Quergelesen 18. Juni 2019

ID 95886
 
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Rhetorische Fragen(https://bit.ly/2x1BRQt) - Rechter Terror als neue Normalität?(https://bit.ly/2KXIFqx) - Freie Gedenkstättenpädagog*innen der
KZ-Gedenkstätte Neuengamme: Stellungnahme zur Rede von Dr. Carsten Brosda, Senator für Kultur und Medien, auf der offiziellen Gedenkveranstaltung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme am 3. Mai 2019 (Text siehe unten) - Kulturelles Prekariat und Neoliberalismus mit Hippie-Touch (https://bit.ly/2x3dF0h)
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59:43 min, 68 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.06.2019 / 13:44

Dateizugriffe: 3029

Klassifizierung

Beitragsart: Magazin
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Andere, Jugend, Kultur, Politik/Info
Serie: Quergelesen
Entstehung

AutorInnen: red quergelesen
Kontakt: quergelesen(at)querfunk.de
Radio: Querfunk, Karlsruhe im www
Produktionsdatum: 18.06.2019
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
PM: Hamburg, 11.06.2019 - Stellungnahme

Nie Wieder Antifa?
SPD Senator Dr. Carsten Brosda benutzt Gedenkfeier in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, um Antifa zu diskreditieren!

Am 3.Mai 2019 fand in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme die alljährliche offizielle Gedenkveranstaltung anlässlich des 74. Jahrestages des Kriegsendes und der Befreiung der Konzentrationslager statt. Das Programm der Gedenkfeierlichkeiten bestand aus vier Reden, einem Filmprojekt von Schüler*innen der Ida Ehre Schule sowie musikalischer Begleitung durch den Neuen Chor. Auch in diesem Jahr waren wieder mehrere Überlebende des KZ Neuengamme aus verschiedenen Ländern angereist, um an der Gedenkfeier teilzunehmen, der ermordeten Menschen zu gedenken, sowie eine Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit anzumahnen - und für ein „Nie Wieder“ einzustehen. Die Reden des KZ-Überlebenden Karl Paiuk aus der Ukraine sowie die Rede von Helle Vibeke Sørensen, deren Vater Häftling des KZ Neuengamme war, bildeten für uns einen besonders wichtigen und bewegenden Programmpunkt der Gedenkfeier. Wir danken ihnen dafür, und möchten herausstellen, dass die Gedenkveranstaltung im Gesamten auch in diesem Jahr für
uns ein sehr gelungenes und wichtiges Zusammenkommen darstellte. Gleichzeitig aber empfinden wir es als unser dringendes Bedürfnis und als politische Notwendigkeit, zur Rede des Senators für Kultur und Medien, Dr. Carsten Brosda von der SPD, explizit kritisch Stellung zu beziehen. Inmitten einer Darstellung der Nachkriegszeit als Erfolgsgeschichte eines geläuterten Deutschlands sagte er wörtlich:

„Wenn heute der Antifaschismus zum breiten Konsens erklärt wird, so bezieht sich das auf die Feststellung der gemeinsamen Verantwortung im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Aber es bedeutet nicht, dass plötzlich auch alle weiteren ideologischen Positionen der so genannten Antifa plötzlich breite gesellschaftliche Resonanz erwarten dürfen.
Wer die offene Gesellschaft will, in der tagtäglich im Miteinander aufs Neue entschieden werden kann, wie wir zusammenleben wollen, dem ist jede Begründung
eines geschlossenen Gesellschaftsbildes – ob von ganz rechts oder von ganz links, zuwider. Traditionelle und nicht zu hinterfragende Wahrheiten bergen die Gefahr der Unfreiheit in sich.“

Mit diesem kritischen Verweis auf die heutige „so genannte Antifa“ diskreditiert Brosda antifaschistische Aktivitäten und Aktivist*innen. Wir empfinden dies als äußerst unangemessen. Das KZ Neuengamme war ein Ort, an dem tausende Menschen ermordet wurden, weil sie sich für unterschiedliche Formen des Widerstands gegen die Nationalsozialist*innen entschieden haben. Es überrascht uns nicht, dass Senator Brosda nicht mit allen Formen des Antifaschismus d‘accord geht, historisch wie gegenwärtig. Dass er aber die Gedenkfeier als Bühne für die eigene politische Agenda nutzt, macht uns wütend. Die "so genannte Antifa" wird hier, wie in rechten Kreisen üblich, als Feindbild genannt, ohne inhaltlich zu benennen, was die angeblichen Gefahren eben dieser sein sollen. Mit seiner Attacke knüpft Brosda an eine Tradition an, mit der antifaschistisches Engagement, würdevolles Gedenken und eine reale Entnazifizierung lange Zeit marginalisiert wurden.

