"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Da haben wir also den Salat

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Da haben wir also den Salat, die schöne große europäische Idee liegt in Trümmern, und wir können uns daran machen, in Ruhe den nächsten Weltkrieg vorzubereiten, eines aber sage ich jetzt schon, die neutrale Schweiz wird sich heraus halten. Und nun zurück zum Tagesgeschäft.
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10:47 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 28.06.2016 / 19:25

Dateizugriffe: 2335

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 28.06.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die Austrittsverhandlungen für, mit und dann ohne Großbritannien nehmen zwei Jahre in An­spruch, und weitere drei Jahre dauert es, bis die neuen Vertragsgrundlagen für die Beziehungen mit der EU auf allen Ebenen erstellt worden seien. So schön oder wenig schön das auch ist, die rea­lis­tische Angabe zeigt, dass die Umsetzung des englischen Volksentscheides nicht überstürzt vonstatten gehen wird, dass sich also beide Seiten im gegenseitigen Interesse darum bemühen werden, den Status quo weitgehend beizubehalten. Ich gehe davon aus, dass auf der Insel einige Bestandteile der Arbeitnehmerfreizügigkeit und allenfalls auch der Niederlassungsfreiheit abge­zwackt werden; sodann gibt es Neuverhandlungen über die EU-Fördertöpfe, wo die Engländer und Engländerinnen am meisten zu befürchten haben. Daneben können sie wieder eine eigene, sozusagen maritime Außenpolitik betreiben, und damit hat sich’s dann auch schon.

Wenn es überhaupt soweit kommt. Gegenwärtig hat man den Eindruck, die Brexiteers wüssten selber nicht, was ihnen da geschehen ist. Eigentlich müssten Boris Johnson und der andere englische Unteroffizier, Nigel Farrage, jetzt vor dem Parlament stehen und die Führung beim Austrittsprozess für sich in Anspruch nehmen. Die haben aber selber offenbar keine Ahnung davon, was sie in der Substanz wollen täten, wenn sie etwas wollten, ich meine, etwas anderes als auf dummen und dumpfen Populismus zu machen. Indem man ihnen zugestimmt hat, hat man sie auf höchst vergnügliche Weise nach außen gestülpt und stellt fest: Da ist nichts drin.

Das dürfte auch bei den übrigen Rechtsnationalisten in Kerneuropa seinen Niederschlag finden. Es ist einfach nur hohl, was die rauslassen, und es bedurfte doch einer Anhäufung von Hohlköpfen, um dies nun auch noch zum Ausdruck zu bringen. Meine Gratulationen hierfür gehen an England, verbunden mit der Hoffnung, dass nun auch noch die letzten Reste der Imperiums-Nostalgie in Brüche gehen und die Engländer ohne Schottland und Konsorten dort landen, wo wir uns alle befinden: Im 21. Jahrhundert und auf der Suche nach einer Zukunft, nicht nach einer Ver­gan­genheit. Eine solche haben wir alle, davon brauchen wir nicht mehr.

Die Zukunft beginnt in der Gegenwart, und in der Gegenwart sind die Bedingungen des Seins derart felsenfest in die wirtschaftlichen Grundlagen gemeißelt, dass der dümmste Phrasendrescher daran nichts ändern wird, EU-Mitgliedschaft hin oder her. Nigel Farrage mag meinetwegen die englischen Hohlmaße wieder zum Maß der industriellen Produktion machen und versuchen, die längstens zerstörte englische Industrie wieder aus den Torfmooren zu stampfen; Ziel des englischen Nationa­lis­mus muss es sein, dass auch die Ärmsten der Armen in nur fünf Jahren einen Rolls-Royce fahren, wie dies bekanntlich der Fall war, bevor England der EU beitrat. Nein, wirklich, so läuft der Hase nicht, und auch der Igel reckt seine Stacheln in einer anderen Ackerfurche.

