"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Libyien

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Man kann davon ausgehen, dass ziemlich genau 50% davon, was Abdelhakim Belhadj im Interview mit der Jeune Afrique erzählt, gelogen ist, und wie üblich weiß man nicht, welche 50% es sind, aber die Geschichte ist doch unterhaltsam genug, um unsere Aufmerksamkeit zu verdienen.
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11:01 min, 8714 kB, mp3
mp3, 107 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 15.08.2017 / 12:09

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Caspar
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 15.08.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Sie geht so:
Im Jahr 1988 sei Abdelhakim Belhadj gezwungen gewesen, sein Heimatland Libyen zu verlassen, weil er gegen die Diktatur von Mohammed Ghadaffi gewesen sei. Er sei im Rahmen eines humanitären Hilfsprogramms nach Afghanistan gegangen, um vertriebene afghanische Kinder zu unterrichten. Ende 1989 habe er sich dann dem bewaffneten Kampf gegen die sowjetischen Truppen in Afghanistan angeschlossen, zusammen mit unzähligen weiteren Kämpfern aus verschiedenen moslemischen Ländern und aus Europa und Amerika. Als nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen die Kämpfe innerhalb der Opposition ausgebrochen seien, habe er sich im Februar 1992 nach Pakistan zurückgezogen, aber auch dort sei das Leben nicht sicher gewesen, weil man sich vor den Arabern gefürchtet habe. Es sei nicht einfach gewesen, eine neue Niederlassung zu finden, da die arabischen Länder gegenseitig die Oppositionellen ausgeliefert hätten; ein paar Mitkämpfer hätten sich um Asyl in Europa bemüht, er sei schliesslich im April 1992 im sudanesischen Khartum gelandet, also wieder in der Nachbarschaft von Libyen.

Allerdings hatte der humanitäre Hilfslehrer Abdelhakim Belhadj bereits im Jahr 1989 in Afghanistan die Islamische Kämpfergruppe in Libyen gegründet und war deren Anführer; die Gruppe kämpfte unter dem Dach von Al Kaida, und Belhadj traf sich regelmässig mit Bin Laden. Er sei aber immer gegen Angriffe auf Zivilisten gewesen.

Trotzdem gelangte er nach den Anschlägen auf die Zwillingstürme auf die Liste der meistgesuchten Terroristen der Welt. Im Jahr 2004 wurde er in Kuala Lumpur festgenommen und nach Bangkok verfrachtet, wo er vom CIA in einem Geheimgefängnis verhört wurde. Von dort ging es direkt weiter in die libysche Hauptstadt Tripolis, wo Belhadj sechs Jahre lang inhaftiert blieb. Laut seinen Angaben handelte es sich bei der Auslieferung an Libyen um ein Geschenk der britischen Regierung, welche ihre Wirtschaftsinteressen, insbesondere im Bereich Erdöl, in Libyen wahren wollte.

Im Oktober 2010 wurde Belhadj frei gelassen, wie er sagt, im Rahmen der Reformprojekte, welche Gaddhaffis Sohn Seif el-Islam damals vorantrieb im Hinblick auf die Übernahme der Macht von seinem Vater. Er bemühte sich um Aussöhnung mit verschiedenen innen- und außenpolitischen Gegnern seines Vaters, unter anderem mit Reparationszahlungen für verschiedene Attentate, Übergriffe und so weiter. Ein paar Monate später flüchtete er nach Tunesien und zog seine Truppen dann im Nordwesten Libyens, von wo aus er auf Tripolis marschierte und dieses eroberte; er wurde vom nationalen Übergangsrat zum Chef des Militärrats über Tripolis und Umgebung ernannt.