Scharf kritisieren möchten wir auch den Rückgriff des Senators auf die sogenannte „Extremismus-Theorie“, mit der Formulierung „[...] geschlossene Gesellschaftsbilder - ob von ganz rechts oder ganz links [...]“. Gesellschaftliche Probleme werden dabei
in vermeintlichen Extremen verortet. Dies impliziert, es gebe eine gute, neutrale, demokratische „Mitte“, die von den Rändern bedroht werde. Damit entledigt sich die sogenannte Mitte gleichsam der Kritik bzw. der Reflektion auf eigenen Rassismus,
Antisemitismus, Sozialdarwinismus und weitere Ressentiments. Dies ist eine Annahme, der sowohl ein Blick in die Geschichte, als auch gegenwärtig beispielsweise die Ergebnisse der Leipziger „Mitte-Studien“ widersprechen.
Zudem werden linke und rechte politische Weltbilder pauschal gleichgesetzt, ohne eine konkrete Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Inhalten. Überlegungen dazu, wie man die Gesellschaft gestalten könne, um allen Menschen ein gutes Leben
zu ermöglichen, seien im Grunde dasselbe wie menschenverachtendes Denken. Menschen, die sich gegen Neonazis und Rassist*innen einsetzen, erscheinen in dieser Gleichsetzung als deren Pendant. Wir weisen diese eindimensionale Darstellung zurück!

Rätselhaft ist uns darüber hinaus, wo und wann es diesen vermeintlichen Konsens, von dem Brosda spricht - „das Versprechen 'Nie Wieder'“ - faktisch in der deutschen Nachkriegsgesellschaft gegeben habe. Konsens war vielmehr das Beschweigen der ationalsozialistischen Verbrechen, die Reintegration der Täter*innen und die Weigerung, ehemals Verfolgten öffentlich eine Bühne zu geben geschweige denn sie angemessen zu entschädigen. Dies zeigt sich auch konkret in der Entstehungsgeschichte der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Der von der SPD geführte Hamburger Senat ließ, statt eine KZ-Gedenkstätte zu planen, zwei Gefängnisse auf dem Gelände errichten und verunmöglichte damit ein Gedenken quasi baulich. Nur dem jahrzehntelangen Kampf von KZ-Überlebenden, deren Angehörigen und Häftlingsverbänden ist es zu verdanken, dass 2005 letztlich doch die heutige KZ-Gedenkstätte eröffnet wurde. Damit blieb jahrzehntelang auch die
Verantwortung der Stadt Hamburg für die Errichtung seines Konzentrationslagers unaufgearbeitet. Jahrzehntelang hörte man den Überlebenden des KZ Neuengamme nicht zu. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Debatte um eine Gedenkstätte am Stadthaus, ehemalige Gestapo-Zentrale. Die Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg ist mitverantwortlich dafür, dass die vertraglich fixierte Gedenkstätte zum Skandal geworden ist, weil die Behörde es unterlässt, den privaten Investor unter Druck zu setzen. Die Erinnerung an den Widerstand und an die von der Hamburger Polizei im Nationalsozialismus Ermordeten hat in Hamburg offenbar keine Priorität. Die rechte Sozialdemokratie zeigte sich darin immer wieder als treibende Kraft, weil sie beispielsweise jahrzehntelang Häftlingsverbände als kommunistische Vorfeldorganisationen denunzierte. Wir erwarten, dass heute diese Ausgrenzung von Antifaschist*innen von Seiten der SPD als Fehler erkannt wird, jedoch wiederholte Brosda genau dieses Argument in seiner Rede.

