"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Kyrillisch

ID 56503
 
AnhörenDownload
Das habe ich jetzt richtig verstanden: Anlässlich der jüngsten Bevölkerungszählung habt Ihr Deutschen festgestellt, dass Ihr fast zwei Millionen weniger seid, als Ihr angenommen habt. Damit liegt Ihr mindestens in jenem Trend, welcher sich gegen die Überbevölkerung der Erde zur Wehr setzt.
Audio
09:58 min, 9350 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 10.06.2013 / 11:04

Dateizugriffe: 340

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 10.06.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Deshalb möchte ich Euch bitten, noch einmal nachzurechnen, vielleicht erhalten wir dann ein noch günstigeres Resultat. Und falls euch die Hilfsmittel dafür fehlen, fragt mal bei der Stiftung von Bill Gates an, die haben sicher noch ein paar Zählrahmen, die eigentlich für Afrika gedacht waren.

Im Ernst, Kolleginnen und Kollegen, Ihr seid daran, Euren Ruf zu zerstören! Die ganze Welt kennt Deutschland als zwar eher bürokratische, aber gerade deswegen genau organisierte Gesellschaft. Und nun das! Was soll da werden, wenn die Kundinnen und Kunden plötzlich beginnen, ihre Siemens-Produkte auseinander zu schrauben, weil sie nicht mehr blind darauf vertrauen, dass die Steuerungen auch wirklich ihren Dienst tun? Oder die Seiteneinpark-Funktion in den Porsche-SUV und in den S-Klassen-Mercedes. All das steht und fällt doch mit dem Image deutscher Qualitäts- und Wertarbeit. Und dabei seid Ihr nicht mal imstande, Euch selber auch nur zu zählen! Und wie wollt Ihr Euch denn in dem Fall regieren?

Das war ein echter Tiefschlag, und ich bin mal echt gespannt, wie zum Beispiel die Chinesen darauf reagieren werden. Gegenüber der Schweiz haben sie sich zum Beispiel etwas Originelles einfallen lassen. Ihr kennt vermutlich das ganze Paket an Vorurteilen gegenüber China, das ungefähr von Menschenrechtsverletzungen über Umweltverschmutzung bis hin zu Kamel-, Schlangen- und Hundefleisch und mangelnder Hygiene und verseuchtem Milchpulver reicht. Nun haben unsere beiden ungefähr gleich großen Länder vor ein paar Tagen ein Freihandelsabkommen unterzeichnet, und umgehend teilt uns China mit, dass es nicht die Absicht habe, der Schweiz jene Schlachterei­ab­fälle abzukaufen, welche sich doch zum eigentlichen Exportschlager im Rahmen dieses Freihan­dels­abkommens entwickeln sollten. Grund: Die Hygienevorschriften in der Schweiz seien nicht streng genug oder würden von den Großschlachtereien nicht eingehalten... Ich muss sagen, dass ich ebenso überrascht wie erfreut war von diesem kleinen Scherz, mit dem sich China meines Erachtens ein weiteres Mal als große Kulturnation zeigt.

Ein weiteres Freihandelsabkommen werden wir demnächst wohl mit Russland schalten, diesmal im Rahmen der EFTA, der europäischen Freihandelsgemeinschaft, welche früher mal so etwas wie die Wirtschaftsgemeinschaft der Blockfreien war neben der Europäischen Union, aber unterdessen natürlich praktisch jede Bedeutung verloren hat mit ihren Mitgliedern, zu denen neben Andorra, Liechtenstein und San Marino vielleicht noch Norwegen zählt, neben der Schweiz, natürlich. Jedenfalls feiern Russland und die Schweiz nächstes Jahr den 200. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, und da ist mit etwelchen Feierlichkeiten eben auch auf der Ebene der Wirtschaftspolitik zu rechnen, was mit Sicherheit jene Ebene ist, auf welcher es sich am stabilsten und nachhaltigsten feiert. Das könntet Ihr in Deutschland doch auch einmal versuchen. Auf Dauer reicht es doch nicht aus, nur den Schrödergerd als personifizierte Wirtschaftsbeziehung zu Russland zu unterhalten. Macht mal einen Vertrag! Wie ich in einem jüngeren Enthüllungsbuch gelesen habe, kann Eure Kanzlerin sogar Kyrillisch. Anstatt dauernd ihre Stasi-Vergangenheit zu verleugnen, sollte sie hier, wo es doch endlich mal sein Gutes hätte, dazu stehen oder meinetwegen auch sitzend diesen kyrillischen Vertrag unterzeichnen: Freihandel mit Putin! – Übrigens ist Putin (Poutine) auf Frankokanadisch der Name eines Fast-Food-Menüs mit Pommes, Käse und Bratensoße. Hätte Québec eine eigene Regierung, so würde Russland die diplomatischen Beziehungen umgehend abbrechen, denn in dieser Beziehung versteht Putin eben gar kein Kyrillisch.

