Das social Distel-Ding - Im Auge des Orkans

ID 109129
 
AnhörenDownload
Teil 70 der Kolumne aus dem social distancing. Diesmal mit dem Versuch den kleinen Moment zwischen Angst vor der Pandemie und dem Stress nach der Pandemie festzuhalten und warum die FDP dabei nervt.
Audio
06:03 min, 5673 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 19.05.2021 / 18:35

Dateizugriffe: 2337

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Wirtschaft/Soziales
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 19.05.2021
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Fear of missing out. Das war vor nicht allzu langer Zeit mal der Begriff für ein Phänomen das diejenigen erfasst hat, die nicht ins Bett gehen wollten und sich stattdessen die Nächte um die Ohren schlugen. Die Angst, etwas zu verpassen, die Überforderung in der Flut aus begehrlichen Angeboten, das Stressempfinden beim Versuch das Leben wirklich in vollen Zügen zu erleben, bei einem Überangebot an ständig verfügbaren Möglichkeiten. Immer gesteigert dadurch, dass wir einander mit Fotos und Videos neidisch machten und in den asozialen Medien unser Erleben teilten ohne uns auf das wirkliche Erleben zu konzentrieren.
Und jetzt? Jetzt ist klar: Wir haben viel verpasst. Konzerte, Theater, Partys, Festivals, Spieleabende und Urlaube.
Jetzt haben wir die Fotos und Videos von damals und können immer wieder in der Erinnerung schwelgen, wenn uns nicht unwohl wird, bei der Betrachtung der hemmungs-, masken- und abstandlos Feiernden.
Die Fear of missing out ersetzten wir mit einer schon vor der Pandemie bekannten Gegenbewegung zum ständigen Aktionsdrang, die damals unter dem Hashtag #grannystyle verbreitet wurde. Statt jugendlichem Aktionsdrang wurde der „Style“ der Großmütter gefeiert. Es sich zuhause heimelig machen, Füße hoch und häckeln, mit Katzen kuscheln, langsam spazieren gehen, Kochen und Backen, die schnelle Welt vorbeirauschen lassen. Und eben das Blättern in Fotoalben, in Erinnerung an eine vergangene Zeit in der Mensch selbst noch aktiv sein wollte und konnte.
Nun sind die „Grannys“ geimpft, die Grenzen machen wieder auf, die Welt scheint vorsichtig aber stetig zu erwachen und sogar die als Spielverderber der Nation gescholtenen Expert*innen trauen sich von einem guten Sommer zu sprechen. Und dieses social Distel-Ding spürt die Verpassensangst wieder auftauchen…
Da ist dieses kleine Zeitfenster, dieser Moment, in dem die gesammelten aufgeschobenen Anforderungen an uns noch nicht wirklich eingefordert werden können und wir uns dennoch mit gutem Gewissen glauben wieder etwas mobiler bewegen zu können. Vielleicht ein paar Tage, die gedacht sein könnten, sich um uns, um unser eigenes Empfinden zu bemühen. Tage in denen wir kurzfristig verschont sein könnten von den andauernden Sorgen. Verschnaufen, Wunden lecken, die Belastung abfallen lassen, den harten Schutzpanzer abwerfen und ohne Angst nachfühlen, was in der letzten Zeit in uns alles kaputt gegangen ist.
Gefühlt ist es wirklich nur ein kleines Zeitfenster, das sich wohl anfühlt, wie ein Blick in den Himmel im Auge eines Orkans. Um einen herum wirbelt es, wütet die Zerstörung und ist nichts mehr sicher, aber dieser eine Moment, der Sonnenstrahl in der Mitte des Sturms, lässt es kurzzeitig vergessen, gibt Hoffnung.
So oder so ähnlich starten demnächst die Pfingstferien, öffnen die Grenzen, wird wieder vom Urlaub gesprochen, werden wieder Pläne geschmiedet. Und hier greift die Fear of missing out… Was, wenn dieses Zeitfenster verpasst wird? Es folgen: Wahlkampf, Klimawandel, Mutanten, wirtschaftlicher Abschwung, Inflation, verteuerte Lebensmittelpreise, weil zu Pfingsten nochmal Neuschnee kommen soll?
Hier bringt es die FDP mit ihrem Programmentwurf auf den Punkt und erhöht gleich den Stress: „Nie gab es mehr zu tun“
Ja, nie gab es mehr zu tun, nie gab es mehr nachzuholen. Freundinnen und Freunde müssen wieder umarmt werden, Trauernde und Verzweifelte müssen besucht werden, Feste müssen gefeiert werden, wichtigen Menschen muss persönlich gedankt werden, Kinder müssen sich austoben dürfen und und und. Aber das meint die FDP natürlich nicht.
Stattdessen soll dieser Slogan wohl ein Mutmacher sein, der sich bewusst mehr wie die Aussage eines Chefs anhört, der sich mit einem „Hopp hopp“ in den Golf-Urlaub verabschiedet, als das Merkelsche „Wir schaffen das“.
Denn die FDP will keine Steuererhöhungen oder neue Staatsverschuldung. Das heißt: Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt – ohne einen Blick dafür zu haben, dass vielen die Hände noch nass von ihren Tränen sind. Das heißt auch, dass der Orkan, den wir um uns herum in diesem kleinen Zeitfenster brausen hören, nicht nur aus den gesammelten Herausforderungen dieser ungewissen Zeit eines sich beschleunigenden Klimawandels und einer fortbestehend unklaren Pandemiesituation besteht.
Nein, viel mehr soll die Last des wirtschaftlichen Einbruchs auch weiterhin auf den Schultern aller verteilt werden, ganz egal ob die Pandemie wenige viel reicher und viele viel ärmer gemacht hat. Raus aus der Kurzarbeit, rein in die Überarbeitung. Raus aus der dröhnenden Stille der Einsamkeit im Home Office, rein in die Besprechungsräume, in denen Kennzahlen den Wert eines Menschen ausmachen.
Natürlich hat das Wahlprogramm der FDP nur einen kleinen Anteil an den kommenden Entwicklungen. Die Stoßrichtung die es einnimmt, ist allerdings eine die vielen social Distel-Dingern die Angst einflößen dürfte, den kurzen Moment des Aufatmens zu verpassen, bevor sie wieder die Zähne zusammenbeißen und noch mehr arbeiten sollen. All diejenigen, die in dieser Zeit durchgearbeitet haben, die Schulden aufnehmen mussten, die alles dafür gegeben haben ihre Aufgaben zu erfüllen und dabei auf ein wirkliches Leben verzichten mussten, bekommen jetzt gesagt: Hopp hopp, auf gehts, jetzt richtig ranklotzen und die Wirtschaft ankurbeln. Die Urlaubstage sind in der Kurzarbeit verfallen, die Ansprüche müssen erst wieder eingefahren werden, kommt damit klar.
Die einzige Erinnerung an die Pandemie soll dann ein Trauertag für die Verstorbenen sein? Nein, was es braucht ist ein Feiertag, an dem wir social Distel-Dinger unsere Stacheln abwerfen können und das Leben feiern. Dieser Orkan braucht mehr Augen, mehr stressfreie Zeitfenster, wir wollen durchschnaufen, ein Leben, für das es sich zu arbeiten lohnt. Aber noch ist es leider nicht so weit.

Kommentare
31.05.2021 / 18:15 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 31.5.. Vielen Dank!