Leistungsbilanzüberschuss, Hänsel und Gretel und das Ungeheuer aus Kallstadt

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Die Zeitungen sind voll davon dieser Tage: Deutschland hat den größten Handelsbilanzüberschuss aller Zeiten, aller Länder erzielt.Grund: Deuschland ist bei Industrieprodukten konkurrenzlos billig. Währungsdumping, Lohndumping - nicht erst seit Draghi.

Doch was hat das zu bedeuten? Ein Deutung von Jörg von Sonar Mannheim
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Upload vom 10.02.2017 / 13:19

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Klassifizierung

tipo: Kommentar
lingua: deutsch
settore/i di redazione: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
serie: sonar -aktuell-
Entstehung

autrici/autori: Jörg Albert
Radio: bermuda, Mannheim im www
data di produzione: 10.02.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Stupid German Money und Donald Trump

Alle wissen es: Die deutsche Wirtschaft exportierte 2016 viel mehr Waren und Dienstleistungen als sie importierte - und zwar für 260 Milliarden mehr. Damit haben “wir” 82 Millionen den 1,4 Milliarden Chinesen gezeigt, wo der Barthel den Most holt und die Japaner kommen auf einen Exportüberschuss von gerade einmal der Hälfte des deutschen..

Deutschland hat den größten Handelsbilanzüberschuss der ganzen Welt - und das bei eher mittelmäßigem Bruttoinlandsprodukt.

So gehen die Deutschen, die Deutschen gehen so!

Da gibt es noch das deutsche Wort “Leistungsbilanz” - eine um Dividendenzahlungen und Überweisungen erweiterte Handelsbilanz.

Doch eine Leistungsbilanz - klingt irgendwie so aufdringlich wie die Seitenbacher-Müsli-Reklame - gibt es nur bei uns.

Leistungsbilanz - Exportweltmeister

Im Englischen heißt Leistungsbilanz schlicht Current Account, also Laufende Abrechnung”, in allen anderen Sprachen eine Variante davon: spanisch Cuenta corriente, niederländisch Lopende rekening, türkisch Cari denge - übersetzt Aktuelle Bilanz. Keine andere Sprache verwendet den Begriff “Leistung” in der Beschreibung der laufenden Zu- und Abgänge einer Volkswirtschaft.

Aber mehr wie Zu- und Abgänge auf einem Girokonto ist das nicht. Und so ist im Polnischen wie im Russischen die Leistungsbilanz nichts anderes als das Wort für Girokonto.

Im Begriff “Leistungsbilanz” lebt ein bestimmtes vordemokratisches Verständnis von Volkswirtschaft. Die Wirtschaft eines Landes erbringt eine Leistung, Anstrengung: Kraft mal Weg durch Zeit. Wir halten zusammen und erbringen diese Leistung als Formierte Gesellschaft, wie das Ludwig Erhard formuliert hat - also genau das WIrtschaftsverständnis des absolutitischen Merkantelismus: Wirtschaft als Möglichmacher des Lotterlebens der Fürsten

Übertragen auf heute: wir alle sind eine Firma mit einem Rohertrag von derzeit 9 Prozent.

Soweit so schlecht, aber Überraschung!

Die Leistungsbilanz ist nur die halbe Wahrheit

Die Leistungsbilanz ist nur eine von zwei Komponenten der Zahlungsbilanz. Die andere Komponente heißt Kapitalbilanz. Addiert man Leistungsbilanz und Kapitalbilanz erhält man nach den Richtlinien des IWF per Definition den Wert NULL - von diversen grenzüberschreitenden Bargeldköfferchen einmal abgesehen.

Null wie in Nullsummenspiel. Null wie in “Wir haben Null Vorteil aus dem Leistungsbilanzüberschuss” Wir - im Sinne von normalsterbliche Einkommensbezieher oder -garnichtsbezieher.

Denn eine negativen Kapitalbilanz bedeutet im deutschen Fall Kapitalexport. Das weltweit mit deutschen Waren und Dienstleistungen verdiente überschüssige Geld bleibt auch irgendwo da draußen und fließt allerhöchstes als Vermögenseinkommen zurück in die laut besungene Leistungsbilanz.


Eine neue Variante der Marxschen Entfremdungstheorie: Die Früchte unserer Arbeit landen in der globalen Welt und bleiben auch dort als Schulden der globalen Welt. Für uns einfach weg.

