Lorettas Leselampe - Januar 07

ID 15971
 
Katharina Hacker: Die Habenichtse. Der preisgekrönte Roman wird von den Leselampen-RedakteurInnen ausführlich diskutiert.
Audio
46:53 min, 16 MB, mp3
mp3, 48 kbit/s, Stereo (22050 kHz)
Upload vom 15.03.2007 / 12:01

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Klassifizierung

Beitragsart: Rezension
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: Lorettas Leselampe
Entstehung

AutorInnen: Lorettas Leselampe
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 15.03.2007
keine Linzenz
Skript
Vier Figuren werden zufällig, lose miteinander verbunden, weil eine Frau – Isabelle – so schön ist, und weil sie einem Mann – Jakob – nach London folgt. Die Zufälligkeit der Begegnung, die Sehnsucht nach Halt in haltlosen Zeiten sind nur zwei der zahlreichen Motive dieses Romans: Jakob und Isabella verbringen ihre erste Nacht am 12. September 2001 miteinander, sie werden ein Paar, Jakob war nicht in den Türmen, weil er Isabelle wiedertreffen wollte, sein Kollege starb an seiner Stelle, der Rechtsanwalt Jakob wird auf die diesem Kollegen versprochene Stelle nach London versetzt, längst mit der Graphikerin Isabelle verheiratet, wechseln sie von Berlin dorthin. Ein geliehenes Leben, das ihm nicht gehört. Die Habenichtse lebt davon, solche Motive zu erzählen, ihre Auswertung aber völlig den Lesern zu überlassen, die angesichts der Fülle von Motiven, Geschichten und Beobachtungen leicht den Überblick verliert. Die Geschichten der fünf Figuren und ihrer Perspektiven werden zwar grob im zeitlichen Nacheinander geordnet, aber der Roman wird von der Kombination aus eleganten Verwobensein der verschiedenen Leben und einer leichten Überforderung getragen – die ihn über weite Teile glänzen lassen.
Allerdings beginnt das Buch mit einem wenig überzeugendem, fast lebensfernen Motiv: Jakob hat zehn Jahre – zwischen Anfang zwanzig und Anfang dreißig – auf seine Frau gewartet. Warum? Er kannte Isabelle kaum, so erfahren wir, sie sind durch den diesigen Wald des Brombergs bei Freiburg getappt, und im entfernten Zitat eines Gedichts aus Günter Eichs Hörspiel ‚Träume’ zitieren überkam sie Furcht vorm Dunkel, „Aber Du, der du neben mir gehst, wir verborgen ist mir die Landschaft deines Herzens, tappend im Nebel überkommt mich oft Furcht (...) Jedes Jahrhundert gibt uns neue Dinge zu verbergen, dem neugierigen Auge der Liebe“. Was bei Eich der Zweite Weltkrieg und der Holocaust, ist bei Hacker der Anschlag auf das World Trade Center, der zugleich das Motiv für Entfremdung bzw. Einsamkeit und für die Suche nach dem Schutz vor ihr gibt. Während allerdings Eich das noch scheinbar Unschuldige – die Natur – politisiert, schildert Katharina Hacker komplexe, realistische Figuren. Die Situationen, in denen wir ihnen begegnen, sind so beiläufig, dass wir sie als wirkliche lesen sollen. Das funktioniert für viele Szenen. Aber im Ernst, wer wartet in jungen Jahren zehn Jahre auf eine Frau, die er kaum kennt? Mit der er eine Nacht verbracht hat, vielleicht? Traf er in diesen zehn langen Jahren zwischen 1991 und 2001 niemand anderes, mit der zumindest eine Affaire denkbar gewesen wäre? Hat er nicht versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen? Worauf hat er gewartet? Das Motiv verdrängter Homosexualität, mit dem Hacker Jakobs Geduld zu begründen versucht, überzeugt für diesen Zeitraum kaum, weil er sie und keine andere dann ja wenige Monate später ehelicht und die Ambivalenz seines Begehrens erst im zweiten Ehejahr erfährt – was zur entsprechenden Entfremdung führt. Es könnte einen das Gefühl beschleichen, er hätte gewußt, dass sich diese Geschichte gut erzählen läßt.
