"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Bildung, wieder mal -

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Die Schule ist ein gewaltiger gesellschaftlicher Ort, der erste strukturierte soziale Raum nach der Familie, die primäre Ausbildungsmaschine, hier werden die Weichen gestellt für das ganze Leben und auch die wichtigsten Freundschaften geknüpft.
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09:35 min, 18 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 30.01.2013 / 09:47

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 30.01.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die Qualität der Schule bestimmt die individuellen Chancen und die Zukunft der ganzen Gemeinschaft. Gewaltige Geldsummen fließen in den Sektor, und es gibt so viele Experten in diesem Bereich, wie es Erwachsene gibt. Dementsprechend sind die Meldungen aus diesem Universum immer so spannend. Dabei reicht das Spektrum von der Information, dass in China jedes Jahr 250 Mia. Dollar in den Bildungssektor gesteckt werden, bis zu den Einsichten in den schulischen Alltag in der Schweiz, wo sich oft zwei Lehrkräfte mit je 50%-Pensen darum bemühen, ihr Schülergut bei Laune zu halten. In der Tat waren bei uns die LehrerInnen ebenso Pionierinnen des Job-Sharing, wie sie es in Deutschland beim Burn-out sind.

Und in der Tat: Wie sollte man da auch nicht ausbrennen in einem Job, in dem immer das Unmögliche verlangt wird, nämlich dass man aus all den herzensguten und vergötterten Kinderlein ein Genie machen sollte. Der Druck der Eltern auf die Institution und auf das Personal ist enorm, weil sie genau wissen, dass hier eben zentrale Entscheidungen bezüglich der beruflichen Zukunft der Sprösslinge gefällt werden. Die Schule hat dem nicht viel entgegenzusetzen. Die Schulmaschine muss sich jedes Jahr reproduzieren, einen bestimmten Anteil der Kinder in die jeweiligen nächsthohen Stufen übergeben und am Schluss die freien Quoten in den Universitäten, bei Facharbeitern und bei den Nichtsnutzen besetzen. Da können sich die Lehrpersonen noch so abrackern, an dem Schema werden sie nichts ändern. Und dann laufen mindestens in der Schweiz seit bald dreißig Jahren Reformen, dass es eine Art hat. Im Kanton Zürich sind die Schulen der Primarstufe seit etwa 10 Jahren selbstverwaltete Einheiten mit einem eigenen administrativen Leiter. Manchmal handelt es sich dabei um eine Lehrkraft und manchmal um einen entlassenen Piloten, aber das Ergebnis ist beide Male das gleiche. New Public Management, hieß das bei der Einführung. Es handelte sich um einen Versuch, staatliche Institutionen und vor allem Betriebe effizienter zu gestalten. In der Schule führte dies bloß zu einer Vervielfachung des administrativen Krams und zu Abläufen, die nur die- oder derjenige übersteht, welcher sich nicht darum kümmert. Und das war bei Weitem nicht die einzige Reform. Schulpläne, Organisations- und Aufsichtsstrukturen werden praktisch jedes Jahr umgestellt, praktisch immer für die Füchse, sodass man sich jene Zeiten zurückwünscht, in denen ein einzelner, autoritärer Schul-Oberaufseher ausreichte, um im System für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Das Problem entsteht so aus einer Mischung zwischen diffusen Ambitionen der Eltern, welche sich gegenüber der Institution Schule in den gleichen Rechten fühlen wie anderswo als Konsumenten, und der einhundertprozentigen Orientierungslosigkeit der Institution selber, welcher der pädagogische Anspruch völlig verloren gegangen ist. Nicht den einzelnen Lehrerinnen und Lehrern, sondern der Institution insgesamt, den Organen und Behörden, welche die Schule betreiben und die in der Regel auf politische Vorgaben hören und reagieren anstatt auf pädagogische. Sie werden darin unterstützt von VertreterInnen aus dem Lehrkörper, welche unglücklicherweise ihre Praxiserfahrungen beisteuern, also Erfahrungen aus einer Praxis, die im Kern eben nicht mehr pädagogisch, sondern administrativ ist.

Als ob nicht so schon vieles unklar wäre! Insbesondere in Regionen mit Problemen wie hoher Arbeitslosigkeit, Mangel an Perspektiven, aber auch hoher Ausländeranteil, was nicht an und für sich ein Problem ist, sondern nur in Bezug auf die Sprache und auf die Vorbereitung für die Schule, in diesen Problemregionen müsste man mit der vollen Wucht einer ausgefeilten Pädagogik auf das Kindergut und ebenso auf die Eltern losgehen. In der Regel werden die Stellen der KlassenlehrerInnen in solchen Regionen mit Personen besetzt, welche schwächere Studienabschlüsse haben und andernorts abgelehnt werden. Genau das Gegenteil müsste der Fall sein: Der Staat müsste hier notfalls mit Zwangseinsätzen dafür sorgen, dass das beste und nicht das schlechteste Personal diese Kinder ausbildet. «Zwang» könnte dabei zum Beispiel heißen, dass der Zugang zu einer begehrten LehrerInnen-Stelle nicht möglich ist, bevor nicht eine 5-jährige Unterrichtserfahrung in einem Krisengebiet nachgewiesen werden kann. «Zwang» kann auch bedeuten, die Löhne in solchen Gegenden derart massiv anzuheben, dass echte Anreize bestehen, sodass die verantwortlichen Behörden eine echte Wahl haben. Und so weiter.

