"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Glaube an die Demokratie

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Zufällig bin ich auf ein Video gestoßen mit der Ansprache eines Herrn Rabbi Michael Lerner an­läss­lich der Beerdigung von Mohammed Ali, und falls Ihr Euch das ebenfalls zu Gemüte führen möchtet, könnt Ihr das sicher irgendwo auf Youtube nach-sehen, ich fand es jedenfalls sehr bewe­gend und durchaus pikant, wie der Herr Lerner einen ganzen Saal voll schwarzer Moslems zu ste­hen­den Ovationen veranlasste, selbstverständlich mit alten Heulern wie der Kritik an der Besat­zungs­politik Israels und den Vorwürfen an die Machtelite, welche im Saal ebenfalls toll reprä­sentiert war, unter anderem in der Person von Herrn Bill Clinton, demnächst bald die First Lady oder der First Husband im Weißen Haus, aber auch mit Respektbekundungen gegenüber den Mos­lems, die man nicht wegen Al Kaida und dem Islamischen Staat unter Generalverdacht stellen dürfe, in erster Linie aber natürlich mit der Ehrung von Muhammed Ali als Frontmann der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung und mit der Verneigung vor dem persönlichen Mut, den es damals, zu dieser Zeit brauchte, als öffentliche schwarze Person die Antikriegs-Haltung zum Ausdruck zu bringen.
Audio
11:47 min, 22 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 14.06.2016 / 15:03

Dateizugriffe: 2221

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 14.06.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Daneben verschoss Rabbi Lerner ein paar Granaten gegen die Wirtschaftsinteressen, welche die US-amerikanische Politik sponsern durch die Parteienfinanzierung, selbstverständlich in erster Linie die demokratische Präsident­schafts­kandidatin Hillary Clinton, gegen die schreiend ungerechte Verteilung des Reichtums, und er forderte die Vereinigten Staaten dazu auf, sich nicht als Weltpolizist, sondern als Vorreiter einer friedlichen und gerechten Gesellschaft einen Namen in der Geschichte zu machen. «Wir wollen uns hier bei uns und überall auf der Welt daran machen, Armut und Obdachlosigkeit, Hunger, die Mängel bei Ausbildung und im Gesundheitswesen ein für allemal zu beenden», sagte er und rief alle fortschrittlichen Kräfte dazu auf, sich diesem Projekt anzuschließen.

Eine sehr schöne Ansprache. Viel wird sie nicht bewirken, aber hin und wieder tut es gut, solche Worte zu hören und die Anteilnahme der Zuhörerschaft zu spüren, eine Anteilnahme, welcher unsereins unter normalen Umständen eher skeptisch gegenüber steht, weil wir davon ausgehen, dass die Vernunft dem Gefühl und erst noch dem Massen-Gefühl vorgeht, und darin haben wir selbstverständlich recht. Aber bei einer Beerdigung darf man doch zwischendurch auch mal wieder ein paar große Worte aus dem Sack nehmen. Gut gemacht, Rabbi Lerner.

Ansonsten ist in den Vereinigten Staaten jetzt alles bereit für das große Rennen zwischen Frau Clinton und Herrn Donald Trump, das jeden vernünftigen Menschen nur insofern interessieren kann, als man wirklich wissen muss, wie weit die Präsidentschaftswahlen als eigentliches Hochamt der amerikanischen Demokratie von durchdringender und offensichtlicher Blödheit bestimmt werden können. Es handelt sich um den Aufstand des absolut inhaltsfreien Populismus gegen das Establishment. Und das ist einmalig und aufs höchste spannend, weil sich daraus selbstverständlich Aussagen über die Demokratie in ihrer aktuellen Form ergeben. Der italienische Schauspieler und Regisseur Roberto Benigni, der mir als halbwegs ironischer Politkommentator deutlich besser gefällt denn als Schauspieler und Regisseur, ich erinnere hier wieder mal an den absoluten Tiefpunkt, den Kelvinschen Nullpunkt des Filmschaffens «Il mostro», aber eben, Benigni hat nicht zu Unrecht festgestellt, dass Italien nach wie vor ein wichtiges Exportland sei, jetzt habe man nämlich den Berlusconi-Stil in die USA verklickert. Tatsächlich ist Trump wie Berlusconi ein Mann ohne politisches Programm jenseits der eigenen Interessen und mit Haupthaar. Und Berlusconi ist jener Mann, der sich im Nachkriegsitalien länger an der Macht gehalten hat als irgend ein anderer, vernünftiger oder unvernünftiger Politiker der Democrazia Christiana oder der Sozialdemokratie. Insofern war Berlusconi vielleicht nur die Hauptprobe, und die Geschichte wiederholt diesmal die erste Farce als zweite, reale Uraufführung. Mal sehen.

