"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - US-Kultur in Europa -

ID 52470
 
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Ein Dokumentarfilmer erzählte kürzlich von seinem Projekt, einen Film zu drehen über die Niederschläge der US-amerikanischen Kultur in der Schweiz, natürlich nicht der Hochkultur wie die unergründlich lasierend schimmernden und Trance auslösenden monochromen Bilder von Rothko, sondern die Populärkultur mit Country, Folk, vor allem aber mit so lustigen Veranstaltungen wie Wrestling, ...
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10:37 min, 19 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.12.2012 / 10:01

Dateizugriffe: 263

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 04.12.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
... was in den USA ein Top-Publikumsevent ist, bei uns aber ein relativ kümmerliches Dasein fristet in Turnhallen vor ein paar Dutzend ZuschauerInnen und vor allem ganz ohne jede Fernsehübertragung. Auf jeden Fall vorderhand noch – im Zeitalter des Internet-Fernsehens und der Schnell-Schnittplätze am PC weiß man nie, ob so etwas nicht bald eine weitere Verbreitung findet, und da wäre das Wrestling wohl nur eine Vorstufe für die weiteren Steigerungsformen Schlammringen, Schaum-Schaukämpfe von nackerten Frauen und so weiter. Aber vorderhand ist hier noch marginal, was in den USA etablierte Volksunterhaltung ist, und darauf will er nun eben ein Auge oder eine Linse werfen. Er interessiere sich dafür, was da zurückkomme aus dem von den Europäern kolonialisierten Land, meinte er, und da kam mir selbstverständlich vor allem Karl May in den Sinn beziehungsweise dass die neueren Generationen wohl völlig ohne Karl May aufgewachsen sind. Warum wohl? Der Dokumentarfilmer wusste keine Antwort und kannte Karl May schon gar nicht mit Ausnahme der Winnetou-Filme mit Pierre Brice und Lex Barker, die irgendwann mal ebenso ihr Comeback haben werden wie alles andere. Aber mir ging es eigentlich nicht um diese Filme, sondern um die Bücher. Karl May schreibt vor allem über ein Thema, nämlich über das Ich. Es geht dabei nicht um Karl May selber, sondern um die Projektionen eines durchschnittlichen bürgerlichen Ichs, eines männlichen natürlich, wie man sie halt in der Pubertät so entwickelt und anschließend bis ans bittere Ende des Lebens mit sich herum trägt. Dabei findet besagtes Ich, das trotz jugendlichem Alter den schönen Namen Alte Schmetterhand trägt sowie eine Ausbildung in Theologie, Juristerei, Medizin usw., seinen Auslauf natürlich fast nur in den Vereinigten Staaten; bei den Reisen durch Arabien stellen sich Karl dem Deutschen eigentlich keine richtigen Widersacher in den Weg, bloß Karikaturen sowie ziemlich viel Sand. Aber in den Vereinigten Staaten und mit den zum Teil edlen Wilden gibt es viel zu tun für dieses Ich, namentlich Schlägereien, an denen Obelix und Bud Spencer ihre Freude hätten; diese schöpfen selbstverständlich aus den gleichen Quellen, bloß tun sie es nunmehr ironisch, während bei Karl May alles noch ganz ernst und eins zu eins gemeint ist und eben die Projektionen von 12- bis 16-jährigen jungen Männern ganz ausgezeichnet formen kann.

