"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Gedichtete Dichtung -

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Gibt es zu deutscher Lyrik etwas zu sagen?
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08:18 min, 15 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.06.2013 / 09:09

Dateizugriffe: 672

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 25.06.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Als ich letzthin in einer kleineren Buchhandlung an der Lyrik-Ecke vorbei kam, wurde mir durchaus seltsam, indem dort auf einem ansonsten leeren Regalbrett vorn am Eck fünf Bändchen ihr Dasein absolvierten. Ist es nun das, was von den Dichtern geblieben ist, Deutschland, rief ich innerlich ziemlich laut, nachdem deine Denker schon längst zur Physik übergewechselt haben? – Dabei war ich mir bewusst, dass die Präsenz der Lyrik in diesem Regal zwar der kommerziellen, aber durchaus nicht der kulturellen Realität im Sprachraum entspricht, denn hierzulande wie auch anderswo wird gedichtet, dass es eine Art hat, und das Zeuchs wird sogar gedruckt, und seit es ein Internet gibt, können wir uns die Tage und Nächte vertreiben mit Dingen wie jenem von einem Bernd Tunn, in welchem dieser seinen Dienst auf einem Eisbrecher veredelt:

Er rumpelt leicht.
Durchpflügt das Eis.
Mannschaft wacht.
Um Gefahren weiß.
Schiff weit draußen
steckt tief fest.
Keine Rinne denn
Eis ist sehr fest.
Eisbrecher naht.
Bricht Rinne frei.
Der Kaffee dampft
morgens um Drei.
Dumpfes Signal
als Dank gedacht.
Mannschaft winkt,
befreiend lacht.
Oft lange Wache
viel zu tun.
Kaum Chance
sich aus zuruh'n.
Ein endloser Winter.
Kampf gegen Gewalten.
Eisbrecher Einsatz
in Ehren gehalten.

Das also sind die Ringe des Lebens, von denen uns Rainer Maria Rilke erzählt. Meiner Ansicht nach ist das kontrovers. Die moderne offizielle Hochlyrik im Stil von Durs Grünbein oder Jan Wagner ist natürlich ungleich bedeutender, beziehungsweise sie ist überhaupt bedeutend, sie raunt, rummelt, ächzt und schluchzt manchmal, aber in erster Linie ist sie bedeutsam. Sie bedeutet, und zwar in stetem Kampf gegen die Regeln des Satzbaus, gegen welchen sie in erster Linie die Form einsetzt, nämlich die Strophen-Form, mit welchem man dem Satzbau immer dann ein Schnippchen schlagen kann, wenn er sich wieder einmal heimlich eingenistet hat.

Ich habe an dieser Stelle schon ab und zu davon gesprochen, nun packt mich aber, geschätzte Hörerinnen und Hörer, die unbändige Lust, es auch einmal selber zu versuchen, und deshalb hört Ihr in den nächsten Minuten so was von Lyrik, dass es euch hinter den Ohren schwindeln wird.


Der Bäcker heißt Eder, der Fleischer Hanswurst
Dazu kriegt ein jeder ein Bier gegen’n Durst
Die Spinne ist Lisa, der Weber ein Wurm
Und dann steht in Pisa so’n Turm, der ist krumm

Vom Lachen gibt’s Falten und trockene Haut
Vom Schmunzeln gibt’s Runzeln, das ist nicht so laut
Die Türe zum Keller klemmt schon seit zwei Jahr
Der Bratn auf dem Teller ist wieder nicht gar

Wir schindeln die Windeln, wir wickeln das Brot
Mit Streichhölzern zündeln bringt Sorge und Not
Die röhrenden Möhren verrecken im Dreck
Wir hören und schwören auf Dreiländerspeck

Die wenigsten Menschen scheißen aufs Kissen
Vom Affen werden nur Affen gebissen
In den Falten der Alten versteckt sich die Lust
Und äußert sich manchmal mit nem Kuss auf die Brust

Na, da seid Ihr aber platt, was? – Ich ja auch. Und weiter geht’s:

Der Elefant trägt mit seinem Rüssel
Ne Fernseh-Satellitenschüssel
Das Bild ist eigenartig verzerrt
Ich glaub, er hält das Teil verkehrt

Auf seinem Rücken verkauft ein Affe
Doppelt gebrühten Filterkaffee
Der Aff trägt einen weißen Kittel
und preist das Zeuchs als Abführmittel


Und jetzt etwas leiser und sehr lyrisch:

Ick höre neue Töne
Noch unbestimmt und fein
Eh ich mich dran gewöhne
Schlaf ich schon wieder ein

Ein grauer Herr und ein grauer Hund
Die sah ich eben spazieren
Es schien, als würde das graue Tier
Den alten Besitzer führen

Und zwischendurch mal ohne weitere Reime:

Gestern zogen Wolken in großer Geschwindigkeit nach Süden, als hätten sie einen dringenden Termin
Heute eilen sie ebenso schnell in die Gegenrichtung, zurück oder sonst wo hin
Will mir der liebe Gott etwas sagen?

