"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Lyon

ID 78474
 
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Lyon, Bahnhof Part-Dieu, Freitagabend um halb zehn: Dutzende von Soldaten mit Ma­schi­nen­pistolen markieren Präsenz, vor dem Bahnhof wird ein Kreis im Durchmesser von rund 5 Metern komplett abgeriegelt, im Innern des Gebäudes stehen sie in Gruppen von vier bis fünf Kräften herum oder patroullieren.
Audio
10:46 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 09.08.2016 / 14:30

Dateizugriffe: 2125

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 09.08.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Offenbar ist Freitagabend die Haupt-An­schags­zeit in Frankreich, was empirisch nicht vollständig belegt ist, aber wenn wir davon ausgehen, dass man heute einen Selbstmordanschlag so verübt, wie man sich früher stark besoffen hat am Wochenende, dann trifft die starke Militärpräsenz den Nagel der Prä­ven­tion wohl auf den Kopf. Die Medien berichten einen Tag später von einem Angriff eines islamistischen Attentäters im belgischen Charleroi auf die Polizei, und zwar schon wieder mit einer Machete — offenbar reicht es dem Wochenend-Terroristen in der Regel nicht mehr zu einem Chemiestudium oder mindestens zum Lesen der Gebrauchs­anweisung, wie man sich eine ordentliche Bombe bastelt.

In Lyon herrscht derweil schönes Wetter und Friede zwischen den Kulturen, und Kulturen hat es hier reichlich; wenn man von den Touristen absieht, ist es wohl die klassische Mischung, welche die französischen Großstädte heute ausmacht, das ganze Sortiment an Araberinnen und Arabern mit einem Schwerpunkt auf dem Maghreb, alle Farbschattierungen aus Schwarzafrika sowie die ursprünglichen Französinnen und Franzosen, welche in den meisten Quartieren noch die Mehrheit bilden. Jedes Cliché wird bedient, wenn man sich etwas Mühe gibt, und dementsprechend tauchen immer wieder die Fragen auf, wie sich das Leben und das Zusammenleben in einer modernen, gemischten Gesellschaft einrichten lässt.

So etwas sieht man nicht in Deutschland, trotz der Million Flüchtlinge und trotz den Ausländer-Quartieren, die sich auch in den größeren deutschen Städten ausgebildet haben; aber Erdogan hin oder her, es ist doch ein großer Unterschied zwischen der türkischen Einwanderung und den Zuzü­gerinnen und Zuzügern aus dem Osten in Deutschland und der Lage in Frankreich. Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr drängt sich mir die Arbeitshypothese auf, dass justament in Frankreich mit all den ungelösten Immigrationsproblemen und mit den gesamten Debatten über Kolonialismus und Postkolonialismus der Schlüssel liegen könnte für die künftige Integration, oder vielleicht besser: für das künftige Miteinanderleben von Araberinnen, Afrikanerinnen und Euro­pä­e­rin­nen.

Das Problem sind nämlich genau diese Probleme bzw. dass diese Probleme unweigerlich auf uns alle zu kommen, wo sie nicht schon längstens da sind. Selbstverständlich nicht überall im gleichen Ausmaß, aber grundsätzlich eben doch, und zwar ganz einfach als weitere Folge der Globalisierung beziehungsweise der Mobiltelefonie. Selbstverständ­lich kann man versuchen, sich davon abzuschotten, zum Beispiel indem man ganz Sachsen aus­län­der­frei hält, was zwar nicht direkt im eigenen Interesse der Sachsen liegt, aber versuchen kann man’s trotzdem. Auf jeden Fall ist es verständlich, und zwar in Frank­reich wie in Deutschland, wenn die im Land ansässigen Menschen skeptisch reagieren oder sogar allergisch, wenn die Einwanderung zu große Ausmaße annimmt; schließlich hat man ja noch eigene Probleme zu lösen, namentlich jene der nationalen Wert­schöp­fung, welche auf den internationalen Absatzmärkten bestätigt werden muss. Was tut man mit diesen Fremden, welche entweder den einheimischen Arbeitskräften die Arbeitsplätze streitig machen oder die Sozialsysteme strapazieren?