Nach einem Jahr gab er diesen Posten ab und setzte sich an die Spitze der neuen Al-Watan-Partei, die man je nach eigener politischer Identität konservativ, islamistisch oder was auch immer nennen kann; er selber will gleichzeitig den Djihad, allerdings in einer nach seinen Aussagen Koran-kon­formen Art, desgleichen die Scharia, sodann die wirtschaftliche Entwicklung und vor allem Demo­kratie. Warum denn nicht. Als ehemaliger Al-Kaida-Aktivist und nun vielleicht nicht gerade in der Wolle, aber tief gefärbter Demokrat ist er ein Alliierter Katars und der Türkei und damit grund­sätz­lich ein Widersacher der saudiarabischen Wahabiten ebenso wie des ägyptischen Militär­regimes. In Libyen selber übt er heftige Kritik am General Haftar, der von einigen Europäern und vor allem von Frankreich als künftiger Regierungschef hofiert wird; Belhadj will wie gesagt eine demokratische und keine Militärregierung. Jedenfalls wird sein Privatvermögen unterdessen auf gut 2 Milliarden Dollar geschätzt, was man je nachdem als Demokratieprämie, als libysches Wunder oder als Er­geb­nis seiner Beziehungen zu Katar ansehen kann – er selber bestreitet, soviel zu besitzen, und über die Herkunft herrscht völlige Ungewissheit. Immerhin plant er gegenwärtig ein neues arabisches Privatfernsehen, und wer hier an Al Jazeera denkt, kriegt keine Abzüge im Geschichtsunterricht.
Eine schöne Geschichte aus einem Raum, in dem gegenwärtig nur wenig feste Konturen erkennbar sind. Und im Zentrum der Libyen-Frage steht nach wie vor die offene Küste, von welcher jedes Jahr an die 200 000 Flüchtlinge ablegen, um sich im Mittelmeer retten zu lassen, egal, ob von den Hilfsschiffen der internationalen Nichtregierungsorganisationen oder von der italienischen Marine, welche die in Seenot geratenen MigrantInnen oft auch an Handelsschiffe übergeben. Seit die Nichtregierungsorganisationen der Komplizenschaft mit den Schleppern beschuldigt werden, schießen die Spekulationen ins Kraut: Man kann tatsächlich davon ausgehen, dass die Flüchtlinge fest damit rechnen, die Überfahrt nach Europa vielleicht weniger auf den Gummibooten aus China, auf selchen sie die Schlepper auf Hohe See hinaus führen, als auf einem normalen Schiff vollenden zu können. Sie setzen also fest darauf, dass die öffentliche Meinung in Europa nach wie vor davon ausgeht, dass man jemanden in Seenot nicht einfach ertrinken lassen kann, sondern dass auch Afrikanerinnen und Afrikaner letztlich Menschen sind. Es ist also letztlich diese Überzeugung oder dieser Grundwert, welche die tragfähige Brücke bildet zwischen Libyen und Europa. Und daran gibt es auch nichts zu rütteln.

Dagegen ist die Geschichte mit der Personenfreizügigkeit halt vorderhand auf die Europäische Union beschränkt, mit anderen Worten: Das Existenzrecht, welches sich in den Rettungsaktionen auf Hoher See manifestiert, begründet noch kein Recht auf Niederlassung, das ist ganz einfach Stand der Rechtsgebung und Rechtssprechung, und diese widerspiegelt neben der Doktrin auch die öffentliche Meinung in Europa, welche durchaus nicht der Auffassung ist, dass man bei einer Bevölkerung von 500 Millionen Menschen durchaus 200 000 Migrantinnen und Migranten aufnehmen könnte. – Was man übrigens in der Praxis sowieso tut, bei Studentinnen und Studenten, Fachkräften, Pensionären und so weiter, aber eben, bei den Migrantinnen und Migranten scheint es nicht zu gehen, und vor allem lässt sich offenbar keine Ordnung bringen in eine Unordnung, die zugegebenermaßen Quellen außerhalb des direkten Einflussbereichs der EU hat. Trotzdem: Vielleicht wären in Zeiten einer, aus unerfindlichen Gründen wieder anziehenden Konjunktur ein paar klärende Worte von Parteien und Politikerinnen am Platz? Auf diesem Gebiet hätte zum Beispiel euer Martin Schulz eine einmalige Gelegenheit, sich auszuzeichnen. Gerade er, der sich im europäischen Gefüge auskennt wie kaum ein zweiter außerhalb der EU-Kommission, könnte schlicht und einfach einen Immigrations-Plan vorlegen und damit Frau Merkel, wenn nicht den ganzen Wind aus den Segeln nehmen, so doch ein klassisches Alleinstellungs-Merkmal entgegensetzen. Gleichzeitig wäre das ein Signal für eine echte Zeitwende im ideologischen Bereich. Aber man kann Gift darauf nehmen, dass Martin Schulz dies tunlichst unterlassen wird und sich stattdessen einfach als bessere Angela Merkel verkaufen will, was sowieso zum Schiffbruch verurteilt ist. – Da will ich gleich noch anfügen, dass ich dem Schulz persönlich so etwas durchaus zutrauen würde; aber es ist bombensicher, dass die Parteizentrale aus Angst vor den Konsequenzen einer solchen Aktion bei ihrem Stimm- und Wahlvolk sich schon jetzt in die Hosen macht. Sofern eine Parteizentrale überhaupt Hosen tragen kann.

