"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Überbeschäftigung

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Irgendjemand hat am Wochenende behauptet, dass die Zahl der Erwerbstätigen in der Schweiz zum ersten Mal über 5 Millionen Menschen läge. Damit hätten wir in unserer quisi-quasi neoliberalen Alpenfestung auch zum ersten Mal seit langer Zeit eine Beschäftigungsquote von rund 120% erreicht, obwohl die Statistik nach wie vor eine Arbeitslosenrate von rund 3 Prozent ausweist. So oder so erscheinen solche Werte ziemlich paradox im Angesicht der in vollem Gang befindlichen vierten oder fünften industriellen Revolution, welche uns jetzt auch Anwälte und Zahnärztinnen weg rationalisiert. Eine Anomalie, so wie die seit gut acht Jahren anhaltenden Tiefstände der Geldzinsen.
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11:09 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 17.08.2016 / 19:21

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 15.08.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Null Prozent über acht Jahre hinweg, das ergibt zum Beispiel bei einer Hypothekar­verschuldung von 200'000 Euro eine Einsparung von 80'000 Euro im Vergleich zu früheren Durchschnittssätzen von 4%. Man kann sich ungefähr ausrechnen oder mindestens vorstellen, welche Summen der entfesselte Raubtierkapitalismus in die Geldbeutel der einfachen Eigenheim­besitzerInnen gespült hat, nehmen wir mal an, es handele sich in Deutschland um 2 Millionen Menschen mit Hypothekarschulden in der erwähnten Größenordnung, also mal 80'000 Euro Einsparungen, gleich 160 Milliarden Euro Umverteilung von, naja, von wo eigentlich? Wir sind reflexartig versucht zu sagen: von unten nach oben, aber bei der Hypothekarverschuldung liegt der Fall ja exakt gegenteilig zur Subprime-Krise vor 10 Jahren in den Vereinigten Staaten; wie soll man das denn verstehen, eventuell und zum Beispiel als die konkrete Form, wie die Europäische Zentralbank ihre Milliarden-Geldschöpfung nicht nur in die Taschen der Goldman-Sachs-Spezis, sondern in jene der gesamten, Kleinimmobilien besitzenden Bevölkerung spült?

160 Milliarden Euro oder 20 Milliarden pro Jahr, allein für Deutschland, die Zahl ist vermutlich in der Praxis doppelt so hoch, also 40 Milliarden Spargeschenke der EZB an die Eigenheimbesitze­rIn­nen, und kein Ökonom kräht danach, weil es sich eben um eine Anomalie handelt, um eine nicht erklärbare Abweichung von der Regel, und für Grenzwissenschaften wie Astrologie und eben Ökonomie ist es sicher bequemer, von einer anhaltenden Anomalie auszugehen, also von einer Anomalie der Anomalie, als die Lehrbücher von Grund auf neu zu schreiben.

In der Schweiz also haben wir trotz 3% Arbeitslosigkeit de facto eine Überbeschäftigung, wobei selbstverständlich nicht alle derart ausgewiesenen Wirtschafts- und Erwerbsaktivitäten in den Bereichen der Spitzen-Wertschöpfung liegen. Vielmehr handelt es sich zu mindestens 50% um Annex-Beschäftigungen, zum Beispiel für Putz- und Reinigungskräfte, welche gerade angesichts einer Überbeschäftigung von 120% absolut notwendig geworden sind, um die bisher im Haushalt gebundenen Fachkompetenzen vor allem der gebildeten Hausfrauen für den Arbeitsmarkt und die gehobene Ökonomie frei zu setzen. So eine Reinigungskraft muss übrigens nicht unter allen Titeln misslich gestellt sein; soweit sie privat engagiert werden, können die Jungs und Mädchen durchaus 30 bis 40 Franken pro Stunde verdienen, abzüglich Sozialversicherungsbeiträge, selbstverständlich, aber es können durchaus 25 bis 30 Franken netto pro Stunde bleiben, also 22 bis 26 Euro. Sind sie dagegen bei einem Institut angestellt, so sinkt der Lohn aus den bekannten kapitalistischen Grün­den, sprich zu Ausbeutungszwecken auf um die 20 Franken brutto, sagen wir mal 17 Franken netto. Auch neben dem Reinigungssektor können sich alle Arten von Dienstleistungen oder Produkte­ange­boten ausdehnen, wenn nur in der übrigen erwerbstätigen Bevölkerung genügend Knete vorhanden ist oder wenn die Banken über historisch tiefe Zinsen, zum Beispiel im Hypothekarbereich, so etwas wie Geldschöpfung bei den Eigenheim- und ImmobilienbesitzerInnen vornehmen.