Aber zurück zu Eurer Bevölkerung. Offensichtlich schrumpft Ihr, Kolleginnen und Kollegen, und da stellt sich die Frage, ob Ihr Euch das überhaupt leisten könnt. Viele intelligente Warnerinnen und Warner haben schon auf die Tatsache verwiesen, dass ein lebendiger Organismus grundsätzlich nur so lange lebendig ist, als er wächst. Schrumpfen tut die Natur nur im Herbst oder im Obstkeller. Wollt Ihr das, geschätzte Kolleginnen und Kollegen? Deutschland im Obstkeller? Nehmt Euch mal ein Beispiel an der Schweiz. Die weist seit einem halben Jahr über 8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner auf, worunter sich zugegebenermaßen viele ZuzügerInnen aus Deutschland befinden, aber nichtsdestotrotz; wir beginnen unserem Nachbarn im Osten, den Österreicherinnen, Konkurrenz zu machen, die mit 8.5 Mio. in Reichweite gerückt sind, und irgendwann einmal pirschen wir uns an die ebenfalls neutralen Schweden heran, welche im Moment noch 9.5 Mio. Personen zählen. Dafür bräuchten wir also von Eurer Seite noch rund 1.5 Mio. Menschen, wenn möglich sehr gut ausgebildet und gesund. Vielen Dank zum Voraus.

Vielleicht nehmen Euch aber auch weitere Länder zum Vorbild. Stellen wir uns einmal vor, die Französinnen würden etwas genauer nachrechnen und herausfinden, dass sie nicht 65 Mio. Einwohnerinnen beherbergen, sondern bloß, sagen wir mal 61 Millionen. Damit würde doch die Arbeitslosenzahl drastisch sinken. Überhaupt bedeutet eine rückläufige Bevölkerungszahl direkt eine Abnahme aller Probleme. Die Endlösung aller Probleme haben wir somit bei einem Bevölkerungsstand von 0. Für die Wirtschaft ergeben sich daraus keine weiteren Konsequenzen, die ist sowieso voll automatisiert; bloß auf der Konsumseite stellen sich ein paar Fragen, die man aber mit einem geschickten Konjunkturprogramm sicher beantworten kann.

Aber sprechen wir von etwas anderem. Gegenwärtig läuft in einigen Kinos die Trilogie des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl unter dem Titel «Paradies». Den ersten Teil habe ich gesehen, er heißt Liebe und handelt von Sugar Mamas aus Österreich, geschiedene oder halbledige Frauen mittleren Alters, welche sich in Kenia von schwarzen Männern befriedigen lassen. Dieser Film hat mir gut gefallen. Er bietet eine sehr ausgewogene Mischung aus der genauen Beobachtung der Alltags-Grausamkeit, welche Ulrich Seidls Spezialität ist, und zwar sowohl die Beobachtung als auch die Grausamkeit als auch drittens die Darstellung der beiden, mit auf der anderen Seite Momenten der Gnade, wenn der Ausdruck erlaubt ist, also Augenblicke, in welchen die menschliche Existenz im Film ganz auf sich selber reduziert wird und ruht, und dies ist seltsamerweise meistens dort der Fall, wo die weiße Frau mit dem schwarzen Mann kopuliert und anschließend ebenso absolut entspannt wie absolut nackig auf dem Bett herumliegt beziehungsweise schläft, während der schwarze Mann sie beobachtet. Dieses eigenartige Gegengewicht zur Denunziation schlechter Weltumstände mit den daraus folgenden schlechten Charakterzügen trägt «Liebe» auf der ganzen Länge.