Dass Herr Brosda in seiner Rede explizit die „so genannte Antifa“ als „Gefahr der Unfreiheit“ diskreditiert, ist dabei sicherlich kein Zufall, sondern viel eher ein indirekter Angriff auf die Schüler*innen der Ida Ehre Schule, deren Projekt „Erinnerung – was bleibt?“ Teil des Programms der Gedenkveranstaltung war. Die Schüler*innen der Ida Ehre Schule standen zuletzt medial in scharfer Kritik. Die AfD attackierte die Schüler*innen verbal, nachdem es im Online-Denunziations-Forum der AfD Hinweise auf antifaschistische Sticker in den Klassenräumen gegeben hatte. In Zeitungsartikeln und Statements verschiedener Politiker*innen wurde der Vorfall aufgegriffen. Die Schulleitung der Ida Ehre Schule kritisierte bereits, dass dabei von Medien und Teilen der Gesellschaft auf erschreckende Weise die Sichtweise der AfD unreflektiert übernommen wurde. Während es Solidaritätsbekundungen gab, auch gerade von anderen Hamburger Schüler*innen, folgt Brosda in seinem Angriff gegen linke Aktivist*innen letztlich der Argumentation der AfD. Statt Zivilcourage und antifaschistisches Engagement junger Menschen angesichts eines gesellschaftlichen Rechtsrucks zu unterstützen und positiv hervorzuheben, scheint sein Verweis in der
Rede gegen die "sogenannte Antifa" als weitere Spitze in Richtung der Schüler*innen der Ide Ehre Schule, der Antifaschismus diskreditieren und delegitimieren soll. Wir hingegen sind froh und erleichtert über junge Menschen, die sich dem Antifaschismus gestern und heute verpflichtet fühlen, und stehen in Solidarität mit den Schüler*innen und Lehrer*innen der Ida-Ehre Schule.

Deutschland ist ein Land, in welchem der Rechtsruck überall spürbar ist, nicht-weiße Menschen von Neonazis und rechtem Volksmob durch die Straßen gehetzt werden, flüchtende Menschen ganz bewusst dem Tod auf dem Mittelmeer ausgesetzt werden, die Bundesregierung menschenverachtende Abschiebe-Deals einerseits und gewinnbringende Waffenexporte andererseits abschließt. Ein Land, in dem nach aktuellen Schätzungen des bundesdeutschen Inlandsgeheimdienstes rund 24.000
Rechtsradikale organisiert sind, mehr als die Hälfte davon wird als „gewaltbereit“ eingeschätzt. Überall in Deutschland, Österreich und der Schweiz formiert sich seit Jahren ein Untergrundnetzwerk an Rechtsradikalen, mit dem Ziel, Menschen gezielt zu ermorden. Mitglieder in diesen rechten Netzwerken sind Polizist*innen und Soldat*innen, Reservist*innen, Beamt*innen und Mitarbeiter*innen des sogenannten Verfassungsschutzes, wie es z.B. über das sogenannte „Hannibal“-Netzwerk bekannt geworden ist. Rassistische und antisemitische Morde, Übergriffe und Diskurse, Sozialdarwinismus, Heterosexismus zeugen von Kontinuitäten rechter Ideologie und Praxis in Deutschland. All diese traurigen Zustände in unserer Gesellschaft wären einen Aufschrei wert und machen einen gelebten Antifaschismus notwendig. Statt diese realen Gefahren zu benennen, wählt Herr Brosda ausgerechnet die "so genannte Antifa" als Ziel seiner Kritik.

Staatliches Gedenken und Erinnerungskultur in Deutschland haben sich verändert. Während jahrzehntelang Schweigen über nationalsozialistische Verbrechen staatlicher und mehrheitsgesellschaftlicher Tenor war, änderte sich das in den 1990er Jahren. Schweigen und Abwehr wurden benannt und abgelöst von einem Bekenntnis zu den Taten. Strukturelle Kontinuitäten in der Eigentumsfrage oder durch Fortsetzung von NS-Unrecht gegen Zwangssterilisierte, personelle und ideologische Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus wurden jedoch nicht thematisiert, stattdessen wurde und wird der NS als vergangenes, klar abgeschlossenes „dunkles Kapitel“ dargestellt. Auch nach wie vor bestehende finanzielle Forderungen beispielsweise nach Entschädigung von Zwangsarbeiter*innen, Renten für die erzwungene Arbeit in den Ghettos oder Reparationszahlungen an Griechenland wurden und werden weiterhin seitens der deutschen Politik klar verweigert. Gleichzeitig betont man seit dieser erinnerungspolitischen Wende, Deutschland habe vorbildlich aus der Vergangenheit gelernt und alles sei umfassend aufgearbeitet. Gerade aus diesem vermeintlich besonders guten Umgang mit der eigenen Geschichte bildet man sich ein, dass Deutschland anderen Ländern moralisch überlegen sei. Dieser perfide Turn macht es möglich, aus der nationalsozialistischen Vergangenheit politisches Kapital zu schlagen. Staatliches Gedenken enttarnt sich in dieser Form als Lippenbekenntnis und die Teilnahme von Repräsentant*innen der Stadtpolitik an solchen Gedenkfeiern lediglich als Bühne der Selbstbeweihräucherung und Inszenierung des deutschen Aufarbeitungsstolzes. Carsten Brosdas Rede vom 3. Mai ist genau in dieser Linie zu verorten.