Richtig Schwung aufgenommen hat der deutsche Leistungsbilanzüberschuss mit der Einführung des EURO ab 1999 und erst recht mit der Agenda-2010-Politik der Schröder-Fischer-Regierung ab 2003: Hartz IV, Rentenkürzungen, eine Flut von persönlichen Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, Lockerung des Kündigungsschutzes, die Einführung von Leiharbeit auf breiter Front und nicht zuletzt Lohnzurückhaltung ließen die deutsche Leistungsbilanz und damit Profit und Kapitalexport förmlich explodieren.

Der deutsche Euro war durch diese einseitige Reduzierung der Lohnstückkosten gegenüber dem der restlichen Eurozone wie gegenüber Nicht-Euro-Ländern dramatisch unterbewertet, deutsche Produkte im Euroland konkurrenzlos billig.

Das führte - siehe oben - zu weiterem deutschen Kapitalexport als Banken- und Staatsverschuldung der Euro.Mittelmeerländer, zu Privatisierungen gemeinschaftlichen Eigentums. Deutsches Kapital treibt heute seine Außenstände ein.

Die Mechanismen wirken auch außerhalb der Eurozone.

Das Vereinigte Königreich importierte 2015 aus Deutschlandd Waren und Dienstleistungen im Wert von 89 Milliarden Euro gegenüber 38 Milliarden an Exporten - ein Handelsbilanzdefizit von 51 Milliarden allein im vorletzten Jahr, Und nach der Logik der Zahlungsbilanz haben Staat und Gesellschaft in GB dadurch 51 Milliarden mehr Schulden..

Adam Smith, schottischer Moralphilosoph und Begründer der klassischen Nationalökonomie, kritisierte das bereits im 18. Jahrhundert als “Beggar thy neighbour” - saniere die eigene Wirtschaft auf Kosten deines Nachbarn, der zum Bettler wird.

Das Erstarken der nationalistischen UKIP, Brexit-Referendum und Abwertung des britischen Pfundes sind so zu erklären. Lassen wir uns überraschen, was die französischen Präsidentschaftswahlen diesen April und Mai uns bringen werden.

Die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen haben uns bereits überrascht und auch hier sollte der Zusammenhang zwischen Leistungsbilanzdefizit, Zahlungsbilanz und Verschuldung betrachtet werden:

So wie Deutschland global den größten Leistungsbilanzüberschuss aufweist, so stehen die USA am anderen Ende der Skala mit einem Leistungsbilanzdefizit - jetzt current account deficit - von 463 Milliarden USD im Jahre 2015. Kein anderes Land der Welt weist ein größeres Defizit auf. Und kein Staat bringt es auf mehr Schulden als die USA: 19 Billionen USD derzeit.

Ganz vorne mit dabei: Hänsel und Gretel aus Deutschland. Nach Angabe des Auswärtigen Amtes hatten die USA 2015 mit Deutschland das zweithöchste Handelsbilanzdefizit; es erreichte einen Umfang von USD 74,2 Mrd.. Ein höheres Defizit verzeichnen die USA lediglich mit China (USD 365,7 Mrd.).

Aber wie kann das sein: Wenn sich Griechenland gegenüber den deutschen Banken verschuldet, lässt Wolfgang Schäuble den Hafen von Piräus und die regionalflughäfen privatisieren, streicht Renten- und Gesundheitssysteme zusammen, lässt die Verbrauchersteuer erhöhen. Wenn sich die USA verschulden, verscherbeln sie dann den New Yorker Hafen oder La Guardia?

Nein, die USA waren zumindest bisher das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Das Geheimnis: Current Account Defizite wurden mit Kapitalimporten meist in Form von Erwerb von US-Staatsanleihen - Treasurys - finanziert. Dann stimmt auch wieder die Zahlungsbilanz. Und da in der britischen Tradition die Summe der Staatsverschuldung identisch ist mit der Menge an USD überhaupt, die die Federal Reserve Bank druckt oder elektronisch erzeugt, funktioniert dieses System des doppelten Defizits, Leistungsbilanz- und Staatsdefizit, so lange wie die Handelsbilanzüberschussländer, vor allem China und Japan, über ihre Zentralbanken ihre erzielten USD in US-Staatsanleihen tauschen oder an der Wall Street investieren.

Hänsel und Gretel kauften eher wenig US-Staatsanleihen. Hänsel und Gretel gingen mit ihren überschüssigen USD direkt an die Wall Street - Stupid German Money.

Denn ach weh!