Vielleicht sehen wir hier eine mögliche Gestalt, in welche sich die Gesellschaft begeben kann, wenn die vierte, fünfte oder sechste industrielle Revolution immer weitere Anteile der jeweils ver­blie­be­nen und verbleibenden produktiven Arbeitsplätze dahin rafft. - Das ist übrigens eine sehr genaue Formulierung für die Darstellung dieses Phänomens: die technisch-digitale Revolution als Beulen­pest für die Arbeitsplätze und die Beschäftigung, von welcher das gesamte Gesellschaftsspiel ab­hängt. Aber dies nur nebenbei. - Mit anderen Worten: Während die tatsächlich produktiven Arbeits­plätze, also die für den Dienst an der Weltproduktion tatsächlich notwendigen Jobs eingehen wie seinerzeit die indigenen Einwohner Lateinamerikas an den verschiedenen zivilisierten Krankheiten, welche die Eroberer einschleppten, entsteht als Ersatz für die früheren handwerklichen und indus­tri­el­len Aktivitäten und vor allem auf der Grundlage einer global durchautomatisierten Produktion mit dem entsprechenden Überfluss an sämtlichen Gütern eine neue Erwerbslandschaft, in welcher sich die Insassen mehr oder weniger gegenseitig beschäftigen, selbstverständlich nach Maßgabe ihrer jeweiligen finanziellen Kapazitäten; diese finanziellen Kapazitäten werden dabei im Hinter­grund festgelegt auf den internationalen Kapitalmärkten, welche jenen Ort darstellen, wo sich die be­ste­hen­den Besitzverhältnisse reproduzieren neben einigen Ausreißern in der Form von Glücks­rittern und Neureichen auf der einen, Konkursiten und anderswie Scheiternden auf der anderen Seite.

Egal, ob die Entwicklung in diese Richtung geht oder in eine andere: Die Beschäftigung stützt sich in den entwickelten Regionen der Welt schon länger nicht mehr hauptgewichtig auf die Produktion, sondern vielmehr auf alle Arten von Anhängsel-Aktivitäten, nachdem bereits die kapitalistische Pro­duktion verschiedene Figinen entwickelt hat, um in Annexbereichen wenigstens so viel Umweg-Beschäftigung zu schaffen, dass der direkte Gewinn aus dem Verkauf am Markt nicht in vollständig jenseitige Höhen steigt. Der ganze Bereich von Marketing, Werbung und Branding zum Beispiel ist zu einer Grundfeste der modernen Wirtschaft geworden, ohne dass deswegen eine in Thailand hergestellte Levi's-Jeanshose, die für 100 Euro verkauft wird, auch nur um einen Faden besser wäre als die in der gleichen Fabrik hergestellte No-Name-Jeanshose, die in der No-Name-Norma 15 Euro kostet, und der Preis für ein Paar Schuhe aus Ostasien fob im Hafen von Genua liegt nach wie vor bei rund 95 Cents. Aber mit Tiefpreisen lässt sich kein Wirtschaftskreislauf ohne Kollaps aufrecht­erhalten, weshalb das System es sich beifallen hat lassen, die erwähnte Herde von Marketing-Spe­zia­listInnen auszubilden und zu beschäftigen, wobei sich diese Menschen übrigens mit durchaus interessanten Aspekten, zum Beispiel der Massenpsychologie oder der Marktpsychologie be­schäf­ti­gen. Viel produktiver wird die Gesamtanlage dadurch allerdings nicht, und ich meine, es sei korrekt zu sagen, dass das moderne kapitalistische oder auch postkapitalistische System nichts weiter ist als ein Apparat zur Einrichtung möglichst absurder unproduktiver Aktivitäten unter dem Deckmantel der Effizienz und der Gewinnmaximierung. - Womit wir übrigens direkt bei Erscheinungen wie Donald Trump und Silvio Berlusconi angekommen wären, aber dies nur als produktiver Hinweis. -