Es gibt jedenfalls wieder mal ein paar Gründe, den Glauben an die Demokratie als eine Staatsform mit voll ausgebildeten und mündigen Bürgerinnen und Bürger zu verlieren, und genau aus diesem Grund wollen wir genau dies nicht tun, nämlich den Glauben verlieren und die Leute als Trottel verspotten, auch wenn es immer wieder Anzeichen dafür gibt und wenn die Perversion des demokratischen Systems manchmal sogar flächenweise auftritt, zum Beispiel im Ostblock der EU, in Ungarn und auch in Österreich. Da muss man einfach stur bleiben und durchhalten und gerade in solchen Zeiten aufstehen wie Muhammad Ali und sagen: Doch, eine richtige Demokratie ist möglich, und zwar eine, welche weit über jenes Affentheater hinaus geht, das uns im Moment in den am weitesten entwickelten Formen geboten wird, also im sozialdemokratischen Kabarett. Das sozialdemokratische Demokratietheater ist selbstverständlich den anderen Kaspereien bei Weitem vorzuziehen, aber es handelt sich hierbei in keiner Art und Weise um die letzte Entwicklungsstufe der Menschheit, der Gesellschaft und des Staates. Ich bitte, diesen Kernsatz immer in Erinnerung zu halten.

Letzte Woche sind wir ein paar Mal mit den Ferrovie del Sud Est durch den Süden von Apulien gefahren, und zwar zum Teil in Rollmaterial, das aus der Zeit vor der Erfindung der Dampf­ma­schine stammt mit Fenstern, die derart blind und stumpf waren, dass man nicht mal mehr die Gegend richtig begutachten konnte, wobei das zum Teil vielleicht auch besser war, weil man so das Elend der absterbenden und umgesägten Olivenbäume nicht so gut wahrnahm. Das Feuerbakterium Xylella hat ganze Arbeit geleistet. Kürzlich hat der EU-Gerichtshof bestätigt, dass man alle Bäume im Umkreis von 10 Metern eines befallenen Baumes ebenfalls absägen muss, was selbst­ver­ständ­lich bei der Regionalregierung umgehend zu Protesten und zu Klagen bei einem regionalen Gericht geführt hat, auch wenn völlig klar ist, dass diese Klagen ebenso aussichts- wie sinnlos sind, denn so würde man ja bloß zur weiteren Verbreitung beitragen. Aber in Italien wie anderswo werden solche Klagen halt vor allem als PR-Instrumente verwendet, um der regionalen Bevölkerung aufzuzeigen, wie kompetent und engagiert die Regierung doch ihre Politik im Interesse der Wählerinnen und Wählen macht. Die historisierenden Bahnwagen umgekehrt sind der Ausdruck davon, dass die FSE seit ihrer Gründung oder vielleicht auch erst seit Ende des Zweiten Weltkrieges praktisch aufgehört hat, in Trassen und Rollmaterial zu investieren. Stattdessen flossen die Gelder zweifellos in die Taschen der Bahnführung, vermutlich zum Teil auch befreundeter Unternehmerinnen und Politike­rin­nen, und aber vor allem auch in Lohnzahlungen an das Personal dieser Gesellschaft, welches so mehr oder weniger wie in einem Arbeitsbeschaffungsprogramm aus den Statistiken der Arbeitslosenversicherung heraus gehalten werden konnte. Gegenwärtig versucht man diese FSE gerade irgendwie zu verkaufen, was ein bisschen schwierig ist, weil es keinen ernsthaften Interessenten für eine Firma gibt, deren Anlagen nicht mal mehr als Spielzeugeisenbahn Gebrauch finden täten. So kommt am Schluss nur noch die staatliche italienische Eisenbahngesellschaft in Frage. Offiziell beläuft sich der Schuldenberg der FSE auf 350 Millionen Euro, aber ich bin hundertprozentig sicher, dass es das Doppelte ist, weil die FSE mit Garantie jeden dieser industrie­archäologischen Personenwagen aus dem 18. Jahrhundert mit einem Buchwert von 10 Millionen Euro in der Bilanz führt und auf den Bilanzwert schon längstens einen entsprechenden Kredit aufgenommen hat, um eben die Löhne der Direktion, die Freundschaftsgelder für Freunde in Industrie und Politik sowie vor allem die Gehälter der Beschäftigten zu bezahlen.

