"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Max Weber -

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Ich wusste nicht, dass der Soziologe Max Weber als Kind vier Jahre lang in Erfurt gelebt hat, aber andere scheinen es zu wissen, insonderheit die Dozierenden und Studierenden am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Viel tut dies nicht zur Sache und zu Max Weber, dessen wichtigste soziologische Errungenschaft wohl die Beweisführung war, dass sich die protestantische Ethik und insbesondere die Arbeitsethik ausgezeichnet für eine kapitalistische Gesellschaft eignet, im Gegensatz zur katholischen, die einfach zu viele Feiertage toleriert oder gar vorschreibt, oder etwa zur moslemischen, die ungefähr im 12. Jahrhundert versteinert ist, und von den anderen Moralgebäuden will ich hier gar nicht anfangen.
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10:44 min, 12 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 10.04.2012 / 12:51

Dateizugriffe: 709

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 10.04.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Dagegen hat mir sehr gefallen, dass dieser Kapitalismus-Theoretiker zunächst als reiner deutscher Nationalist im Alldeutschen Verband mitwirkte, den er 1899 unter Protest verließ, und zwar laut Wikipedia, weil er sich mit seiner Forderung nach Schließung der Grenzen für polnische Wanderarbeiter nicht durchsetzen konnte. Der Grund dafür lag laut Wikipedia darin, dass sich im Alldeutschen Verband die bäuerlichen Mitglieder durchsetzen konnten, welche die polnischen Wanderarbeiter als billige Saison-Arbeitskräfte dringend brauchten. Das hat mir sehr gefallen; das ist exakt das gleiche Muster, nach dem bei uns die rechtsnationalistische Schweizerische Volkspartei gegen die Ausländer hetzt, während der Bauernflügel klammheimlich Portugiesen, Rumänen und anderweitiges Billig-Arbeitermaterial auf seinen Feldern beschäftigt, gerne auch mal schwarz, da müssen sie nicht mal die Mindestanforderungen erfüllen. Und wenn zu dieser Zeit nicht zufällig sein Vater gestorben wäre, was den Max Weber ganz ordentlich aus der Bahn geworfen hat bzw. in eine neue Bahn katapultierte, dann wäre uns dieser Mann für die Soziologie verloren gegangen und stattdessen vielleicht dem Hindenburg oder anderen Früh- und Spätnationalisten nachgehoppelt. Aber eben, sein Vater hat sich geopfert, und so zählte Max Weber zehn Jahre später, unter anderen mit Georg Simmel und Werner Sombart, die Deutsche Gesellschaft für Soziologie.

Ich kenne meinen Weber nicht so richtig in- und auswendig, und auch die übrigen Soziologen sind mir immer noch recht fremd, obwohl ich ihre Bedeutung nicht in Frage stelle. Einigermaßen lustig fand ich aber die Philosophie des Geldes von Georg Simmel, zum Beispiel in jener Passage, in welcher er die Geldwirtschaft bezichtigt, dem Intellekt ein strukturelles Übergewicht gegenüber der Gefühlswelt zu geben, und dann legt er gleich einen drauf: «Diese Beziehung zwischen der Bedeutung des Intellekts und der des Geldes für das Leben lässt die Epochen oder Interessengebiete, wo beides herrscht, zunächst negativ bestimmen durch eine gewisse Charakterlosigkeit. Wenn Charakter immer bedeutet, dass Personen oder Dinge auf eine individuelle Daseinsart, im Unterschied und unter Ausschluss von allen anderen, entschieden festgelegt sind, so weiß der Intellekt als solcher davon nichts; denn er ist der indifferente Spiegel der Wirklichkeit, in der alle Elemente gleichberechtigt sind, weil ihr Recht hier in nichts anderem als in ihrem Wirklichsein besteht. Gewiss sind auch die Intellektualitäten der Menschen charakteristisch unterschieden; allein genau angesehen, sind dies entweder Unterschiede des Grades: Tiefe oder Oberflächlichkeit, Weite oder Beschränktheit – oder solche, die durch den Beisatz andrer Seelenenergien, des Fühlens oder Wollens, entstehen. Der Intellekt, seinem reinen Begriff nach, ist absolut charakterlos, nicht im Sinne des Mangels einer eigentlich erforderlichen Qualität, sondern weil er ganz jenseits der auswählenden Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht. Eben dies ist ersichtlich auch die Charakterlosigkeit des Geldes.» – Solche Sachen machen auch heute noch das gleiche Vergnügen wie zum Zeitpunkt ihrer ersten Publikation. Dagegen schlitterte Werner Sombart nach einer deutlich sozialistisch geprägten Phase mit vollem Karacho in den Nationalsozialismus, und er wird heute wohl hauptsächlich deswegen nicht als Nazi eingereiht, weil er den Nazis selber suspekt war und dementsprechend nie die Chance erhielt, eine nationalsozialistisch-reichsdeutsche Soziologie aufzuspannen. An Ehrerbietungen oder an Beifallsbezeugungen für die Nationalsozialisten hätte es jedenfalls nicht gefehlt.