Aber so ein Reim hält natürlich die Sache schon besser zusammen:

Ach, sind diese Nächte
Lüstern wie ein Traum
Halt ich deine Brüste
Rieche ich dich kaum


Will dir alles geben
Was ich wirklich will
Und dabei versinken
Halte bitte still

Nein, das ist irgendwie nicht so richtig ringhaft schwebend oder dinghaft dichtend. Ein neuer Ansatz:

Welche ein seltsames Gefühl, im Dunkeln zu sitzen
locker und lächelnd und schon fast galant
im lang anhaltenden Schweigen zwischen zwei Blitzen
und mit einer Zeitung in der Hand

Träg bewegen die Schweine ihre Zitzen
sie haben den Fütterer längst erkannt
und pressen die Schnauze an die Ritzen
trompetend wie ein kleiner Elefant

Die Hamburger mit den Prinz-Heinrich-Mützen
haben meist einen ziemlichen Brand
und deswegen haben sie meist einen sitzen
und sind so bis zum Kotzen elegant

Die Zeitung zwischen den Fingerspitzen
setze ich selber mich sozusagen an Land
welch ein seltsames Gefühl, im Dunkeln zu sitzen
mit offenen Ohren und wachem Verstand

Sehr gut für einen Schlagertext eignen würde sich dagegen das folgende Teil mit dem Namen

Gecko

So einen Schnauz, so einen Bart,
Rasiert auf Halbmast, Herrenart,
Ein dünner Strich durch Wange und Gesicht
Der Bart verrät: Den Mann, den kennt man nicht.

Wie sollte ich so einen Mann verstehn,
Ich kann ihm nicht mal auf die Nase sehn
So bleich ist das Gesicht, so dunkel seine Stirn
So schmal der Bart, was ist das für ein Hirn

Der Mann trägt einen dünn geschnittnen Bart an seinem Kopf
Ne dunkle Sonnenbrille, hochgeschoben in den Schopf,
Ein dichter Rossschwanz hinten, unten einen Bauch
Und drahtlos sprechen tut er auch.

Indem er steht und geht und spricht, ist er sehr wichtig
Doch sieht man auch: Er ist gar nicht so richtig
Mit so nem dünnen Kinn- und Oberlippenhaar
Lässt man ihn besser stehen, wo er war.


Nicht ganz sicher bin ich mir bei den folgenden Stücken:

Permanent

Will ich mich setz
Isser Stuhl nass
Oder die Feder kragt aussem Sofa
Ist dir was?

Kaum einen Montag
Ohne ich krank
Hätte ich im Lotto gewonnen
Dann Gott sei dank.

Ihm ich in Bar auf Nerven gegang
Zuviel geredet, hat er gesagt, oder zu laut
Ich nahm mich dann in der Folge zusamm
Anderswo geschaut.

Frau, bring Stuhl, aber ganz
Ich sonst ganz krank fall um
Nur in der Fremde Strahlenkranz
Wir zusammen jung.

Momentan keine Melodie.

Alimente

Bistu schon schwang?
Aba nit von mia!?
Hilfe! - Schon lang
Nicht mehr schlaf mit dir!

Was? Acht Monat?
Ja, kann sein.
So lang schwang?
Oh mei -

Was jetz mach?, und:
Bist zusammen
Mit anderen Mannen?
Sach!

Du willst keine Familie,
Du willst nur Geld.
Ist Kind auch meins
Wenns mir gefällt?

Du bums rum, bums mit mir
Jawohl, aber dann mach Schluss
Ich nicht wuss
Dass du Kind von mir.

Was? Eintausend?
Was? Im Monat?
Zwanzig Jahre lang!
Bleib mich verschonat!
Nächstes Mal besser
Statt gebums, geklonat!

Ich hab kein Geld!
Lass fühlen dein Bauch.
Ach, das zappelt ja -
Gehörts mir auch.

Kommentare
30.06.2013 / 00:07 hikE, Radio Unerhört Marburg (RUM)
wird 1.7. in der Frühschicht
gesendet. Danke!