Das zeigt sich auch darin, dass Brosda Hamburgs gerade eben begonnenen Umgang mit der eigenen Kolonialgeschichte bereits als Positivbeispiel für politische Auseinandersetzung heranzieht.(1) Das seit Jahrzehnten kritisierte Schweigen und die von Aktivist*innen, allen voran auch wieder von Betroffenen, wie beim Kampf um die KZ-Gedenkstätte; erkämpfte Aufmerksamkeit wird sofort in ein zufriedenes Schulterklopfen umgebogen. Brosda bezieht nicht Stellung zu konkreten Forderungen der Ovaherero und Nama oder rassistischen Kontinuitäten, sondern lobt stattdessen die herbeifantasierte Erinnerungskultur und geriert sich einmal mehr als Aufarbeitungsweltmeister.

Wir fragen uns, wie der Senator Brosda die von ihm vielgelobte offene, vielfältige und antifaschistische Gesellschaft erreichen will, wenn die SPD die Gefahr von Rechts herunterspielt und sich stattdessen um Anschlussfähigkeit bemüht. Wenn sie sich nicht ganz klar und explizit mit Menschen und Gruppen solidarisiert, die tatsächlich für ein „Nie Wieder“ einstehen.

Für uns ist „Nie Wieder“ ein wichtiger, sogar unhinterfragbarer Grundsatz in unserer Arbeit. Als Gedenkstättenpädagog*innen begleiten wir jährlich zehntausende Menschen über das Gelände des ehemaligen KZ Neuengamme und tragen zu gelebter Erinnerung bei. Jeden Tag. Zentraler Aspekt unserer politisch-historischen Bildungsarbeit zur Geschichte des KZ Neuengamme sind auch die Kämpfe gegen das Vergessen in der Nachkriegszeit und unsere Verantwortung in der Gegenwart. Herr Brosda warnte in seiner Rede an anderer Stelle vor „raschen Urteilen und zu einfachen Schlüssen, die der Komplexität unserer Welt nicht gerecht werden” und schreibt diese Strategie Populist*innen zu. Eine solche Differenzierung hätten wir uns auch von ihm in Bezug auf die Antifa gewünscht. Von einer Anerkennung der Leistung von Antifaschist*innen für die KZ-Gedenkstätte Neuengamme, für Aufarbeitung und Erinnungskultur, mit der er sich nun brüstet, ganz zu schweigen. Oder auch der Leistung von engagierten Antifaschist*innen, die als aufmerksame Beobachter*innen der rechten Szene für die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit rechten Haltungen unerlässlich sind.
Bildungsarbeit an der KZ-Gedenkstätte wird diese Leistungen nicht ignorieren. Wir verstehen unsere Arbeit durchaus in antifaschistischer Tradition und möchten das nicht von Senator Brosda diskreditiert sehen.

Antifa ist nicht die Gefahr eines „geschlossenen Gesellschaftsbilds“, sondern die Entschlossenheit, gegen rechte Tendenzen, auch in der Mitte der Gesellschaft vorzugehen. Der SPD würde etwas mehr Entschlossenheit und Geschlossenheit -
gegen Rechts – ganz gut tun.

Diese Stellungnahme wurde von freien Gedenkstättenpädagog*innen der KZ-Gedenkstätte Neuengamme unterzeichnet.

Mail: guides-ng@gmx.de


(1)
„Es gibt Beispiele, bei denen - auch dank großen zivilgesellschaftlichen Engagements - ein Dialog zwischen unterschiedlichen Perspektiven begonnen hat. Das erste Beispiel betrifft die Aufarbeitung der kolonialen Geschichte und die Entwicklung einer postkolonialen Erinnerungskultur. Jahrzehntelang war dies hier in Hamburg, wie auch andernorts, kein Thema. Gerade in einer Hafenstadt wie Hamburg mit ihren zahlreichen Bezüen und kolonialistischen Verwicklungen geht dies zu den wichtigsten kulturpolitischen Aufgaben der Stadt. Hamburg stellt sich nun seiner Verantwortung. Und wir tun dies gemeinsam mit migrantischen Expertinnen und Experten aus den von
Kolonialismus betroffenen Gesellschaften und generell mit Vertreterinnen und Vertretern zivilgesellschaftlicher Gruppen und Communities. Denn De-Kolonisierung kann nur im Dialog und mit der Gelegenheit zum Perspektivwechsel stattfinden.“

Aus der Rede des Senator Brosda auf der Gedenkfeier anlässlich des 74. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung der
Konzentrationslager, KZ-Gedenkstätte Neuengamme 3.Mai 2019