Aber zurück zu Weber. Wenn ich das richtig verstanden habe, war er selber durchaus nicht so stur, dass er behauptet hätte, die Verbindung zwischen Protestantismus und insbesondere Calvinismus und Kapitalismus sei klar und zwingend. Bloß erschienen ihm gewisse Parallelen offenkundig, und im Nachhinein kann man nur zustimmen, dass zu einer ordentlichen Ausbeutergesellschaft auch eine Ideologie gehört, welche die Menschen dazu befähigt, unter den entsprechenden Bedingungen zu leben, vielmehr nicht nur zu leben, sondern auch noch richtig tüchtig zu arbeiten. Diese ideologische Komponente war ziemlich zentral bei der Disziplinierung einer bis ins 19. und zum Teil noch bis ins 20. Jahrhundert hinein weitgehend unkultivierten Volksmasse, und ob die Indoktrination nun in der Fabrik bzw. vom Takt der Maschinen oder von der Kanzel erfolgte, kann der Nachwelt soweit egal sein; Hauptsache ist, dass sie erfolgte, und zwar derart gründlich, dass wir uns heute darüber lustig machen können. In Tat und Wahrheit liegt hier ein echtes Problem vor, nämlich jenes, dass die Menschen nicht sofort den Pickel hinwerfen, wenn sie mal ein bisschen was auf der hohen Kante haben, und genau dies war bekanntlich der Trick, dank dem der Kapitalismus nicht nur nicht zusammenbrach, sondern seinen gewaltigen Siegeszug durch die letzten Jahrhunderte antrat, nämlich indem die Produzenten zwar gemäß der Marxschen Kritik wohl von den Produkten ihrer Arbeit enteignet wurden, aber umgekehrt wurde das Entgelt im Lauf der Zeit derart groß, dass sie sich diese Produkte auf dem Markt dann wieder aneignen konnten, was auch einer jener seltsamen Luftsprünge darstellt, die sich die Geschichte am Laufmeter erlaubt. Ein dauerhafter gesellschaftlicher Reichtum ist nur dort möglich, wo die Menschen immer weiter arbeiten, auch wenn sie ein Einfamilienhaus besitzen. Nur die Unruhe, welche die modernen Menschen jeden Tag an ihre Arbeitsplätze treibt, schafft Wohlstand. Und diese Tatsache liegt auch allen Aussagen über die Faulheit zugrunde, mindestens soweit sie unsere Gesellschaften betreffen. Nicht einmal unsere Faulheit mehr ist eine ursprüngliche, naive oder primitive Faulheit; sie ist selber das Ergebnis einer maximal zugespitzten Arbeitsmoral. Und kein Mensch kann sagen, ob es zum Beispiel möglich wäre, in Erdgebieten, in welche sich die protestantische Arbeitsethik bisher noch nicht vorgewagt hat, so eine richtige Gesellschaft im Luxus aufzubauen ohne den Umweg über die vorherige Disziplinierung durch harte Arbeitsprozesse.