Nun sind solche Fragen allerdings falsch gestellt. Einwandererinnen bringen in der Regel ihre eigene Ökonomie mit im Rahmen von kleinen Gewerben, Ladengeschäften und so weiter, oder aber sie besetzen Leerstellen in der Wirtschaft oder im öffentlichen Leben, aus welchen die einhei­mi­schen Arbeitskräfte abgezogen sind, zum Beispiel in der Müllabfuhr; und dann gibt es ja auch noch qualifizierte Zuwandererinnen, um welche jedes Land auf der Welt und sogar das Land Sachsen noch so froh wäre. Diese ökonomische Seite ist eine der wichtigsten Seiten der gesamten Inte­gra­tion, und wo sie nicht so richtig klappt, kann man der Sache durchaus nachhelfen mit staatlichen Maßnahmen und Eingriffen. Die französische Gesellschaft dürfte in diesem Punkt schon recht weit fortgeschritten sein. Man darf bei allem nicht vergessen, dass die Veteraninnen und Veteranen der ersten großen Einwanderungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich nach den algerischen Befreiungskriegen, unterdessen auch schon siebzig oder achtzig Jahre alt sind, das heißt, in Frankreich beißt man schon in der dritten und vierten Generation an diesem Problem herum. Da ist es nur natürlich, dass sich auch Gegenkräfte aufbauen, Gegenkräfte, welche lange unter der Flagge des Antikolonialismus und Antiimperialismus segelten und seit dem Erweckungserlebnis im September 2001 in New York zunehmend und vor allem im Zeichen eines mehr oder weniger radikalen Islam.

Irgendwann saßen wir in Lyon in einem Gartenrestaurant im Confluence-Quartier und sahen am Quai ein schönes Paar spazieren, einen eleganten schwarzen Herrn mit Sonnenbrille und eine arabische Frau, beide ganz in Schwarz in einen Rock gekleidet, sie mit einem Kopftuch, an welchem sie gelegentlich zupfte, als wollte sie es sich am liebsten ganz übers Gesicht ziehen. Die beiden flirteten offensichtlich mit ihrem, was weiß ich: Scharia-konformen Outfit, sie provozierten, wie man halt so provoziert in der Öffentlichkeit, und das ging mir recht ordentlich auf den Geist; aber gleichzeitig ging ich mir selber auf den Geist, weil ich mich eben selber hatte provozieren lassen. Dabei ist dies nun mal Teil des größeren Spiels der Integration. Man kann von den Zuwandererinnen nicht verlangen, dass sie sämtliche Aspekte ihrer früheren Identität abstreifen und a fortiori sich als pure Französinnen und Franzosen durchs Leben bewegen mit Baskenmütze und Baguette und wenn möglich einer roten Nase vom Rotwein. Oder stellt euch gar vor, die Syrerin und der Syrer würden sich in Zukunft verhalten wie der Spießbürger Toni Erdmann! - Das wäre schrecklich.

So läuft das nicht. Auf der anderen Seite haben wir jetzt unsere Dosis Islam und Isla­mis­mus gehabt, vielen Dank, es reicht. Zum Islam beziehungsweise zu den Moslems kann man vielleicht anmerken, dass sie tun und lassen können, was sie wollen. Dagegen ist es mir persönlich einfach zu an­stren­gend, die Kritik an der christlichen Religion jetzt nochmals von vorn ansetzen zu müssen, und zwar an einer Religion, welche der Gründer offensichtlich aus dem Christentum geschöpft hat mit dem Effekt, dass sie jetzt nicht nur 600 Jahre jünger, sondern im theologisch-philosophischen Diskurs auch 600 Jahre im Rückstand liegt. Das sollen die gefälligst selber erledigen, die Religionskritik, und davon abgesehen können sie glauben, was sie wollen. Es versteht sich ebenso von selber, dass man jene Koranschulen, wo Djihadisten rekrutiert werden, schlicht und einfach ausräuchert, aber das erledigt die Polizei ja mittlerweile ohne weiteren Diskussionen. Was die Erstellung von neuen Moscheen angeht, so scheint es, als würden solche Gebäude seit einiger Zeit in erster Linie von den Wahabiten unter saudiarabischem Einfluss und mit saudiarabischen Geldern erstellt; das finde ich sowieso nicht lustig, denn unter all den spätmittelalterlichen Religionsvorkehrungen im Islam ist jene der Saudis nicht nur die reaktionärste, sondern auch die potenteste, woraus ich schließe, dass man Moscheen, wenn schon, in Zukunft nur noch mit staatlichen Geldern bauen sollte und mit staatlich ausgebildeten Theologinnen bestücken. Soviel hierzu.

