"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Google Auf gut Glück

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Auf der Google-Webseite gibt es ein Feld oder einen Knopf, den ich nie richtig begriffen habe, er heißt «Auf gut Glück!», und wenn man den anklickt, kommt man beziehungsweise komme ich im konkreten und Anwendungsfall auf eine Seite mit einem Doodle-Archiv mit dem Hinweis auf den 45. Jahrestag der Erstausstrahlung von «El Chavo del Ocho», zum Beispiel, oder auf einer weiteren Feld- oder Knopf-Einladung mit dem Rubrikentitel «Interaktiv» könnte ich mir die Spiele, Videos und Spielzeuge von Google ansehen, und da mich Google-Spielzeuge brennend interessieren, kreuze ich hier mal kurz auf und finde den 117. Geburtstag von Lotte Reiniger am 2. Juni 2016, Doodle 4 Google 2014, zum 245. Geburtstag von Ludwig van Beethoven am 17. Dezember 2015, zum 151. Geburtstag von Wilbur Scoville am 22. Januar 2016, 360. Geburtstag von Bartolomeo Cristofori am 4.5.2015, 151. Geburtstag von Nelly Bly am 9. März 2016 und Internationaler Frau­en­tag 2016 am 8. März, weiter unten dann den Tag der Erde 2013 am 22. April 2013, Halloween 2013 am 31.10.2013 und natürlich und vor allem den 82. Geburtstag von Zlatko Grgic am 21. Juni 2013.
Audio
12:02 min, 28 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 21.06.2016 / 19:47

Dateizugriffe: 2114

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 21.06.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Neben Halloween 2012 vom 31. Oktober 2012 möchte mich vielleicht noch der 125. Jahres­tag der größten Schneeflocke interessieren am 28.1.2012, huschhusch, hinein geklickt, aber ich er­halte da nur die Reichweite dieses Doodles, nämlich den nordamerikanischen Kontinent und die Ex-Insel oder Exit-Insel, nicht aber irgendwelche Angaben zum memorablen Auftauchen der mit dreieinhalb Quadratkilometern eben größten flächenmäßigen Ausdehnung einer Schneeflocke im Jahr 1887, und nun wird mir alles klar: Der Link von «Auf gut Glück» hat mich zur Kollektion sämtlicher Google-Logo-Variationen geführt, die jemals aufgeschaltet wurden. Gut zu wissen, und was am Anfang etwas Irritation auslöst, zum Beispiel wegen der lautlosen Frage, weshalb diese Google-Logo-Variationen Doodles heißen, was bei mir für eine Termin-Koordinations-Webseite steht, oder der ebenfalls lautlosen Frage, was solche Google-Doodles zu tun haben mit interaktiven Spielen, Videos und Spielzeugen von Google, auf welche auf meinem Radar und interaktiven Zukunftshorizont ebenfalls keine Antwort ersichtlich ist, führt am Schluss zu einem konsti­tuie­renden Irrtum des menschlichen Universums: Es soll nichts vergessen sein, solange es Menschen gibt, wird es immer irgend einen Trottel geben, welcher sich an den uruguayischen Fußballspieler Pablo Dorado erinnert, der am 22. Juni 1908 zur Welt kam. Alles, was sich je ereignet hat, ist in einem unendlichen Massenspeicher abgelegt, der Geschichte heißt, und alles, was sich jemals noch ereignet wird, ist in einem anderen unendlichen Massenspeicher abgelegt, der Zukunft heißt, und die Gegenwart arbeitet endlos daran, die Ereignisse von einem Massenspeicher in den anderen hinüber zu schaufeln.