Darüberhinaus wird den Lesern vorenthalten, was ihn an Isabelle so bindet, außer, dass er sie hübsch findet und blitzschnell einen Steifen kriegt, wenn er sie sieht – aber noch das ist ihm unangenehm und er nestelt mit seinen Fingerspitzen an der Hose, um sie glattzustreichen (aber sie schlafen gerne miteinander). Hackers unbezweifelbare Beobachtungsgabe im Detail ist durch gekonnte Perspektivwechsel zwischen den fünf Figuren sinnreich ergänzt. Von der Wahrnehmung des verwahrlosten Nachbarkindes Sara zu der von Isabelle, zu den Wahnvorstellungen des kokainschnupfenden Kleinkriminellen Jim zu Isabelles Kollegen Andras – kunstvoll montiert die Autorin die Bruchstücke, aus denen sich der Roman bildet. Die so entstehende Offenheit erzeugt eine dauernde Atmosphäre der Unsicherheit, des künftig drohenden Unglücks und der Angst. Sie ruft den eigentümlichen Lesegenuß hervor, der jedem gut erzählten Roman eignet. Ein Aufschub, der zum Weiterlesen drängt und beim Eintreten des nicht vorherahn¬baren Ereignisses dieses nicht glauben mag, um eben den Entzug der Präsenz weiterhin genießen zu können. Selbstverständlich ist dieses Motiv der Bedrohung, die nicht von außen kommt (auch wenn sie real ist, wie die Andeutungen auf einen künftigen Anschlag in der Londoner U-Bahn erinnert) aktuell und macht das Buch vielleicht tatsächlich um besten deutschsprachigen Roman des Jahres, wie es der Deutsche Buchpreis verspricht. Und Hackers politische Analyse ist sympathisch: Das Gefühl des Unbehagens und mehr noch der Bedrohung stellt sich immer von innen her und entfaltet sich nicht aufgrund einer tatsächlichen Bedrohung. Es muß einen Moment der Verdrängung und eine unabgeschlossener Subjektivierung geben, der in der Generation Hackers fraglos zu einer spezifisch historischen Erfahrung nach 9/11 gehört. Das geliehene Leben Jakobs öffnet sich in dieser Erschütterung seinem homosexuellen Begehren ebenso wie der deutschen Vergangenheit in Bezug auf den Raub an den deutschen Juden.
So konsequent Hacker darauf verzichtet, dass die Katastrophe zur persönlichen der Figuren wird, so sorglos verschenkt die Autorin zugunsten dieser Moral auf das Motiv, was beispielsweise die Krimis von James Ellroy zur zeitgenössischen Literatur macht: nicht vor der Durchführung des Verbrechens zurückzuschrecken, sondern deren Gewalt als konstitutiv für unsere gesellschaftlichen Verhältnisse zu begreifen. Dies wäre weniger die Frage nach der Verfassung der jungen deutschen Bourgeoisie, als die nach ihrer Herrschaft. Hacker entscheidet sich für einen anderen, darum nicht uninteressanten Weg: Sie konfrontiert zwei ihrer Mitglieder im selbstgewählten Exil mit der englischen Arbeiterklasse in Isabelles, dem englischen Bürgertum in Jakobs Fall und – damit verschränkt – ihrem jeweiligen unerfüllten Begehren, das sie nicht zu artikulieren, sich gegenseitig nicht mitzuteilen verstehen.
Nach dem 11. September 2001 steht die junge bundesdeutsche Bourgeoisie bei gutem Einkommen mit leeren Händen da – sie ist zu Habenichtsen geworden, erfahrungsleer, der eigenen Gefühle unsicher, sie hat Geld, sie weiß aber nicht, warum sie tut, was sie tut. Sie scheint um etwas betrogen worden zu sein. Unangenehmerweise hat der Leser aber dasselbe Gefühl nach der Lektüre. Vielleicht, weil der Roman zuviele Antworten gibt, warum es zu dieser Situation gekommen ist. Die fünf Perspektiven, die Katharina Hacker gewählt hat, sind unterschiedlich genug, um die Erzählung zugleich zu beschleunigen und zu verdichten. Die Qualität des Romans ist sicher, Figuren, die durch die heterogene urbane Situation einer Metropole nebeneinander existieren, in Beziehung zueinander zu setzen, die mehr als eine nachbarschaftliche ist. Mit der Kinderperspektive der vielleicht siebenjährigen Sara wird ein magischer, unwissender Blick als Gegenbild zur Handlung eingeführt, das nicht zufällig die englischen Arbeiterklasse zeichnet. Die Fremdheit des deutschen Pärchens mit diesen Nachbarn wird so verdoppelt. Der kokainschnupfende und unberechenbare Kleinkriminelle Jim mit seinem unstillbaren Haß erinnert ebenfalls daran, dass es nicht nur Bürger auf der Welt gibt, auch wenn er Bürger Großbritanniens ist – er lebt illegal und flippt aus, als ihn jemand ‚findet’. Schon diese Zusammenfassung macht deutlich, dass die Perspektiven in ihrer Anlage schematischer sind, als es sich beim Lesen darstellt. Aber nur vom weiten beginnt