Dafür ist mir in Lyon noch durch den Kopf gerauscht, dass angesichts der riesigen Kräfte, welche bei der Einwanderung und noch hinter der Einwanderung schlicht und einfach bei der angewandten Globalisierung wirksam sind, nicht vielleicht doch eine Kategorie eine neue Bedeutung erhält, welche ich lange für abgeschrieben hielt, nämlich die Nation und unmittelbar danach folgend der Nationalismus. Man muss dabei sehen, dass dem französischen Nationalismus nicht einfach ein Idioten-Patriotismus zugrunde liegt, sondern der französische Nationalismus in seiner republi­ka­ni­schen Ausbildung begrüßt sämtliche Kräfte, welche das Land vorwärts bringen, unabhängig von ihrer Herkunft und von ihrer Rasse. Das ist schon etwas anderes als die historisch wohl bekannten Ausdrucksformen des deutschen und des italienischen Nationalismus. – Möglicherweise ist der republikanische Nationalismus tatsächlich eine Instanz, welche das Potenzial hat, die erwähnten großen Kräfte, namentlich aus der Einwanderung in einem konstruktiven Sinne hinter der Nationalflagge zu vereinen. Wenn dies der Fall wäre, dann müsste ich selbstverständlich nicht nur meinen internationalistischen Diskurs, son­dern auch meine Einstellung zum Verhältnis zwischen der EU und den National­staa­ten überprüfen. Eigentlich habe ich für die gesamte Europäische Union immer genau diesen republikanischen Nationalismus gefordert, welcher sich im Kern unterscheidet von all den dumpfen Rechtsnationalisten, egal, ob in Sachsen oder im übrigen Osteuropa. Wo­bei ich für Osteuropa immerhin soweit gehe, dass ich ihre Probleme beim Weg aus einer eigenartigen Vergangenheit in eine nicht besonders klare Zukunft anerkenne. Dass sich in diesen Weltgegenden nicht immer die gleichen Gedankenströme ausbilden wie in den weiter entwickelten Regionen, versteht sich von selber.

Aber das ist ein anderer Abschnitt. Die Lyoner Hypothese vom republikanischen Natio­nal­staat als sinnvollem Gefäß zur Integration der verschiedenen Kräfte gefällt mir im Moment recht gut, nicht zuletzt deshalb, weil ein republikanischer Nationalstaat eventuell ideologisch jene Lücke schließen könnte, welche durch das Absterben des linken Zwei­ges der politischen Denktradition entstanden ist. Und wenn ich den Gedanken auf Deutschland umlege, dann würde dies für den deutschen Nationalismus selbst­ver­ständ­lich in erster Linie die Abkehr vom Völkischen bedeuten. Es wäre insofern eine echte Première. Vom Völkischen hat man sich mit dem Ende der Hitlerei sowieso schnell, schnell verabschiedet, aber es lebt munter weiter in der Gestalt von Gestalten und Vögeln wie Beatrix von Storch oder Beate Zschäpe oder was des Bedarfs an deutschen und antideutschen Klischees noch mehr ist. Aber ein republikanischer Nationalismus, das wäre wirklich was Neues, ein republikanischer Nationalismus à la française, und das erst noch ohne den Zwang, Französisch lernen zu müssen! – Ein Nationalismus, der offen ist für die Zuwanderung aus allen Ecken der Welt unter der einen Voraussetzung, dass die ZuwandererInnen sich am Fortschritt und Gelingen des Gemeinwesens beteiligen. Vielleicht liegt tatsächlich in dieser über zweihundertjährigen Vorstellung ein Weg in die Zukunft. Wenn schon die anderen Wege im Moment eher zweifelhaft erscheinen.

Immerhin eine Arbeitshypothese.

Kommentare
09.08.2016 / 18:04 Jürgen, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
gesendet bei Sonar am 9.8.2016
Danke