"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Portovesme

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In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts beschloss die Regionalregierung, den Kohle­berg­bau in Sardinien wegen der schlechten Perspektiven einzustellen und stattdessen in Portovesme eine Aluminiumfabrik aufzustellen als Kristallisationspunkt für andere Industriebetriebe.
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09:54 min, 18 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 12.09.2017 / 13:42

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 12.09.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ein klassisches Beispiel für die traditionelle Industriepolitik, nicht nur in Italien. Aufgrund vermeintlicher oder aber wohl eher tatsächlicher Mängel bei der Führung des Unternehmens durch den Staat folgte im Jahr 1996 die Privatisierung; die US-amerikanische Alcoa erwarb den Betrieb und produzierte 15 Jahre lang Aluminium, nicht zuletzt dank verbilligten Energietarifen. 2011 beschloss die Alcoa-Zentrale, die Produktion einzustellen, da das Metall an anderen Standorten auf der globalisierten Welt weni­ger kostete. Da stellten sich die 1000 betroffenen Arbeiter auf die Hinterbeine. Sie protestierten in Cagliari, sie protestierten in Rom und hielten die Fabrik besetzt, unter anderem mit Pikettdiensten, welche sie mit Whatsapp organisierten. Im Moment sieht es so aus, als hätten sie Erfolg und als ob die Produktion im nächsten Jahr wieder aufgenommen würde, sobald die zuständigen Stellen sich mit Alcoa als Verkäuferin und dem neuen Besitzer einig geworden sind.

Eine schöne Geschichte, nicht zuletzt deswegen, weil sie eine Ausnahme ist, aber auch an der Aus­nahme kann man verschiedene Dinge ablesen, zum Beispiel dass die Industriepolitik des Staates bei allen Mängeln doch etwas bewirken kann, und sei es eine der energieverschwendendsten Pro­duk­tions­arten, die man sich vorstellen kann mit all den Fragen bezüglich der Stromproduktion, die idealer­weise dann doch wieder aus Kohlekraftwerken stammt, aber das ist mir in diesem Fall nicht bekannt. Bekannt ist mir dafür, dass im Rahmen des definitiven Verkaufs auch die Frage der Be­sei­tigung der Umweltschäden bereinigt werden muss, welche sich aus der Produktion von Aluminium ergeben und die vor allem das Grundwasser bedrohen. Der klassische Konflikt zwischen Umwelt und Wirtschaft, eben.

Heroisch ist die Geschichte dort, wo es um die Erhaltung einer industriellen Wertschöpfungskette mit den damit verbundenen Arbeitsplätzen geht. In den Ländern im Norden ist man eher stolz dar­auf, wenn man die Umwandlung der Industrielandschaft in eine Dienstleis­tungs- oder Digital­wirt­schafts-Landschaft zuwege bringt; aber die klassische Produktion sorgt auf jeden Fall weiterhin für Beschäftigung und erlebt, je nach Spezialisierungsgrad, sogar einen Wieder­aufschwung. Offenbar sind die Aluminiumpreise auf dem Weltmarkt unterdessen wieder so hoch, dass sich der Betrieb wieder lohnt.

Allerdings gibt es diese Arbeitsplätze beziehungsweise ihren Erhalt nicht gratis. Im Businessplan sind Investitionen von 100 Millionen Euro vorgesehen, welche zu einem Drittel vom neuen Unter­nehmen aufgebracht werden; dazu kommen Anleihen, und einen kleineren Teil steuert die Öffent­lichkeit bei. Für diese Beteiligung hat selbige Öffentlichkeit wohl einigermassen ausgerechnet, wie sich diese 1000 Arbeitsplätze für die Gegend in Porto­ves­me auswirken. Wenn wir von durch­schnitt­lich 2000 Euro Lohn pro Monat ausgehen, sind dies 24 Millionen im Jahr, an und für sich keine wirklich berauschende Summe, die aber über Ausgaben für Mieten oder Wohnungsunterhalt sowie im Konsumsektor innerhalb nützlicher Frist ein Mehrfaches dieser Summe an Wertschöpfung auslösen, ganz abgesehen von den Steuern, die der Staat einnimmt, anstatt solche Summen für Arbeitslosengelder ausgeben zu müssen. Dazu kommt die Wertsteigerung oder wenigstens ausblei­bende Wertminderung für die Wohn- und Geschäftsliegenschaften, welche durchaus im Bereich von 100 Millionen Euro und mehr liegen kann.