Immerhin kann an dieser Stelle nicht laut genug gesagt werden, dass die Linke links der Sozial­demo­kratie, welcher ich den Titel «extreme Linke» hiermit ein für allemal entziehe, dass also die Sprücheklopper links der Sozialdemokratie ihrerseits nie über den Vorwurf hinausgekommen sind, dass es sich bei der EU um ein kapitalistisches Projekt handle und um das Europa der Konzerne. Dieser Hinweis ist an und für sich nicht falsch, bloß reicht er nicht aus für eine konkrete Haltung gegenüber dem Projekt Europa, denn er unterstellt, wenn man ihn nicht weiter entwickelt, dass die einzelnen Länder vor der EU möglicherweise gar antikapitalistisch gewesen seien und das Phäno­men der internationalen Konzerne überhaupt nicht gekannt hätten. Dies wiederum entspricht nun durchaus nicht meiner Wahrnehmung, und es entspricht auch nicht dem Stand der aktuellen Ge­schichts­forschung. Die Zusammenlegung verschiedener, vor allem technischer Bereiche auf dem europäischen Kontinent war zweifellos nicht von einem emanzipatorischen Geist getragen, aber indem sie verschiedene, vor allem technische Bereiche auf dem europäischen Kontinent zu­sam­men­legte, bedeutete sie insgesamt trotzdem einen Fortschritt, ebenso wie die Beseitigung der internen Grenzen, welche heute offenbar den größten Stein des Anstoßes darstellt.

Die Personenfreizügigkeit wird auf der anderen Seite, also bei den Rechtsnationalisten auf geradezu perfekte Art noch mit der internationalen Migration vermengt, und so können wir in den Ost­ge­bie­ten der EU jetzt einen Argumentensturm beobachten, der sich gewaschen hat. Gerade Polen, wel­ches, was weiß ich, zwei Millionen Putzfrauen und Krankenschwestern nach England geliefert hat, befindet sich in einer prachtvollen Bredouille, wenn es den EU-Verteilschlüssel für Flüchtlinge im Rahmen der Visegrad-Gruppe bis aufs Blut bekämpft und vielleicht noch moniert, dass die Zuwanderung, oder im ethnischen Wortschatz: die Überfremdung den Brexit befördert hätte. Mindestens die Polinnen und Polen müssten sehr genau wissen, von welcher Art der Überfremdung in England die Rede war.

Tut nichts zur Sache. Der Scherz ist gelungen, England hat für den Austritt gestimmt und das Leben geht weiter. Im Hupkonzert der ratlosen Meinungsmacher und Meinungsbewirtschafter sind die relevanten Fragen von den unbedeutenden nicht so einfach zu unterscheiden. Viel diskutiert wird jetzt beispiels­weise die Frage nach der Führung, eine Frage, die ich nicht besonders gut verstehe, was vielleicht damit zusammenhängt, dass das politische System, in dem ich sozialisiert worden bin, nicht auf dem Führer-Prinzip beruht, und ich möchte auch allen anderen Nationen raten, davon Abstand zu nehmen. Größe und Wirtschaftskraft sind zweifellos harte Faktoren für die Rolle der Mitglieds­länder der Europäischen Union, und genau das war ja der Grund dafür, diesen Faktoren den ebenso harten Faktor Politik entgegen zu stellen, sonst hätte es die Europäische Union nämlich gar nicht gebraucht. Die europäische Idee dagegen, von welcher große Europäer und ein paar kleinere Euro­päerinnen beseelt gewesen waren, die steht nun ziemlich dünn da, es ist eine Hülle, in welcher im Moment überhaupt keine Luft mehr drin ist. Offenbar gibt es keine tragfähige politische Gestalt für das ganze Europa, das scheint eine der aktuellen Erkenntnisse aus dem Austritts­ent­scheid Englands zu sein. Ich habe lange geschimpft, wie die Lokal- und Regional- und sogar Natio­nal­politiker über Strukturpolitik und verschiedene Fonds einen Anteil haben an den gesamt­europäischen Ent­wick­lungen, anderseits in der Öffentlichkeit aus der Pflege der Ressentiments gegen Brüssel Stimmung machen. Dass dies aber überhaupt soweit kommen konnte, ist nicht einfach ihrem hinterfotzigen Charakter zuzuschreiben, den ich allerdings auch nicht im Entferntesten bestreiten möchte, aber der echte Grund liegt in den Anfängen: Alle die fantastischen großen Europäer hatten von Beginn weg nicht ein vereinigtes Europa vor Augen, sondern eine Reihe von Zweckallianzen, gepaart mit der erwähnten, immerhin ansehnlichen Kampagne zur Verein­heit­li­chung auf technischer Ebene. Das große Ziel, nämlich der Frieden auf dem Kontinent, welchem das ganze Unternehmen offiziell und auf Dauer gewidmet war und für welches Ziel die EU sogar den Friedensnobelpreis erhielt, dieses Ziel erscheint rückblickend nicht als besonders heroische Leis­tung für eine Nachkriegsphase, welche nicht von Reparationsforderungen und einer Wirt­schafts­krise, sondern von Aufbauplänen und exponentiellem Wirtschaftswachstum geprägt war.