Das gibt es nicht mehr, stelle ich fest, und ich frage mich damit auch weshalb. Die Konjunkturen von Karl May im Lauf der letzten 130 Jahre sind mir nicht bekannt, ich weiß bloß, dass noch Arno Schmidt den Autor einer latenten Homosexualität überführte, und zwar unter anderem mit Beweisführungen wie der, dass aus gewissen Felsspalten, in welche Old Shatterhand hinein reitet, kein Wasser austritt, und das steht dann symbolisch irgendwie für den Analverkehr, während Felsspalten, aus denen Wasser austritt und in welche man ebenfalls hinein reitet, für Vaginalverkehr stehen. – Aber insgesamt ist die Begründung doch etwas stichhaltiger als dieses populärpsychologische Beispiel, und dass die Freundschaft zwischen Old Shatterhand und Winnetou eine echte und ungetrübte Männerliebe ist, das bestreitet ja nicht mal Karl May selber. – Aber wie auch immer: Wenn also Karl May mit den homoerotischen Aspekten durchaus Chancen auf eine Neuentdeckung hätte, so ist er bezüglich der Ich-Darstellung bzw. der Ich-Projektion offensichtlich völlig veraltet – die männliche Jugend rezipiert heute keinen Karl May mehr. Hat sie also, und das ist die Kernfrage, auch kein Ich mehr? Oder hat sich das Ich so geändert, dass es jetzt ein Du-Ich geworden ist oder vielleicht sogar ein Es-Ich? Die Männer heißen neuerdings nicht mehr Erich, sondern Esich. Wer mir hierzu nützliche Angaben machen kann, der soll sich bitte melden. In der Zwischenzeit gehe ich davon aus, dass das Verschwinden von Karl May bzw. von Old Shatterhand weniger mit dem Verschwinden des Ich zu tun hat als vielmehr mit dem Überhandnehmen von visuellen Medien, welche die Vorstellungskraft leider nicht beflügeln, sondern einschränken, indem die Vorgaben von Typ, Aussehen und Verhalten kaum Varianten und vor allem keine individuellen Anpassungen erlauben. Daneben halte ich es nicht für möglich, sondern für zwingend, dass das jugendliche Ich nicht nur bei Männern, sonder auch bei Frauen heute anders gebildet wird als vor 120 oder noch vor 60 Jahren, indem ja schon die Eltern derart viel Energie und Emotion in so ein Kindchen investieren, dass es einem fast schwindlig wird darob, damit entwickelt sich zwingend ein anderes Menschlein heran, eine neue Sorte quasi. Heißt das nun, dass die überhaupt nicht mehr über jene Mechanismen verfügen von Schlagen und Geschlagen werden, von Recht haben, Recht durchsetzen und Unrecht erleiden oder was sich so alles vermengt zu den besagten Projektionen? Es wäre durchaus möglich, dass solche Sachen in modernen Menschen sozusagen a priori da sind. Recht ist a priori gegeben, das braucht man nicht durchzusetzen, und es gibt auch kein Unrecht, sondern nur unterschiedliche Ausmaße oder Anteile an Recht, welche zum Beispiel in Quizshows oder Schulprüfungen ausgemacht werden, aber grundsätzlich ist das System in Ordnung und das Individuum schluckt die Verhältnisse so, wie sie sind, außer die Voraussetzung würde in Frage gestellt, dass also Recht a priori der Grundzustand in der Gesellschaft sei. Dies erfolgt allerdings wiederum auf der individuellen Ebene mit der entsprechenden Explosion des Individuums, aber davon abgesehen ist alles befriedet, eingefriedet, eingebettet in verschiedene Communities. Ein Hobbit-Ich, ein Ich für das Auenland, sozusagen.

Selbstverständlich war auch das Ich der Karl-May-Community eine ideale Sache und wie gesagt, noch mit Theologie und Jurisprudenz obendrauf, was sich das moderne Individuum durchaus nicht mehr leistet. Und die Träger solcher Projektionen hatten wohl ebenso sehr mit äußeren Widerständen zu kämpfen wie die heutige Jugend; bloß stelle ich mir vor, dass der Einsatz sich verändert hat und damit auch das Ich. Und das erklärt das Verschwinden der Karl-May-Bücher in die Antiquariate.