Wenn man diese kritischen Bereiche einmal angepackt hat, dann wird man für die Normalfälle daran gehen können, das Anforderungsniveau ganz allgemein anzuheben. Eigentlich ist es egal, ob dies im Rahmen einer Gesamtschule erfolgt oder in einer Stufenschule. Wichtig ist in jedem Fall, dass man die Schule immer als Eliteschule begreift. Und zwar in dem Sinne, dass die Elite eben die ganze Bevölkerung umfasst. Sie muss dabei durchaus nicht zum Ziel haben, alle SchülerInnen gleich zu machen, aber ihr Ziel muss es immer sein, allen zusammen ein Minimum an Kenntnissen in allen Sparten zu vermitteln, also von der Algebra über den Philosophieunterricht bis zum Motorenbau und zu Organisationsfähigkeiten. Daneben sollen die individuellen Fähigkeiten unbedingt individuell gefördert werden, und, wie gesagt, ob man das dann am besten innerhalb einer Gesamtschule einrichtet oder in einem anderen System, das ist letztlich gleichgültig.

In der Zwischenzeit schauen wir etwas konsterniert in die Klassenräume, wo die lieben Kleinen mit ihren Team-Teachern Schule spielen, dass sich die Balken biegen, während das Gesamtprodukt, also der Bildungsstand, durchaus nicht besser wird, mindestens nicht in dem Maße, wie er sollte oder könnte. Geld ist an und für sich genügend vorhanden, wenn es auch bei weitem nicht jenen Anstrengungen entspricht, die gegenwärtig in China stattfinden, aber grundsätzlich liegt es nicht am Geld, sondern an der Art und Weise, wie es eingesetzt wird. Wie bringt man es fertig, mit durchaus genügenden Mitteln unbefriedigende Resultate zu erzielen? Ich habe meine Vermutungen und Vorschläge hier schon früher ausgebreitet: Einführung eines strengen Lehrplans sowie einer strengen, absolut entpolitisierten Aufsichtsbehörde und parallel dazu weitgehende Entmachtung des Lehrpersonals in Sachen Lehrplangestaltung; gleichzeitig kann man die LehrerInnen wieder völlig von administrativen Aufgaben entlasten, damit sie sich auf das konzentrieren können, was hoffentlich der Inhalt ihrer Berufswahl war: auf den Umgang mit Kindern.

Den Chineserer dagegen treiben andere Motive an. In China braucht es dringend eine neue Schicht von gut gebildeten Ingenieuren und Ingenieurinnen, sowohl für die Inlandproduktion als auch für den Einsatz im Ausland, wenn man die 500 Billionen Dollars in der Staatskasse bei Gelegenheit mal im imperialistischen Konzert klimpern lassen will. Da steckt man halt das Geld ins Bildungswesen. Der Haupteffekt dieser Investition wird es sein, dass das Schulniveau im Land innerhalb von zehn Jahren explosionsartig steigen wird. Nebeneffekte können nicht ausbleiben, zum Beispiel verbreitetes Verständnis für Umweltbelange. Dass dies dringend nötig ist, wissen wir und auch die Chinesen selber nicht erst seit den Berichten über den Smog in den chinesischen Großstädten. Mit zunehmendem Know-how verbessern sich nun auch die Aussichten auf Besserung, sowohl vom Bewusstsein als auch von den technologischen Voraussetzungen her. Und praktisch zwangsläufig folgt mit einem höheren Bildungsstand auch ein höherer Grad an politischer Reife, wenn ich mir die Bemerkung mal erlauben darf. So erzielt eine zentralisierte Planung eben durchaus auch schöne Effekte, unabhängig von allen Missständen wie Korruption und so weiter. Diese Schwächen werden in unserem System mindestens ausgeglichen durch das kräfteraubende Spiel der unzähligen verschiedenen und gegensätzlichen Interessen, das insbesondere die EU kennzeichnet. In dem Punkt lag Kamerad Cameron mit seiner Kritik nicht falsch. Allerdings will ich damit nicht den Zentralismus gegenüber dezentralen Strukturen loben, sondern bloß bemerkt haben, dass sich pseudodemokratische Strukturen ebenso eignen für eine ordentliche Ineffizienz wie andere.

Bildung ist jedenfalls ein zentraler Pfeiler, wo nicht der Hauptpfeiler der gegenwärtigen und der zukünftigen Gesellschaften. Weder die technischen noch die gesellschaftlichen Prozesse sind auch nur im Entferntesten noch unmittelbar. Damit die Prozesse für die gesamte Bevölkerung beherrschbar werden und bleiben und nicht nur für eine Wissens-Oligarchie, muss Bildung so breit und so gut wie nur möglich betrieben werden. Jede Schwächung solcher Anstrengungen ist ein direkter Angriff auf alle demokratischen Strukturen. Dabei versteht sich von selber, dass Fehler unterlaufen können oder dass Ansätze nicht vollständig richtig sind oder nicht im ersten Anlauf gelingen. Dies gilt mit Sicherheit für den Bologna-Prozess, den die Europäische Union dringend überarbeiten muss. Und dann gilt dies auch für die Einsicht, dass die Bildung als Institution in Zukunft nicht mehr nur die SchülerInnen im Alter bis 20 Jahren erfassen muss. In der Praxis wimmeln unsere Gesellschaften ja nur so von Myriaden von Kursangeboten; aber weit über die Hälfte davon sind Scharlatanerien, Beutelschneidereien bar jeglichen Anspruchs der Wissensvermittlung. Diese Lücke entsteht natürlich auch aus der generellen Verschiebung der wirtschaftlichen Aktivitäten oder aus dem steigenden Durchschnittsalter, was Anforderungen stellt, die bis jetzt noch nicht so allgemein diskutiert wurden, dass konkrete politische Projekte oder gar Programme daraus entstanden sind. Trotzdem gilt immer stärker: Wenn sich diese Gesellschaft schon selber als Bildungsgesellschaft -sehen will, weshalb unternimmt sie dann nicht konsequent alle Anstrengungen in diese Richtung?