Sehr schöne unproduktiv-produktive Tätigkeiten sind auch in den Bereichen Kurswesen, Beratung und Rekreation entstanden. Handel und Gewerbe florieren oft rund um relativ teure Einzel­anferti­gungen, wobei die Wertschätzung des Handwerklichen umso mehr steigt, je krasser die Preise für die gleichen, aber industriell hergestellten Produkte fallen. In diesem Untersektor mischt zudem die 3-D-Drucktechnologie das Gefüge auf. Es gibt tonnenweise Möglichkeiten, überschüssige Kauf­kraft abzuschöpfen, wobei es korrekter heissen müsste: zu schaffen. Soweit sind wir nämlich unter­dessen: dass wir nicht mehr Arbeitsplätze schaffen, sondern die ihnen vorgelagerte Kaufkraft. Heute wird das Bruttoinlandprodukt zu zwei Dritteln vom Inlandkonsum bestimmt; diese Tendenz wird in dem Maße zunehmen, in dem die globale Produktion weniger Wert erzeugt, um es zu wiederholen: als Folge der anhaltenden Globalisierung und Automatisierung beziehungsweise der anhaltenden industriellen oder digitalen oder kommunikativen Revolutionen; an die Stelle dieser Werte tritt die Inland-Dienstleistung oder der Inland-Handwerksmarkt in neuen Formen.

So viel könnte man aus den aktuellen Beobachtungen schliessen. Vorausgesetzt bleibt der Betrieb gewisser strategischer Bereiche, für Deutschland ist es zweifellos nach wie vor der Automobilbau, in der Schweiz wäre es eher die Pharmaindustrie oder allenfalls auch die Steuerindustrie, aber ir­gend­welche Sektoren, wo man an der Welt­spit­ze dabei ist, scheinen unerlässlich zu sein für die Entwicklung der zugehörigen oder nachgeordneten Kaufkraft. Nicht in Betracht gezogen habe ich hier die Energie, deren Kosten in absehbarer Zeit wieder steigen werden, und vor allem sind dies insofern synthetische Überlegungen, als ich die Migration vollständig beiseite gelassen habe. Die Migration kann man theoretisch so auffangen oder kanalisieren, als sie eben zunächst in die schlech­ter bezahlten Dienstleistungs­bereiche fließt, wo mit dem Einstieg in den Arbeitsmarkt auch die Akkulturation an die Gebräuche im Arbeitsmarkt erfolgt, was offenbar einen der wichtigen Treiber im gesamten Integrations­karrussell darstellt. Die Logik der Entschädigung für geleistete Arbeit anstelle von Verwandt­schafts­beziehungen ist zwar ein objektiver Hemmschuh für die Weiterentwicklung der Gesell­schaft in einer Zeit, welche die Ära der Produktivität ad absurdum geführt hat; aber wie gesagt befinden wir uns nicht auf synthetischem Terrain, sondern in der Realität mit einem anhaltenden ungeheuren Druck auf die reichen Regionen der Welt. Und bisher hat sich kein besseres Medium zur Integration angeboten als eben das geregelte Arbeiten zu einigermassen anständigen Löhnen, egal ob im Reinigungsdienst oder für die Männer eher auf dem Bau.

So hätte alles, alles in allem ein recht schönes Gesicht, doch die Weltgeschicht sagt: justament nicht, nämlich zum Beispiel in den Vereinigten Staaten als dem Vatikan des neoliberalen Kapitalismus scheinen genau diese Mechanismen nicht zu funktionieren, mindestens wenn ich auf das höre, was man mir allenorten erzählt. Selbstverständlich kann man davon ausgehen, dass sich im Schatten der offiziellen Berichterstattung auch in den Vereinigten Staaten eine Zusatzökonomie etabliert, wo MexikanerInnen MexikanerInnen beschäftigen und vielleicht ausbeuten, wo ChinesInnen VietnamesInnen schwarz oder gelb anstellen, was weiß ich, ich weiß eben nicht eben viel davon, aber insgesamt hat man den Eindruck, dass man in den USA auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Überproduktions-Dilemma noch nicht so tüchtig fündig geworden ist, vielleicht tatsächlich deswegen, weil der Migrationsdruck aus Lateinamerika derart stark und unmittelbar ist an der Südgrenze. Vielleicht ist es aber eben auch nur der Ausdruck jener geistigen Verbohrtheit, welche uns in der Nacht jeweils aufwachen lässt und bange fragen: Und wenn uns die am Ende doch noch den Superdonald wählen?

Kommentare
18.08.2016 / 14:28 free FM Tagesredaktion, free FM, Ulm
Ulmer Freiheit
gesendet, danke :)