Das social Distel-Ding – Ein Jahr und die Naivität weicht der Wut

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Teil 64 der Kolumne aus dem social distancing - Diesmal mit der Feststellung, dass wir anscheinend alles haben was wir brauchen um mit der Impfung die Krise zu lösen, außer das Recht dazu.
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mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 28.01.2021 / 17:55

Dateizugriffe: 3070

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Arbeitswelt, Wirtschaft/Soziales
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 28.01.2021
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ein Jahr ist es jetzt her, dass der Virus nach München kam. Ein Jahr in dem die social Distel-Dinger Sprachlevel B2 im Telekolleg „Epidemiologisch“ erlangt haben, während andere Fähigkeiten wie Tanzen, Gruppengespräche führen und grundsätzliches Vertrauen in andere Menschen um mindestens zwei Level abgebaut haben. Ein Jahr in dem Nachrichten plötzlich den Stellenwert bekommen haben, dass sie doch jeden betreffen. Ein Jahr, das sich anfühlt wie eine Ewigkeit.
Der Blick zurück auf die eigenen Gedanken vor einem Jahr gleicht einem Märchen: Und nach der Kneipe gingen sie heim und lebten glücklich und zufrieden in alle Ewigkeit. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute…
Nur leider leben die Heldinnen und Helden unseres Märchens eben nicht glücklich und zufrieden. Eher vereinzelt und verstört von der allgemeinen Situation, die ein Jahr nach den ersten Berichten nun wieder mit Berichten einer Mutation aufwartet. Eine Situation die irgendwie ähnlich klingt wie letztes Jahr: Es ist ein neues Virus entdeckt worden, wir müssen daher die Grenzen schließen um das Virus draußen zu halten und bangen, dass es sich bei uns nicht ausbreitet, auch wenn wir eigentlich gar nichts dazu sagen können, weil wir noch nicht großflächig testen und daher niemand mit Bestimmtheit sagen kann, ob die Mutante schon wirklich unter uns ist…
Aber immerhin gibt es da ja theoretisch den Impfstoff, oder die Impfstoffe, die, wenn nur in ausreichender Zahl verimpft, als der Ausweg aus dem Fiasko dienen sollen.
Die Impfstoffe stehen da als der technologische Höhepunkt der großen Menschheitsanstrengung dieses Jahrtausends: Die Bekämpfung der Jahrhundertseuche Covid-19!
Das klingt doch wundervoll. Die Klimax der gesammelten Betroffenheit, das Zusammenwachsen der Menschheit im Angesicht der größten Bedrohung, des großen kleinen Feinds Corona-Virus. Alle arbeiten wir zusammen um uns möglichst schnell wieder umarmen zu können. Die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden durch unsere Steuermittel dabei unterstützt in Rekordzeit Impfstoffe herzustellen. Die besten Logistikerinnen und Logistiker werden dafür eingesetzt, den Impfstoff in Rekordzeit in die Körper zu bringen. Und letztlich werden alle sich gegenseitig dabei unterstützen um dieses globale Trauma der Unsicherheit verarbeiten zu können.
Aber dieses social Distel-Ding ist naiv. Viel mehr zeigt sich, dass die Forderung nach Solidarität auch weiterhin an den Aussichten auf kurzfristige Gewinne abprallt. Schon als es noch hieß: „Flatten the curve“, fiel das Privatleben flach und dennoch haben sich viele Geschäftsführer, auch von IT-Unternehmen, gegen die Idee von Home-Office gewehrt. Letztlich könnte die Produktivkraft der Angestellten darunter leiden, wenn sie nicht direkt bei der Arbeit beobachtet werden können, schlimmer noch, wenn sie zuhause auch noch Kinder versorgen müssen. Und vielleicht lockte auch die Vorstellung, dass dieses kleine Fünkchen mehr Produktivität einen an der Konkurrenz vorbeiziehen lässt. Daran hat sich eigentlich nicht viel geändert.
In der Politik hat sich wie schon so häufig der Glaubenssatz bemerkbar gemacht: Die Marktteilnehmer reagieren rational und wir sind auf sie angewiesen, was geregelt gehört sind viel mehr die irrationalen Privatpersonen.
Hinzu kommt die Wahleinschätzung der Politiker*innen, die Markus „Hardliner im Herzen“ Söder wunderbar auf den Punkt gebracht hat:
„Nur wer Krisen meistert, wer die Pflicht kann, kann auch bei der Kür glänzen.“
Und so sehen wir jetzt zu wie sich Boris „vielleicht muss man den Virus akzeptieren“ Johnson nach anfänglichem Missmanagement nun zum Impf-Helden mausert, während die EU sich in Vertragsstreitigkeiten mit den Impfstoffherstellern verstrickt. Ursula von der Leyen, die vermutlich schon wieder viele Handys verloren hat, beruft sich jetzt auf eine moralische Pflicht der Impfstoffhersteller und verweist dabei auf schon geflossene Gelder und durchgehende Unterstützung der Forschung in Europa.
Was dieses naive social Distel-Ding aber etwas ratlos zurücklässt: Wir haben also Impfstoffe, wir haben Forscherinnen und Forscher, wir haben Labore und die Technologie, wir haben das Geld um die nötigen Materialien zu kaufen und die Menschen fürstlich zu bezahlen, wir haben also alles um Impfstoff für die Weltbevölkerung herzustellen und hoffentlich endgültig diese Krise zu beenden, nur haben wir anscheinend nicht das Recht dazu?
Die Vorstellung, dass es mal dazu kommen sollte, dass die Lösung eines Menschheitsproblems an vertrags- und patentrechtlichen Fragen scheitert, könnte einem Science-Fiction-Groschenroman entspringen. Nichts da: sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage! Sondern: Und sie klagten vor Gericht um das Recht zu bekommen bis ans Ende ihrer Tage frei von diesem Virus leben zu können!
Es hat den Anschein, als wären die Glaubenssätze: „Der Markt regelt alles“ und „Privateigentum ist die Grundbedingung für Freiheit“, schon so tief verankert, dass die an den entsprechenden Entscheidungen beteiligten Personen lieber die Weltbevölkerung rapide dezimiert sehen wollen, als den Markt in Unruhe zu versetzen. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich die zwei reichsten Menschen der Welt, Elon Musk und Jeff Bezos, aktuell gänzlich aus irdischen Problemen heraushalten und stattdessen über die Umlaufbahnen für Satelliten streiten.
Wer darüber nicht den Kopf schütteln kann, dass zwei Einzelpersonen, die zusammengenommen mehr Finanzmittel auf sich vereinen als das BIP von Bangladesch, einem Land mit 164,7 Millionen Einwohnern, sich lieber öffentlich über Außerirdisches streiten, als an der Lösung der Menschheitsaufgabe mitzuarbeiten, dem oder der... ach lassen wir das… Kopfschütteln ist eh unnütz. Es braucht Wut!
Wut darauf, dass es scheinbar nicht Gewinn genug ist die Menschheit zu retten. Wut! Vielleicht kann uns die ja die Energie geben, die wir für die gemeinsame Kraftanstrengung brauchen, die nötig ist um das zu retten was noch zu retten ist: Menschenleben und eine Welt, die knapp am Massenaussterben und der Katastrophe eines außer Kontrolle geratenden Klimawandel vorbeischrammt. Wut oder Verzweiflung, wir haben die Wahl.

Kommentare
29.01.2021 / 18:03 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 29.1.. Vielen Dank!
 
01.02.2021 / 09:53 Pia, Radio Dreyeckland, Freiburg
gespielt im Morgenradio
Danke!