wir warten also – zunächst noch – geduldig.
Im Nachhinein denke ich mir, es hätte uns von Anfang an eine Warnung sein sollen, dass es ein Feiertag war. Die besoffenen, übergriffigen Männergruppen sind da schon fast das kleinere Problem, denn erfahrungsgemäß schafft es die Deutsche Bahn bei erhöhtem Fahrgastaufkommen selten, diesem gerecht zu werden. So auch an diesem Tag.
Tatsächlich hat der FlixTrain „nur“ eine Stunde Verspätung und bringt uns dann den Umständen entsprechend „zuverlässig“ und – im Vergleich zur Deutschen Bahn – sehr günstig an unseren Zwischenhalt Mannheim Hbf. Es ist inzwischen 12:58h. Auf unserer Reiseverbindung stand ursprünglich:

• RB67 nach Frankfurt/Main Abfahrt 12:15 Ankunft 13:21h.

Durch diesen Reiseplan hat uns der FlixTrain einen Strich gemacht. Wir wollen nun die Bummelbahn eine Stunde später um 13:15h nehmen.
• Der RB67 nach Frankfurt um 13:15h fällt aus.
Auf den Anzeigetafeln am Gleis steht irgendetwas von „Der Halt in Neu-Edingen/Friedrichsfeld entfällt“. Wir vertreiben uns eine Stunde in Mannheim. Soweit Business as usual bei der Deutschen Bahn. Wir haben inzwischen zwei Stunden Verspätung weil FlixTrain und DB ihren Betrieb nicht im Griff haben.
• Der RB67 um 14:15h fährt.
Die Anzeige mit dem Hinweis „Der Halt in Neu-Edingen/Friedrichsfeld entfällt“ steht immer noch auf den Tafeln. Da das uns nicht tangiert – das denken wir zumindest, welch ein Irrtum! –, ignorieren wir dies.
Auf dem Sitzplatz uns gegenüber richtet sich ein Mitfahrender häuslich ein, steckt das Ladegerät seines Notebooks in die Steckdose. Wir sind überrascht, dass es in Regionalzügen jetzt Steckdosen gibt. Er erläutert, das sei öfter so auf der Fahrt nach Frankfurt/Main.
• Nach kurzer Fahrt im RB 67 und lediglich einer Haltestelle heißt es überraschend über die Lautsprecher „Diese Fahrt endet hier. Bitte Alle aussteigen“.
Unser Gegenüber verdreht die Augen, packt sein Zeug wieder ein. „Seit acht Jahren bin ich jetzt hier in diesem Land. Alles funktioniert gut, nur mit der Bahn gibt es immer Probleme.“ Die Durchsage informiert uns auch darüber, dass es aufgrund einer Oberleitungsstörung hier nicht weitergehe und dass am Bahnhof Neu Edingen/Friedrichsfeld jedoch Schienenersatzverkehr bereitgestellt würde. Knapp 70 Reisende strömen auf den Bahnsteig. Hier gibt es nichts. Das Bahnhofsgebäude ist wie inzwischen üblich in der Peripherie, einigermaßen verlassen und vernagelt. Es gibt keine Toilette, kein Wasser. Es gibt auch keine Bushaltestelle und – erwartungsgemäß – auch keinen Schienenersatzverkehr. Es ist heiß. Es gibt keinen Ansprechpartner und keine Ansprechpartnerin der Deutschen Bahn. Es gibt kein Piktogramm und keine Infotafeln. Die 70 Reisenden stehen orientierungslos am Gleis, auf der Straße, gefährlich nah fahren Autos vorbei; einige laufen in den Ort und sagen halb scherzhaft, halb im Ernst „Wir laufen jetzt nach Bensheim“.
• 14:30h. Der RB 67 fährt zurück nach Mannheim.
Die Leute schauen auf ihre Smartphones, schimpfen laut oder reden vor sich hin. In der App steht etwas davon, dass das Taxiunternehmen „Taxi 2000“ mit der Beförderung der Reisenden beauftragt worden sei. Tatsächlich kommt bald ein Großraumtaxi. Er könne uns zurück nach Mannheim bringen, sagt der Fahrer. Unser Mitfahrer von vorhin – er muß heute noch nach Hannover – nimmt das Angebot dankend an. Viele der Reisenden sind unzufrieden: „Ich muß nach Bensheim!“ „Ich muß nach Weinheim.“ „Ich muß zur Arbeit!!!“ Der Taxifahrer kann erwartungsgemäß keine zufriedenstellende Auskunft geben. Das ist ja auch nicht seine Aufgabe, sondern Aufgabe der Bahn. Ein paar Reisende lassen sich zurück nach Mannheim bringen. Die Taxis sind nicht groß genug, um Alle mitnehmen zu können. Außerdem wollen wir ja in die andere Richtung. Deswegen saßen wir ja auch im Zug nach Frankfurt.