In einem antikapitalistischen Vokabular könnte man kommentieren, dass sich die Arbeiter erfolgreich dafür eingesetzt haben, weiterhin ausgebeutet zu werden, bloß sieht man hier recht deutlich die Grenzen des antikapitalistischen Vokabulars, das uns nämlich strikt keine Alternativen zu diesen klassischen Ausbeutungsformen anbietet, mindestens nicht im konkreten Fall.

In Sardinien boomt daneben der Tourismus, welcher im Zeitalter der schrankenlosen Mobilität für die Menschen im reichen Norden zu einem derart sicheren Wirtschaftsstandbein geworden ist, dass sich verschiedene Hauptattraktionen wie Venedig oder Barcelona bereits über die schiere Menge an Touristen beschweren. Aus Sardinien sind mir solche Töne noch nicht bekannt; allerdings lagern sich hier seit Jahrzehnten auch überdurchschnittlich viele Superreiche ab, von welchen der Berlus­coni nur die sichtbare Spitze des Geldberges darstellt. Deshalb erscheint die Geschichte der Alu­mi­nium­fabrik noch um eine Dimension absurder. Denn trotz allem wird aus Sardinien im Leben kein richtiger Industriepool, auch wenn der Rohstoffgigant Glencore vor Ort eine Zinkfabrik betreibt.

Andere Regionen in Italien haben nicht soviel Glück gehabt, zum Beispiel Apulien, wo die tradi­tio­nelle Produktion von Schuhen schon vor Jahren zu praktisch 100 Prozent abgewandert ist nach Albanien, und auch andere Sektoren, welche sich dort sporadisch gehalten haben, zum Beispiel das Zurecht­schnei­dern und Zusammennähen von Jeans, sind abgestorben, weil die Jeans unterdessen in Rumänien gefertigt werden. Es sei denn, sie werde in Geheimlabors am Rand italienischer Großstädte von chinesischen und vielleicht zunehmend auch von lokalen Unternehmen gefertigt, welche sich illegaler Arbeitskräfte bedienen, denen sie noch weniger zahlen müssen, als es die Firmen in Albanien und Rumänien mit ihren jeweiligen Beschäftigten tun. Trotzdem halten sich diese Regionen einigermaßen über Wasser, ohne dass mir persönlich bisher richtig brauchbare Informationen untergekommen sind, wie das Ganze denn wirtschaftlich funktionieren soll. Fest steht nur, dass es funktioniert. Und so ist es vermutlich mit dem Leben nach dem Zeitalter des Industrialismus insgesamt: So richtig eine strukturelle Vorstellung davon, was sich da gerade abspielt oder gar entwickelt, hat eigentlich niemand; der Blick der Ökonominnen und Ökonomen ist gebannt von den früheren industriellen Mechanismen zum einen, von der Digitalwirtschaft zum anderen, und wie die Gelder, welche zum Leben nötig sind, in andere Sektoren und Regionen fließen, davon hat man keine richtig gründliche Idee. Auf jeden Fall, und das ist die beruhigende Botschaft, ist die Vitalkraft in den entwickelten Ländern groß genug, um auch Strukturkrisen wie im Süden Italiens zu überstehen.

Sehr viel gescheiter bin ich allerdings nach diesen Gedankenübungen nicht, bloß um eine Ge­schich­te reicher, die ich sonst nicht so häufig lese. Ich bin mich eher gewohnt an die Katastrophen­mel­dun­gen wie den Umweltalarm rund um die metallverarbeitenden Betriebe in Taranto, die Ilva, die man einfach nicht schließen kann, weil sonst die Arbeitsplätze perdü gehen, und sanieren kann man das Debakel auch nicht, weil das zu teuer ist und die Firma schließen müsste, worauf die Arbeitsplätze perdü gehen. Solch Meldungen bestimmen weitgehend den Diskurs über Industrialisierung und Deindustrialisierung, und ich fürchte, dass diese Meldungen zwar zutreffend sind, aber durchaus nicht die wirtschaftliche Realität beziehungsweise die erwähnte Vitalkraft abbilden.