Es gibt noch eine zusätzliche Komponente, die man ebenfalls gut erkennt, wenn man sich damit beschäftigt, was die USA zu uns exportieren; nämlich haben wir heute eben Folk and Country, aber wir haben überhaupt keine Indianer mehr. Das hat schon in den Italowestern begonnen und seine Fortsetzung in der Marlboro-Reklame gefunden, aber immerhin gab es doch eine ausgewachsene Konjunkturwelle von Indianern an den Ethnologieabteilungen der Universitäten. Der war nie ein richtiger Ethnologiestudent, der nicht einmal Schamanismus betrieben hat. Dieses Geister-Unwesen hält sich selbstverständlich weiterhin hartnäckig, heute eher außerhalb der Universitäten in Form von Kursen und Seminaren, in welchen nebligen Köpfen der Geldbeutel ausgewunden wird. Ansonsten aber haben die Kulturexporte der USA in Europa tatsächlich die Indianer vom Tisch gewischt, und das ist doch eine interessante Bewegung, welche der Kollege Dokumentarfilmer vermutlich nicht wird im Bild festhalten können, sondern eben nur Wrestling, Harley Davidson und die verschiedenen großen und kleinen Musik-Festivals. Man könnte ihn auch noch auf den American Football verweisen, der ebenfalls ein kümmerliches Leben fristet bei uns; ihm gebe ich allerdings überhaupt keine Chancen gegenüber dem Soccer beziehungsweise unserem europäischen Fußball, der die Welt außerhalb der Vereinigten Staaten schon längst mit seinem Monopol überzogen hat, zumal der American Football nicht mal in seiner eigenen Domäne, nämlich der Männer-Schlammschlacht, das Terrain unangefochten verteidigt; der Rugby ist schließlich auch noch da, und hier sind Frankreich, Neuseeland, Australien und vermutlich auch noch Irland und England und Wales völlig verschlossen gegenüber der amerikanischen Fußball-Variante.

Was fließt denn sonst noch so zurück von den USA nach Europa? – Die Sprache, selbstverständlich, wobei Englisch ja auch bei uns anzutreffen ist, also in Europa; aber grundsätzlich könnte man sich durchaus einen Dokumentarfilm vorstellen über die Anglisierung in erster Linie der deutschen Sprache. Dieser Film müsste aber einen Vorspann haben über die Franzosismen, welche im 18. Jahrhundert in die gleiche Sprache eingeflossen sind, als der Preußenkönig sich überhaupt weigerte, Deutsch zu schreiben. Solche Sprachbewegungen sind eigentlich nur normal. Wenn es den Deutschen einmal gelingt, kulturell die Welthegemonie zu erringen und nicht nur mit Automobilen, dann wird sich dies auch im Einfließen deutscher Wörter in andere Sprachen äußern. Auch heute schon gibt es einige wenige solche Exportartikel, aber meistens sind sie von zweifelhaftem Charakter, Blitzkrieg, Hinterland, Kindergarten und solche Dinge. Da liegt also noch einiges Potenzial.
Wenn ich hin und wieder im deutschen Staatsfernsehen nach einer vernünftigen Sendung suche, dann stoße ich in den späteren Abendstunden fast ausschließlich auf Gesprächsrunden, die halt eben auf Englisch Talkshows heißen. Die finden oft gleichzeitig statt und sind auch mit durchaus ähnlichen TeilnehmerInnen bestückt, ausgewählt nach Parteienproporz und natürlich auch nach einem gewissen Bekanntheits-, Beliebtheits- und Eloquenzgrad. Kann mir jemand sagen, was der kulturhistorische Wert solcher Gesprächsrunden ist? Alle wissen, dass hier nur Quatsch herum geschoben wird, also muss es sich um eine Art von Schönheitswettbewerb in Rhetorik handeln. Sind wir mit dem Fernsehen somit zurückgekehrt in die Darbietungen der Antike? Haben solche Sendungen auch nur den geringsten Einfluss aufs Wahlverhalten relevanter Bevölkerungsteile? – Solche Fragen möchte ich gerne einmal beantwortet haben. Daneben hat sich im ZDF noch eine satirische Nacht-Nachrichtenshow etabliert, die ich nicht einmal so übel finde, obwohl der Präsentator, ein gewisser Herr Welke, manchmal schon sehr geduldig und demonstrativ mit dem Zaupfahl der Pointe winkt, aber immerhin. Auch hier verändert sich die Welt; Satire nun bereits im staatstragenden Fernsehen, wo kommen wir da hin, überhaupt? Offenbar ist auch hier die Polarität abhanden gekommen. Vielleicht handelt es sich sowohl bei der Erziehung wie auch beim Fernsehen um weitere Spätfolgen des Verschwindens des Ostblocks.