Trotzdem rollt der allgemeine gesellschaftliche Reichtum immer stärker auf uns zu, ohne dass wir uns dafür noch anzustrengen brauchten, und genau ob diesem Umstand bricht das in der protestantischen Arbeitsethik gestählte Individuum entzwei. Wo keine notwendige Arbeit mehr notwendig ist zur Herstellung aller Güter, auch von Luxusgütern, da steht der Arbeiter am Berg und ruft verzweifelt, eben, nach Arbeitsplätzen. Und ähnlich ergeht es wohl auch einer ganzen Schicht an konservativen Unternehmerinnen und Unternehmern, welche sich kein anderes Gesellschaftsspiel vorstellen können als das kapitalistische, ökonomische. Und weil das so ist, gibt es auch keine richtigen Zukunftsforschungsabteilungen, welche sich mit gesellschaftlichen Prozessen jenseits dieses tabuisierten Imperativs befassen; die Moral, welche uns vor hundertfünfzig Jahren die Proletarier in den Fabriken halten musste, beginnt sich gegen die Gesellschaft zu wenden. Da muss in absehbarer Zukunft ziemlich dringend etwas Neues her, das vielleicht justament auf der ethischen Ebene umrissen werden könnte, das aber mit Sicherheit absolut charakterlos und rein intellektuell sein wird.

Es gibt übrigens noch einen zweiten Max Weber, der mindestens für uns Käse- und Kuhschweizer eine gewisse Bedeutung hat, nämlich einen sozialdemokratischen Politiker, der 33 Jahre nach dem Erfurter Max Weber in Zürich geboren wurde und der einige wichtige Posten in der sozialdemokratischen und Gewerkschaftsgeschichte der Schweiz belegte, nicht zuletzt aufgrund ziemlich profunder Kenntnisse des Finanz- und Bankenwesens, was für einen Sozialdemokraten nicht immer zwingend war und ist. Seine Karriere führte ihn bis auf die höchste Spitze, mindestens für Schweizer Verhältnisse, nämlich in den Bundesrat; er folgte im Jahr 1951 auf den ersten sozialdemokratischen Vertreter Ernst Nobs, blieb aber nur 3 Jahre im Amt, da das Schweizer Stimmvolk eine Steuerreform ablehnte, die er entworfen hatte. Anschließend schlug er sich als Professor für Finanzwissenschaften durchs Leben.

Erlaubt mir aber zum Schluss noch eine kurze Passage aus der Philosophie des Geldes: «Es ist dem Geldverkehr eigentümlich, dass er zur Konzentration an verhältnismäßig wenigen Plätzen drängt. In Bezug auf lokale Diffusion kann man eine Skala der ökonomischen Objekte aufstellen, von der ich hier nur ganz im Rohen einige der charakteristischsten Stufen andeute: Sie beginnt mit dem Ackerbau, dessen Natur jeder Zusammenrückung seiner Gebietsteile widersteht; er schließt sich unabwendbar dem ursprünglichen Außereinander des Raumes an. Die industrielle Produktion ist schon komprimierbarer: der Fabrikbetrieb stellt seine räumliche Kondensierung gegenüber dem Handwerk und der Hausindustrie dar, das moderne Industriezentrum ist ein gewerblicher Mikrokosmos, in den jede in der Welt vorhandene Gattung von Rohstoffen strömt, um zu Formen gestaltet zu werden, deren Ursprünge weltweit auseinander liegen. Das äußerste Glied dieser Stufenleiter bilden die Geldgeschäfte. Das Geld steht vermöge der Abstraktheit seiner Form jenseits aller bestimmten Beziehungen zum Raum: Es kann seine Wirkungen in die weitesten Fernen erstrecken, ja es ist gewissermaßen in jedem Augenblick der Mittelpunkt eines Kreises potenzieller Wirkungen; aber es gestattet auch umgekehrt, die größte Wertsumme in die kleinste Form zusammenzudrängen – bis zu dem 10-Millionen-Dollar-Check, den Jay Gould einmal ausstellte. Der Komprimierbarkeit der Werte vermöge des Geldes, und des Geldes vermöge seiner immer abstrakteren Formen entspricht nun die der Geldgeschäfte. In dem Maß, in dem die Wirtschaft eines Landes mehr und mehr auf Geld gestellt wird, schreitet die Konzentrierung seiner Finanzaktionen in großen Knotenpunkten des Geldverkehrs vor.» Wirklich, dieses Werk macht Spaß.