• Eine Stunde vergeht.
Passieren tut nicht viel. Einige Reisende haben sich auf eigene Kosten ein Taxi gerufen oder lassen sich privat mit Autos abholen. Es stehen aber immer noch etwa 50 Menschen total orientierungslos auf der Straße. Es ist immer noch heiß. Wir haben kein Zugang zu Wasser oder zu Toiletten. Der Lautsprecher schweigt. Ein Mitreisender fragt uns auf Englisch, was Sache sei. Er bekommt leider nur ein Schulterzucken als Antwort. Wir telefonieren mit der Deutschen Bahn. Man ist freundlich am anderen Ende der Leitung, kann aber nicht wirklich weiterhelfen. Angeblich arbeite man daran, dass die Züge bald wieder fahren. Die Verbindung ist unterbrochen. Aufgelegt. In dem Moment rollt ein Güterzug in Richtung Bensheim vorbei. Ist das jetzt ein gutes Zeichen?, frage ich mich. Nein, sage ich mir, Güterzüge rollen mit Diesel, die brauchen keine Oberleitung. Mist. Wir übersetzen für unseren Mitreisenden: „They are working on it so the trains can roll again.“ In nächsten Moment erfolgt eine Ansage über Lautsprecher, dass der RB nach Frankfurt heute hier seinen Endbahnhof hat. Wir haben jetzt zwei widersprüchliche Informationen der Deutschen Bahn. Welcher davon sollen wir Glauben schenken?
• 15:30h. Der RB67 aus Mannheim kippt erneut einige orientierungslose Reisende auf dem Bahnsteig Neu-Edingen/Friedrichsfeld aus.
Ich frage mich langsam, was die Bahn damit bezweckt, immer mehr Leute hier im Nirgendwo abzustellen ohne Plan B und ohne jegliche Information - nur um ihnen dann anzubieten, sie wieder zurück nach Mannheim zu bringen? Die „Neuen“ fragen uns, ob wir etwas wüßten. „Nee“, entgegnen wir, „wir stehen hier auch schon eine Stunde. Die sagen uns nix.“ Fassungslosigkeit. Kopfschütteln. Eine Reisende, die schon zu spät zur Arbeit kommt, regt sich lautstark auf – zu Recht wie ich finde, auch wenn ihr Verhalten nicht besonders konstruktiv ist. Sie telefoniert mit der Bahn. Gibt ihre Erkenntnisse – die von unseren wiederum divergieren – an alle Anderen weiter. Das hat ein bißchen was von einer Predigerin, denke ich. „Höret mich an..!“ Sie klingelt am Gebäude der Weichenstellung, spricht über die Fernsprechanlage mit ihm, fragt, ob er etwas wüßte? Nach einer gefühlten Ewigkeit erscheint jemand an der Tür. Angeblich kämen drei bis vier Busse in 15 – 20 Minuten. Wir fragen einen jungen Mitarbeitenden, der aus dem Bahnhofsgebäude kommt. (Wo war der eigentlich die ganze Zeit?! Und wieso hat er sich nicht bemüßigt gefühlt, uns zu informieren?? Wir vermuten, er hat sich vor uns versteckt, weil er Angst vor uns hatte.) Er kann uns nur das sagen, was sowieso schon in der App steht und er möchte gern Feierabend machen. Er fährt mit dem Taxi nach Mannheim.
Wir telefonieren noch einmal mit der Bahn. Wir stehen seit fast zwei Stunden auf dem Bahnsteig Neu-Edingen/Friedrichsfeld mit inzwischen drei verschiedenen sich widersprechenden Informationen. Einige holen sich Wasser beim Weichensteller. Die Ansage ist jetzt, dass es wohl einen Schienenersatzverkehr gäbe, dieser aber Neu-Edingen/Friedrichsfeld nicht anfahre. Ich frage mich, ob die Archäolog*innen der Zukunft einmal unsere verblichenen Knochen und Reste von Gepäck auf diesem Bahnsteig finden werden und sich fragen mögen, was zur Hölle da am 9. Mai 2024 passiert sein mag.