Den zweiten unter dem Titel «Glaube» habe ich nicht gesehen, mir aber von einer Vertrauensperson schildern lassen, und aus dieser Schilderung muss ich schließen, dass hier zwar erneut eine genaue Beobachtung eines österreichischen Charakters vorgenommen wurde, konkret einer gläubigen beziehungsweise bigotten Frau auf einer mehr oder weniger permanenten Bekehrungstour im österreichischen Inland; aber hier scheint jedes Gegengewicht zu fehlen, das die Betrachtenden zeitweise von der drückenden Last der dauernden Denunziation befreit. Damit zeigt Seidl die Welt und in ihr Österreich als Scheißhaus, was sie vermutlich zum Teil auch ist, aber leider ist mindestens der Nichtösterreicher nicht so gebaut, dass er mit solch einer Darstellung einen Umgang finden kann. Deshalb weise ich diesen Film zurück, ohne ihn gesehen zu haben und auch ohne am Vermögen von Ulrich Seidl zweifeln zu wollen: Die Beobachtung ist in Ordnung und die Darstellung auch, aber durch das Weglassen eines zentralen Gegengewichtes wird das Teil schlicht unkonsumierbar. Und das Medium Film ist nun mal ebenso ein Konsumgut wie jedes andere Medium auch; es muss einem Minimum an Konsumanforderungen entsprechen.

Ich werde die Probe aufs Exempel am dritten Film machen, «Hoffnung», und dann nicht zögern, mein Urteil auch an dieser Stelle bekannt zu machen. – Daneben sah ich mehr aus Zufall einen rund zehn Jahre alten Streifen, «L.A. Crash», der zwar in Kalifornien spielt, aber an und für sich europäische Darstellungsmodelle anwendet mit der Parallelführung mehrerer Handlungen, Rückblenden, verschiedenen Montagen und so weiter, so etwas stammt meines Wissens ursprünglich aus dem französischen Filmschaffen. In L.A. Crash spielt nicht nur europäisches Handwerk, sondern auch eine europäische Sichtweise eine Hauptrolle, indem nämlich das Grundthema die Frage des anhaltenden Rassismus ist. Auch hier kommt dem Gegengewicht eine zentrale Bedeutung zu; nämlich gibt es nach, sagen wir mal 60% des Films, in welchen sozusagen eine US-amerikanische Variante der Beobachtungen eines Ulrich Seidls abgespult werden, unvermittelt eine Kehrtwende, und es beginnen sich verschiedene Wunder zu ereignen. So wird der Rassismus eines weißen Polizisten schon von Anfang an erklärt mit seiner schwierigen familiären Lage und einem pflegebedürftigen Vater, der nicht richtig versorgt wird, weil er nur in der allgemeinen Krankenkasse versichert ist; nach den ersten 60% des Films aber rettet genau dieser weiße Rassist ausgerechnet seinem Opfer aus dem ersten Teil das Leben, und so werden in diesen zweiten 40% fast alle Rollen auf den Kopf gestellt, der vermeintlich gute weiße Cop erschießt einen weitgehend harmlosen schwarzen Kleinkriminellen, welcher erst noch der Bruder des ermittelnden Inspekteurs ist, der wiederum von einem Vorgesetzten mit seinem Alltagsrassismus kujoniert wird, und so weiter und so fort; dieser Film lohnt eine Visionierung, und wenn man ihn sich auch aus einer Videothek beschaffen müsste oder vielleicht über Video on Demand bestellen kann.