Wie auch immer. Bei der Lösung der Migrationsfrage spielt im Moment Libyen eine zentrale Rolle, und dementsprechend aktiv sind auch die europäischen Spitzenpolitiker, ein jeglicher auf seine Art. Das Magazin Espresso wirft dem französischen Außenminister Jean-Yves Le Drian, den Macron von seinem Vorgänger übernommen hat, vor, dass er bei seinen Aktivitäten in Nordafrika und vor allem eben rund um Libyen in erster Linie versuche, den erwähnten libyschen General Haftar dazu zu bewegen, die im italienischen Einflussbereich liegenden Erdölquellen und den Erdölterminal in der libyschen Cyrenaika der Zuständigkeit der italienischen Ölgesellschaft Eni zu entziehen. An ihre Stelle soll wohl die französische Total treten. Ich weiß nicht, wieviel wahr ist an dieser Ein­schät­zung; fest steht jedenfalls, dass sich Italien und Frankreich in einem kleinen Krieg befinden, der von der Übernahme einiger italienischer Firmen, unter anderem der Berlusconi-Mediaset, durch Vincent Bolloré einerseits, von der Weigerung Frankreichs, afrikanische Migranten die französisch-italienische Grenze passieren zu lassen anderseits und drittens von der französischen Sabotage der italienischen Bemühungen um eine vernünftige Aufteilung der MigrantInnen innerhalb der EU geprägt ist. Das dürfte sich bei Gelegenheit auch wieder ändern, aber vorderhand erhalten wir hier einen schönen Einblick in das, was die Substanz der europäischen Solidarität und sowieso der Gemeinsamkeiten innerhalb der Europäischen Union bildet.

Laut dem gleichen Espresso hat der Islamische Staat unterdessen seinen logistischen Hauptsitz ebenfalls nach Libyen verlagert. Die Befehle für die Anschläge in diesem Jahr, vor allem in England, seien alle von dort aus ergangen, zum Teil über Italien, welches halt nach wie vor nicht nur über das Erdöl an Libyen angebunden ist, und in einem Fall über die Vereinigten Staaten. Das führt mich in einer besonderen Schlaufe wieder zurück zur Vorstellung, dass ein Menschenleben sozusagen heilig sei, die unserem, also dem europäischen Denken zugrunde liegt. Gerade in diesem Punkt heben sich die Vögel vom Islamischen Staat oder von Al Kaida oder was auch immer aus irgendwelchen Trümmern neu entstehen mag, von unseren Vorstellungen ab. Wenn wir einmal den ideologisch-religiösen Schleier von solchen Organisationen entfernen, dann bleibt eine für mich schlicht und einfach unverständliche Verachtung, nicht nur des fremden, sondern in erster Linie des eigenen Lebens. Wer kommt schon auf die Idee, sich mit einem Jubelruf in die Luft zu sprengen? Die Abgründe des menschlichen Wesens sind mir von der Beschreibung her bekannt, ich traue mit anderen Worten allen jederzeit das Schlimmste zu, inklusive meiner selber, während ich gleichzeitig felsenfest davon überzeugt bin, dass dieses Schlimmste nie eintreten wird oder dass weder ich noch meine Mitmenschen je dazu in der Lage wären; aber es ist mir bekannt, ich kann damit etwas anfangen. Nicht aber diese Jubel-Mörder, da komme ich einfach nicht mit.

Offenbar gibt es aber immer noch ein paar Vögel, die sich von solchen Taten irgendwelche positiven Folgen für ihre, absolut im Dunklen liegenden Projekte erhoffen. Auch da komme ich nicht mit. Das Einzige, was ich an handfesten Entwicklungen sehe rund um den Terrorismus, ist die Beschleunigung bei der Erfassung sämtlicher Daten aller Erdenbewohner und zweitens wohl auch bei der Erstellung von Programmen zur Verarbeitung dieser Daten. Aber soweit, dass ich behaupte, dass der internationale Terrorismus ein Erzeugnis der internationalen Datenkrake sei, soweit bin ich noch nicht.