Mir ist das an und für sich wurscht, ich fahre gerne auch unter absurden Umständen Eisenbahn, aber die Grenzen meiner Toleranz sind dort erreicht, wo ich an einem Billettschalter stehe, hinter welchem sich auf der anderen Seite des Glases drei Beamte unterhalten, von denen der eine im Stuhl am Schalter sitzt und mir geradeaus und ostentativ den Rücken zudreht, während er mit einer Büroklammer versucht, einen USB-Steckschlitz von einem offenbar abgebrochenen USB-Stecker zu reinigen. Ich weiß nicht, was mich daran mehr abstößt, das Verhältnis zur Technik beziehungs­weise zur Infrastruktur, das sich mit dieser Büroklammer manifestiert, oder das Verhältnis zu so etwas wie Dienstleistung an einem biologischen Wesen so niedriger Ordnung wie einem Bahn­rei­senden, jedenfalls gehe ich davon aus, dass die Due Diligence der italienischen Eisenbahnen zum entsprechenden Ergebnis kommen wird, worauf man sich auf den entsprechenden Schuldenerlass einigen wird, worauf der Betrieb dann, unter Vermeidung von Entlassungen, selbstverständlich, in ein paar Jahren unter halbwegs modernen Umständen fortgeführt werden kann. Und weiter gehe ich davon aus, dass sich in der Haltung dieser drei uniformierten Herren am Schalter der FSE in Gallipoli ziemlich exakt das ausdrückt, wofür die Gewerkschaften in Italien und in Frankreich jeweils demonstrieren, wenn ihnen der Zeitpunkt dafür gerade richtig erscheint, was durchaus unterschiedliche Gründe haben kann; in Frankreich versuchten die Damen und Herren natürlich, die Fußball-Europameisterschaften zu instrumentalisieren, um den größtmöglichen Druck auf die Regierung Valls und auf Präsident Hollande auszuüben, und dass sie dabei unterstützt wurden von jener Bewegung von Eintagesfliegen, welche nach Occupy Wall Street jetzt halt «Nuit Debout» heißt, das versteht sich von selber, und hier bin ich eigentlich nur mit jener Deutsch-Übersetzung nicht einverstanden, welche ich kürzlich gelesen habe: Die Nacht der Aufrechten. Das ist natürlich Quatsch, Nuit Debout heißt einfach, wir gehen nicht zu Bett, bevor der Morgen graut.

Was die hier engagierten Französinnen und Franzosen wirklich wollen, ist mir schleierhaft; jeden­falls scheinen sie eine bürgerliche oder rechtsextreme Regierung zu bevorzugen, sonst würden sie nicht die halbwegs sozialdemokratischen französischen Sozialisten derart zu demontieren versuchen. Wenn sie wenigstens ein Programm hätten! Wenn sie wenigstens für eine echte Demokratisierung der französischen Scheindemokratie protestieren würden! Wenn sie wenigstens eine Anpassung der Gesetze und Institutionen an die Realitäten der modernen globalisierten Produktions- und Arbeitswelten fordern täten! – Aber dazu scheinen die linken geistigen Kräfte nicht mehr zu reichen, nachdem sie vom jahrzehntelangen Schwurbeln à la Bourdieu und Konsorten offenbar jetzt doch komplett ausgelaugt sind. Dies ist übrigens in gewissem Sinn auf intellektueller Ebene ein ähnliches Phänomen wie der Bahnbetrieb der FSE beim Eisenbahnwesen.

Und dann haben wir noch den heran eilenden Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Leider, fürchte ich, wird Eure Frau Bundeskanzlerin auch bei diesem Anlass kühlen Kopf bewahren und versuchen, zusammen mit den anderen EU-Ländern ein vernünftiges Verhältnis mit der Ex-EU-Insel fortzuführen, als wäre nichts gewesen. Ich selber wäre da anders, ich würde sagen, dann scheißt doch mal ruhig dort, wo ihr esst, ihr Lackaffen. In erster Linie würde ich riesige Umfahrungsautobahnen für den Finanzplatz London bauen. Aber auf Frau Merkel ist Verlass, das ist keine solche Kriegsgurgel, wie ich es in gewissen Momenten bin. Übrigens nicht nur ich: Ende letzter Woche gab es eine Veranstaltungsreihe, bei der unter anderem der Gründer der Zeitung Repubblica, Eugenio Scalfari, mit dem Regierungschef Matteo Renzi diskutierte. Dieses Gespräch lancierte der Veteran der italienischen sozialdemokratischen Denktradition mit dem provokativen Satz: Wir sollten innerhalb der EU eine große antideutsche Koalition bilden. Der Mann hat definitiv einen Altersschaden. Na gut, er hat auch schon 92 Jahre auf dem Konto.

Kommentare
14.06.2016 / 23:06 Max, coloRadio, Dresden
gesendet...
...heute in einer sonst leeren Sendestunde zusammen mit weiteren Beiträgen aus dem FRN. Vielen Dank und viele Grüße nach EF!