Es ist eine halbe Stunde vergangen, seit der Weichenstellmensch uns ankündigte, in 20 Minuten kämen drei bis vier Schienenersatzverkehrsbusse in Richtung Bensheim. Ich bin müde und mache die Augen zu. Mein Mitreisender schaut sich die App genauer an. Da hat er inzwischen eine Karte entdeckt, auf der Reisende zur Bushaltestelle an der ein paar hundert Meter entfernten Hauptstraße gelotst werden. Da wir der Meinung sind, hier am Arsch der Welt geschehe in der nächsten Zeit nichts Weltbewegendes, schlendern wir zur Hauptstraße. Wir haben nichts mehr zu verlieren. Tatsächlich gibt es hier eine Bushaltestelle. Aber – wenig überraschend – keinen Schienenersatzverkehr.
Wir unterhalten uns mit einem Mitreisenden, der die Asche seiner Kippe auf sein T-Shirt rieseln läßt. Er fragt uns, wohin wir wollen. „D.“ erwidern wir wahrheitsgemäß. Er sei hier aufgewachsen, wollte eigentlich seine Mutter besuchen. Da es inzwischen aber dafür schon viel zu spät ist, läßt er’s bleiben und fährt direkt wieder nach Hause. Er empfiehlt uns, mit dem Bus nach Seckenheim, Mannheim zu fahren und dort die Straßenbahn nach Weinheim zu nehmen. Alles erscheint uns in diesem Moment besser, als komplett verloren auf einem Bahnsteig ohne Infrastruktur zu stehen, einen Sonnenstich zu bekommen und von der DB über unser Schicksal im Ungewissen gelassen zu werden.
• Auf geht’s also im Bus nach Seckenheim, Mannheim. Es geht auf halb fünf Uhr abends zu. Der Kuchen ist wahrscheinlich aufgegessen, die Geschenke alle ausgepackt.
Der Busfahrer weiß leider auch nichts von einem Schienenersatzverkehr. Ich glaube, er versteht noch nicht einmal unsere Frage. Dann fahren wir über Mannheim Hbf 70 Minuten in einer überfüllten Straßenbahn, in der Reisende mit ähnlichen Leidensgeschichten sitzen. In Neu-Edingen/Friedrichsfeld seien jetzt „Personen im Gleis“, wie es bei der Bahn so verklärend heißt, erzählt unser Gegenüber. Ich frage mich, ob die laute Frau, die nicht zur Arbeit kam, einen Sitzstreik auf den Schienen organisiert hat oder aber einen wütenden Mob auf den Gleisen nach Frankfurt zur Zentrale der Deutschen Bahn führt. Wir kommen wohlbehalten in Weinheim an. Und – welch Ironie! – dort stehen tatsächlich mehrere Busse des Schienenersatzverkehrs. Wir sind neugierig, ob jemensch aus unserer Reisegruppe dabei ist. Ein bißchen enttäuscht sind wir dann schon, als wir leider kein bekanntes Gesicht entdecken. Wir fragen uns, ob die Leute wohl immer noch auf dem Bahnsteig ausharren, oder vielleicht doch schon vor uns wieder in der Zivilisation angekommen sind. In Weinheim steigen wir in den Zug, der tatsächlich losfährt. Und auch ankommt. Nämlich um 19:21h in Hauptbahnhof in D. Wir können unser Glück kaum fassen. Jetzt müssen wir nur noch zum Südbahnhof, das können wir notfalls auch laufen, falls die Busse hier sich auch entschließen sollten, nicht zu fahren. Wir sind nach der langen Fahrt erschöpft. Dankbar setzen wir uns in den Bus, der uns an unser Ziel bringt.
Es geht gegen acht Uhr abends, wir sind sechs Stunden zu spät. Die Gäste sind alle gegangen, meine Nichte muß ins Bett.
Ein schöner Kindergeburtstag.

Kommentare
24.05.2024 / 18:08 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 24.05.. Vielen Dank ! Leider z.Zt. Standard bei der Bahn-AG (zu 100% im Besitz des Bundes). Einzig richtig: sich nicht in die Pampa hinauskomplimentieren lassen wo nur alle Jubeljahre mal ein Zug hält, sondern zurückfahren zum nächsten größeren Bahnhof, sich ordentlich beschweren und dann eine Verbindung nehmen, die bis auch zum Ziel fährt, dann der Bahn eine Rechnung schicken.