sie dem Klischee zu ähneln. Der Beschreibungsreichtum, die Verteilung der Attribute täuscht angenehm darüber hinweg. Nur bei den Personenbeschreibungen verlässt sich die Autorin auf physiognomische Beobachtungen, die manchmal in Floskeln umzuschlagen drohen: bei Formulierungen wie „etwas zu weichen Gesichtszüge“ und „ihr gleichmäßiges ovales Gesicht“ stellen sich Bilder ein, die an Fahndungsbilder erinnern (und so fahndet Jim auch nach seiner verflossenen Mae und Jakob findet sie unwissentlich, was Isabelle beides nicht weiß. Im übrigen ist das Buch lausig lektoriert, anders zumindest läßt sich kaum erklären, dass sich Jim zum Ende zwei Skones bei einer Bäckerei kauft und nur wenige Zeilen später angeschnorrt wird, um festzustellen, dass er sein Geld in der Wohnung vergessen hat.)
Die Habenichtse – Hacker gleicht Sara und Jim, Jakob und Isabelle nicht einander an. Sie haben alle nichts, aber aus ganz unterschiedlichen Gründen, die auch erzählt werden. Aus dieser Konfrontation fällt der ungarische Exilant Andras heraus. Er ist ebenfalls schon lange, aber glücklos in seine Arbeitskollegin Isabelle verliebt. So beeindruckend Katharina Hacker seine Geschichte erzählt, seine Perspektive spitzt sich zu einer bestimmten Funktion zu, dass er als Jude dem historisch naiven Jakob ein wenig den Kopf zurechtzurückt. Dafür allerdings sind wir als Leser dankbar. Die wohl besten Stellen des Buches nehmen eine klare Position zur nationalsozialistischen Vergangenheits Deutschlands, der Ignoranz der jungen Bourgeousie in Bezug auf die Herkunft ihres Reichtums ein. Die Habenichtse erscheinen hier noch einmal in einem anderen Licht, weil das, was sie nicht haben, alles ist, im Verhältnis zu denen, die im Holocaust verfolgt und ermordet wurden (Hacker schließt hier an ihr wunderbares Buch über Saul Friedländer Eine Art Liebe an). Aber so beeindruckend die Passagen sind, in denen sie ihre Theorie der Geschichte zu entfalten beginnt, sie bleibt der unbehaglichen Spannung des Buches – der Ehe von Jakob und Isabelle, seiner Annäherung an seinen alten gutmütigen Chef und Isabelles Annährung an den jungen haßerfüllten Jim – in gewisser Weise äußerlich. Ihre Entfremdung ist keine durch die Geschichte, ebensowenig wie durch den Irakkrieg, dessen Vorbereitung der Roman nebenher dokumentiert. Hier bleibt Katharina Hacker eine größere These schuldig, an der sie offensichtlich kein Interesse hatte. Sie arbeitet in dem Roman an einer Verdichtung von unerwarteten Verbindungen zwischen den Figuren und einer komplexen Beschreibung, die den Leser angenehm überfordert und nach der Lektüre viele Fragen offenhält. Doch weil alles so nebeneinander stehen bleibt, wie es bei Nachbarschaften sein kann, weil die Überschneidungen geschehen, aber eben grundlos, bleibt die interessante und interessierte Lektüre zuletzt etwas ratlos zurück. Wie sich die Figuren aneinander verlieren, verliert sie der Leser. Sie werden immer unschärfer. Isabelle, um die sich ungewollt alles dreht, weil sie von allen geliebt wird, „ein schwarzes Loch, man kann alles in dich reinschüttten, und es verschwindet spurlos“, sagt Jim, bleibt im ganzen Roman unnahbar. Warum küßt sie Jakob gleich bei ihrer dritten Begrüßung auf den Mund? Warum heiratet sie ihn? Was bindet sie? Warum geht sie mit nach London? Obwohl der Roman in ihrer Perspektive erzählt, er gibt keine Antworten. Isabelles Fremdheit sich selbst gegenüber, ihre Gleichgültigkeit dem Unglück um sie herum und ihre Leere scheint zwar letztlich alles zu motivieren, aber am wiederholten Bild ihrer Schönheit wird die Lektüre schal. Denn sie gibt keinesfalls den Grund für die erzählten Klassenunterschiede, der Ratlosigkeit der Mittelschicht und ihrer unsicheren Orientierung. In dieser Hinsicht allerdings könnte die Ratlosigkeit, die auch der Roman hinterläßt, produktiv werden, denn Anlässe über die geschilderten Verhältnisse genauer nachzudenken, gibt er genug – und wie immer die möglichen Antworten ausfallen, sie muß eine geschichtstheoretische Perspektive einbegreifen.