Nun, das ist offensichtlich purer Unsinn. Nicht dass die Gegenwart laufend Zukunft in Vergan­gen­heit umarbeitet, diese Realität konstituiert tatsächlich unser aller Leben, aber dass man sich wirklich an alles erinnert, das ist rein physiognomisch unmöglich, und ich meine hier nicht eine einzelne Menschen­person, sondern die Menschheit als Ganzes. Was ist, um ein beliebtes und deshalb auch etwas beliebiges Beispiel zu nehmen, mit den Armeniern, die nach 20 Jahren andauernder Angriffe und Schikanen, unter anderem durch die Kurden, im Jahr 1915 zu Tausenden von den Türken umgebracht wurden? Erinnert sich die Menschheit oder die Geschichte an alle Einzelschicksale, auch an die Kleinkinder, an die Familien, die ausgelöscht wurden, ohne eine Spur zu hinterlassen, weil die Dorfarchive abgebrannt wurden, soweit es sie überhaupt gegeben hatte? Was ist mit den nordamerikanischen Indianern, welche von der US-Armee und vor allem von den Landräubern, welche den europäischen Auswanderern und Siedlern voran zogen, komplett ausgerottet wurden? Was ist mit den Mayas, welche ihrerseits ganze Völker vernichtet hatten und aus Anlass der Entdeckung oder Erfindung oder Eroberung Mittelamerikas von der Landkarte verschwanden? Und was ist mit unseren eigenen Vorfahren, deren Geschicke, soweit es sich nicht um Mitglieder von mächtigen Familien handelt, ebenfalls irgendwo im Schlick der Vergangenheit versunken sind mit nur geringen Chancen auf eine Wiederentdeckung im Rahmen künftiger archäologischer Forschungsaktivitäten? – Nichts. Das, woran wir uns erinnern, ist entweder Hagiographie, also das Notat der Mächtigen, oder aber nackter Zufall. Und ich glaube nicht, dass sich dies mit der Inbetriebnahme immer potenterer physischer Massenspeicher, in welchen tatsächlich alle Existenz­formen auf der Erde praktisch lückenlos begleitet und abgelegt werden, an diesem Nichts etwas ändert, auch wenn es per Saldo die Gestalt des Alles annimmt. Alles ist nichts anderes als eine weitere Bezeichnungsform von Nichts, soviel haben wir schon vor der Relativitätstheorie gelernt, beziehungsweise die Relativitätstheorie ist nichts weiter als ein Versuch, dieser ehernen Gleichung durch ein paar Winkeladvokatenzüge zu entkommen.

Sei’s drum. Während ich also ein bisschen belämmert vor meinem Google-Bildschirm sitze und mich angesichts der Vergänglichkeit von Armeniern, Indianerinnen und meiner eigenen Vorfahren eine leichte Wehmut befällt, stelle ich fest, dass in unserer aktuellen Weltöffentlichkeit die Wehmut beziehungsweise die Melancholie grad keine sehr große Konjunktur hat. Soweit sie einen Hang in Richtung Depression zeigt, was Melancholie und Wehmut nun mal einfach an und in sich haben, werden diese Gemütslagen frühzeitig von Psychologen und Psychiatern erkannt und behandelt und natürlich im Bedarfsfall, der immer dann ausgerufen wird, wenn ein Bedarf vorhanden ist, weg gespritzt beziehungsweise mit Tabletten bekämpft. So eine richtige Melancholie oder auch Schwer­mut scheint, gemessen an den Mitteln, welche man zu ihrer Bekämpfung aufwendet, eine Bedro­hung unserer aktuellen Gesellschaft zu sein, welche nur knapp hinter dem Terrorismus und Wla­dimir Putin rangiert. Auf der medikamentösen Seite bedeutet dies, dass die Gesellschaft zunehmend unter Drogen gesetzt wird, was dem Ideal der LSD-Erfinder immer näher kommt, welche dieses Halluzinogen ja bekanntlich noch dem Trinkwasser beigeben wollten; in der Praxis sind wir nicht mehr weit davon entfernt, bloß hat bisher noch keine Fraktion in der pharma­zeu­tischen Industrie den Mut aufgebracht, sich offen zu den Vorteilen der Halluzination zu bekennen, vermutlich vor allem aus dem Grund, weil dann immer stärker zu Tage treten würde, dass bereits unser aktuelles Sozialsystem nichts anderes ist als eine einzige große Halluzination.

Die Soziologen pflegen so etwas ein Konstrukt zu nennen, aber ich denke, die Bezeichnung Hallu­zi­na­tion ist absolut zutreffend, sie erfasst nämlich zunehmend präzise auch jene Komponente, dass dem durchschnittlichen Individuum die begriffliche Herrschaft über sämtliche Aspekte dieser Gesellschaft, der Gegenwart und damit also des Transformationsprozesses von Zukunft in Vergangenheit entschwindet. Wenn man nun die Drogen nicht richtig dosiert, bildet sich ein dumpfes Bewusstsein dieses Mangels aus, und weil man ihn wegen der falschen Dosierung eben auch als Mangel wahrnimmt, versucht man ihn zu bekämpfen, und da fallen dem begriffslosen Individuum dann nur Begriffe in den Schoß wie Nationalismus, Flüchtlinge raus, was hat der andere Trottel gerufen, als er Jo Cox umgelegt hat: Britain first, oder vielleicht noch das Vokabular des kleinen Antiimperialisten. Ich behaupte hier: Mit einer richtigen Dosis LSD im Trinkwasser gäbe es all diese Phänomene nicht. Aber vielleicht wäre auch eine Therapie in die andere Richtung Erfolg versprechend, nämlich die Abkehr von der Verteufelung der Melancholie.