Eine andere Sorte von Vitalität hat sich in Brasilien entwickelt. Unter dem Präsidenten Lula wurde die Korruption von einem Eliten- zu einem Breitensport, was möglich wurde dank den Erdöl­funden im Atlantik mit den Möglichkeiten, den neuen Reichtum auch breiter zu verteilen, nicht zuletzt mit verschiedenen Sozialprogrammen, von welchen die Armen auch tatsächlich profitierten. In der Zwischenzeit hat sich nicht nur der Erdölreichtum abgeschwächt, sondern ist von den Programmen wenig geblieben, von der Korruption dagegen alles, und jene Person, welche nicht einmal den Hauch eines ideologischen oder politischen Mäntelchens über diese Verhältnisse legen will, ist gegenwärtig Präsident, ein gewisser Herr Temer, dem ich gar nicht in erster Linie seine Korruptheit vorwerfen will, sondern folgende Nachricht, die mich letzte Woche erreicht hat: Irgendein Indianerstamm in der Nähe von Sao Paolo erhielt vor zwei Jahren die Zusicherung, ein Gebiet von etwas über 500 Hektaren, also 5 Quadratkilometer, künftig als Reservat sein eigen nennen zu dürfen. Nun hat Präsident Temer erklärt, es habe sich hier um einen Fehler der Administration gehandelt, die effektive Fläche betrage nicht 500 Hektaren, sondern nur 15 Hektaren. Nun ist es derart sonnenklar, dass Temer lügt, und zwar ist ebenfalls sonnenklar, dass er lügt, damit ein Kollege von ihm, der ihm dafür fünfhunderttausend Euro geboten hat, auf besagtem Stammes­gelände irgendein kommerzielles Projekt durchziehen kann, dass man sich wirklich fragen muss, welche gesellschaftliche oder politische Aktion in Frage kommt, um dieses ganze Gesocks von der Macht zu entfernen. Meine persönliche erste Reaktion war jene, dass man diesen Temer nun einfach ohne Prozess erschießen muss. Wenn einer als Präsident derart ungestraft sämtliche Gesetze und Beschlüsse umstoßen kann, sobald ihm ein Bestechungsgeld winkt, dann kann man keine Geduld mehr haben, bis sich die Verhältnisse ändern, dann muss man den sofort beseitigen, es handelt sich hier um einen Vorwurf ad personam, neben dem Vorwurf ans ganze System. Aber das ganze System sollte man dann doch auch noch hintendrein weg bombardieren. Gibt es, beim Teufel, in Brasilien keine gesellschaftliche und politische Kraft, welche die Reformation des ganzen Staats­wesens von Grund auf an die Hand nimmt? Könnte vielleicht bitte die Armee wenigstens mal einen Militärputsch inszenieren? Und die wichtigste Frage: Weshalb gibt es keine politische Bewegung, welche neben all den offensichtlichen Vorwürfen an die regierenden Dreckskerle auch einen konkreten Vorschlag auf den Tisch legt, wie das zu verändern wäre?

Vielleicht ist dieses Land tatsächlich vollständig durchseucht, so, wie man Italien hin und wieder als komplett durchwachsen vom Mafia-Geschwür wahrnimmt. Rein rational muss man einräumen, dass auch dies eine Organisationsform ist, welche offenbar nach wie vor dafür ausreicht, dass das Land, also hier Brasilien, eine durchaus wettbewerbsfähige Industrie aufrecht erhält. Vielleicht ist es der internationalen freien Marktwirtschaft tatsächlich völlig schnuppe, unter welchen Rahmenbedingungen sie sich entfaltet, Hauptsache, sie kann sich entfalten. Aber ehrlich gesagt, bei aller Kritik an der internationalen freien Marktwirtschaft: So etwas hätte ich von ihr nicht erwartet.