Zitat
“So rechnet Professor Gunther Schnabl von der Universität Leipzig vor, dass den seit 2000 kumulierten Leistungsbilanzüberschüssen von 2,6 Bio. € nur 1,6 Bio. € an Nettoauslandvermögen gegenüberstünden, folglich rund 1 Bio. € bei verschiedenen Ereignissen wie den Subprime- und Euro-Krisen verloren gegangen sei.”
Zitat Ende

so Andreas Uhlig Neue Zürcher Zeitung vom 6. Februar 2017

Eine Billion des deutschen Leistungsbilanzüberschusses - der arbeitenden Bevölkerung vom Munde abgespart - sind in Rauch aufgegangen. Die Wölfe der Wall Street haben mit Financial Engineering ihre Kokspartys, Privatjets und BMWs bezahlt.

Kein Wunder, dass deutsche, chinesische oder japanische Exporteure immer weniger eine Zukunft darin sehen, die verdienten UDS ausgerechnet wieder in die USA zurück zu tragen.

Spätestens nach der Finanzkrise 2008 stockt das Modell der Unbegrenzten Möglichkeiten. Es fließt nicht genügend Kapital zurück in die USA. Und der Kern des Weltwirtschaftsordnung nach dem Zusammenbruch des Bretton Woods System 1971 droht damit unterzugehen. Seit dieser Zeit war die Welt bereit Staatsanleihen statt Gold für ihre verdienten Dollar zu tauschen.

So kann man die Fronten des US-Präsidentschaftswahlkampfes auch verstehen. Hillary Clinton warb mit einer aggressiven Ausweitung einer interventionistischen - sprich militarisierten - Außenpolitik, Stichwort Libyen, Ukraine, Syrien für eine Fortsetzung einer US-dominierten Weltwirtschaft, Bernie Sanders mit sozialdemokratischem und Donald Trump mit nationalistischem Vokabular warben für Reindustrialisierung, Infrastrukturmaßnahmen, Lohnsteigerungen und eine eher weniger aggressive Außenpolitik.

Dem etablierten Parteiapparat der Demokraten in Washington gelang es Bernie Sanders auszubooten, Trump konnte er nicht verhindern. In einer direkten Gegenüberstellung Trump gegen Sanders wäre Trump heute kein Thema mehr. Doch das etablierte Washington und die Gemeinschaft der Exportüberschussländer - von Japan bis Deutschland - wollten das unbedingt verhindern. Jetzt gibt es lange Gesichter allerorten.

Parallel dazu Frankreich: EU wie das etablierte Frankreich wollen keine Marine Le Pen als Präsidentin. Aber noch viel weniger würden sie einen Kandidaten der Linken unterstützen wollen, der sich klar gegen eine französische Agenda-Politik positioniert. Da kann es auch lange Gesichter geben.

Doch zurück in unser eigenes Elend:

All die Jahre der sog. “notwendigen Arbeitsmarkreformen”, der “Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit”, der “Stärkung der Selbstverantwortung” der gesetzlich Versicherten haben nur dazu geführt aberwitzig hohe Auslandsvermögen anzuhäüfen, die - aus der Sicht desselben Auslandes - immense Schulden an deutsche Gläubiger darstellen. Der Großteil des Kapitaexports floss nicht in produktive Investitionen, sondern in Bailouts der Banken der Defizitländer der EU, deren Begleichung jetzt zum Vorwand zur Plünderung deren öffentlichen Eigentums und zur drastischen Einschränkung des Lebensstandards, zum Zusammenbruch staatlicher Infrastrukturen und Gesundheitssysteme benutzt wird.


Was hätte eine Industrie, die auf eine ausgeglichene Handelsbilanz verpflichtet wird, eine umgekehrte Verteilung diesmal von oben nach unten die Lebensqualität aller hier Lebender zum Guten verändern können?

Was passiert, wenn Exporte mit Sozialsteuern belegt werden?

Eine 30-Stunden-Woche - sagt man uns - schwächt die Wettbewerbsfähigkeit. Na hoffentlich! Außerdem gibt es dann keine Arbeitslosen mehr.

Was hätte man mit den abgeflossenen 2,6 Billionen Euro an Entwicklungsprojekte der Dritten Welt ins Leben rufen können, wie viele Menschenleben hätten gerettet, wie vielen Flüchtlingen Unterschlupf gewährt werden können?

Das wäre eine echte Leistungsbilanz.


Verwendete Links


Zach Cartwright: If anyone doubts Bernie Sanders would’ve crushed Trump, show them this
November 10, 2016
http://usuncut.com/politics/bernie-sande...

Andreas Uhlig in seinem Beitrag “Kritik Trumps an Deutschland
Was ist am Manipulationsvorwurf dran?” aus der neuen Zürcher Zeitung vom 6. Februar 2017
https://www.nzz.ch/finanzen/kritik-trump...