Ich lese gerade einen bald 30-jährigen Roman von Antonio Munoz Molina, «Der Winter in Lissabon», und dieses Werk ist in Melancholie richtiggehend getränkt. Sie trieft zwischen den Fingern aufs Knie, sie steigt als feuchtkalter Dampf in die Nase. Die Trauer über die Unmöglichkeit zweier Menschen, sich in ihrer Liebe nahe zu kommen, die Erfüllung zu finden, bildet den Klotz am Hals und am Fuß des Erzählers ebenso wie des Lesers. Ich meine im Übrigen, ein Echo dieser Melancholie auch in neueren Stücken gelesen zu haben, namentlich bei Carlos Ruiz Zafòn in seiner Trilogie vom Friedhof der vergessenen Bücher, womit wir beiläufig auch schon wieder bei einem Kardinalpunkt der Melancholie angelangt sind, beim Vergessen, und erneut haben wir hier einen Massenspeicher alles Vergangenen, und zwar bereits sub specie des Vergessenen, und zwar einen eigenartigen Massenspeicher insofern, als ja demnächst keine Bücher mehr gedruckt werden, sondern nur noch in elektronischen Staatsarchiven abgelegt, auch dies ein melancholisches Thema par excellence, die Welt entschwindet einem zwischen den Fingern, bloß wird anhand dieses Bücher-Themas niemand zum AfD-Wähler oder zündet Flüchtlingsheime an.

Mindestens noch nicht. Die Vorstellung ist dann wieder poetisch, dass die Nazi-Knorpel in Zukunft Rilke zitieren werden bei ihrer Suche nach der verlorenen Herrschaft über die Welt, zum Beispiel: «Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Hunde los. Wirf deine Fackeln in die Flüchtlingsheime und schau, im lodernden Zerbrechen der Gläser und im Widerscheine der Flammen auf den Fratzen unsrer Volksgenossen, wie sie jetzt zechen und sich dann erbrechen und heimlich hinterm Hag die Hosen runterlossen.» Nein, so etwas wird nicht passieren in einer Kultur, welche sich dem Kampf gegen die Melancholie verschrieben hat.

Ach ja, ihr seht, die Welt ist schwierig im Zeitalter von Google und gut Glück. Mein eigenes Problem hier und heute ist es, dass ich eigentlich gar nichts sagen möchte, bevor die Abstimmungs­ergebnisse über den Austritt von England aus der EU nicht bekannt sind. Grundsätzlich ist es ja eine gute Sache, dass sich die Bevölkerung über solche Dingens wie die Mitgliedschaft bei Europa ausdrücken darf. Allerdings müsste man bei Gelegenheit noch eine Instanz einrichten, welche mindestens für die alleroffensichtlichsten Lügen, wie zum Beispiel, dass England mehr Geld in die EU einzahlt als dass es heraus bekommt, irgendeine Sorte von corporal or mental punishment verhängt. Daneben darf man auch bei dieser Gelegenheit wieder mal erwähnen, dass es in allen Ländern, also nicht nur in den rechtsnationalistisch befallenen, in all den Jahren der Existenz der EU immer eine große Mehrheit an PolitikerInnen gab, welche aus dem Anti-EU-Reflex ihr Kapital schlugen und welche diesem Anti-EU-Reflex damit erst recht jene Grundlage verschufen, die sich jetzt in England äußert. Das gilt für Deutschland ebenso wie für Frankreich, Italien und natürlich Dänemark. Bloß für ein Land gilt es nicht: für die neutrale Schweiz, welche sich auf Anordnung der EU-Eliten hübsch aus dieser Sache heraus gehalten hat, damit mitten in Europa ein Raum entsteht, wo EU-Recht eben nicht zwingend gilt. Dass der Promotor dieses rechtsfreien Raums ein Wirtschaftskapitän ist, welcher gut von EU-Geldern lebt und sich als Milliardär aufspielt, als wäre er ein abgerissener Pachtbauer, das gehört ganz selbstverständlich zur Pracht der Gegenwart, welche wir in diesem konkreten Fall sehr gerne in Vergangenheit umgewandelt und nach Möglichkeit nirgends abgespeichert sehen würden. Aber auch dieser Wunsch geht wohl nicht in Erfüllung.