Offenbar, und das ist für mich eine neue Einsicht, gibt es keine tragfähige politische Gestalt für das ganze Europa, und damit erübrigt sich auch meine Kritik, die ich über all die Jahre angebracht habe; wenn’s nicht geht, geht’s halt nicht, sagte der Igel und ließ vom Kaktus ab. Dann begnügen wir uns halt mit dem, was geht, einem mehr oder weniger lockeren Staatenbund, der vor allem als Normie­rungs­an­stalt be­trie­ben wird, noch ein paar strukturpolitische Pinselstriche anbringt an einem ansonsten nicht mehr ver­än­derbaren Gemälde, dessen gemeinsame Außenpolitik wohl auch nicht mehr besonders lange halten wird und wo in nächster Zeit verschiedene kleine Putschversuche laufen werden von jenen osteuropäischen Staaten, welche von Ideologie betrieben werden; das überdeckt die innere Kor­rup­tion in der Regel am besten. Die rechtspopulistischen Bewegungen leben im Kern weniger von der Ablehnung der EU als vielmehr von der Ablehnung der Globa­li­sie­rung und der Automatisierung und weiterer Errungen­schaften der Neuzeit, welche ohne jeden Zweifel immer auch Folgen für ganze Landstriche und Bevölkerungsteile und ganze Berufszweige haben. Zu diesen Folgen eine ordentliche Haltung einzunehmen und beispielsweise eine Europa übergreifende, auch den Mittelmeerraum umfassende Strukturpolitik zu betreiben zum einen, für die betroffenen Landstriche anstelle von Konservierungs- die geeigneten Entwicklungsmaßnahmen vorzuschlagen zum anderen, dazu sind sie sowieso nicht in der Lage, aber das ist auch nicht ihr Kerngeschäft, ihr Kerngeschäft ist die Erringung von Macht und Mitteln in jener Konfusion, welche aus dem anhaltenden Wandel zwangsläufig entsteht. Daneben sind die rechtspopulistischen Bewe­gun­gen in schönen, nämlich den antiimperialistischen Teilen deckungsgleich mit jenen politischen Strömungen, denen ich deswegen die Bezeichnung «linksextrem» in Zukunft verwehren werde.

In schroffem Gegensatz zur politischen Ebene verhält es sich im praktischen Leben. Die Mittel­schicht, welche laut verschiedenen WeltwirtschaftskritikerInnen am Aussterben ist beziehungsweise ins Prekariat abgleitet, obwohl dies rein logisch unmöglich ist, aber sei’s drum, diese sehr wohl nach wie vor existierende Mittelschicht fährt ein Mal im Jahr tüchtig in den Urlaub nach Bali und gönnt sich daneben noch fünf europäische und fünf interkontinentale Städteflüge und hält sich in der Garage um die hundert Pferdestärken, verteilt auf verschiedene Fahrzeuge, und zuhause beteiligt sie sich an Computerspielen wie World of Warcraft oder pflegt sonst irgendwelche Kontakte auf ihren jeweiligen Interessensgebieten, absolut ohne Rücksicht auf Landesgrenzen. Es besteht mit anderen Worten überhaupt keine Notwendigkeit, die Dummheit der Bevölkerung zu bewirtschaften, um daraus politischen Nutzen zu ziehen. Was dagegen seit langer Zeit fehlt, das ist eine Sammlung an Programmpunkten für die Moderne, welche unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts ein paar Schritte skizziert, mit welchen die Gesellschaft und ihre Institutionen auf dem Weg in eine gerechte, sorgenfreie und bei allen Vorbehalten letztlich doch demokratische Gesellschaft voranbringt.

Gemäß meinem Geschichtsverständnis wäre die Linke hier gefordert, aber offenbar ist sie von ihren eigenen Siegen mit dem Triumph der Sozialdemokratie derart ausgelaugt, dass sie nicht mehr in der Lage ist, Konzepte dieser Gattung zu erarbeiten. Links der Sozialdemokratie herrscht Leere, nicht an Worten, natürlich, davon strotzen ganz im Gegenteil fast alle Medien. Aber echte Ideen, welche die Welt nicht nur interpretieren, sondern verändern?

Kommentare
29.06.2016 / 09:45 matthieu, Radio Dreyeckland, Freiburg
gesendet im MoRa am 29.6.
vielen dank!