Ghosting und Tang Ping. Gehen dem globalen Kapitalismus die Arbeiter:innen aus?

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Sowohl die linksradikale, operaistische Zeitschrift Wildcat als auch die konservative, marktradikale FAZ berichten neuerdings eine Entwicklung, die den einen Hoffnung macht, gerade weil sie den anderen den Angstschweiß auf die Stirn treibt: Arbeiter:innen und Angestellte haben zunehmend keinen Bock mehr. Sie verduften, ohne Adieu zu sagen (auf englisch Ghosting), oder legen sich flach hin (auf chinesisch: Tang Ping). Und sie werden knapp. Was ihre Macht erheblich vergrößert.

arbeitsunrecht FM KOLUMNE NR. 1 | von Elmar Wigand für die alternative Wirtschaftszeitung Oxi | in Kooperation mit dem nö-Theater | Sprecherin: Lucia Schulz
Audio
05:42 min, 13 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.03.2022 / 13:31

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Arbeitswelt
Serie: arbeitsunrecht FM
Entstehung

AutorInnen: Elmar Wigand / arbeitsunrecht FM
Radio: radio flora, Hannover im www
Produktionsdatum: 03.03.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wenn im Feuilleton der FAZ das "Recht auf Faulheit" des ungeliebten Marx-Schwiegersohns Paul Lafargue zitiert wird, muss es schon weit gekommen sein. Es scheint als würde der Mörtel langsam rissig, der das Gebäude der Herrschaft zusammenhält: Der Glaube an die Sinnhaftigkeit der eigenen Tätigkeit wie auch des großen Ganzen zerbröselt. Pandemie und Lock-down haben den Trend geboostert. Die Demografie gibt dem ganzen zusätzlich Zunder – Frauen kriegen keine Kinder mehr, auch in China nicht, Baby Boomer gehen bald in Rente. Und durch geschlossene Grenzen fehlt den Knochenmühlen, optimierten Wertschöpfungsketten und bürokratischen Apparaten dringend notwendiger menschlicher Nachschub.

Aus den USA dringen Schreckensmeldungen herüber -- im November 2021 sollen laut US-Statistikbehörde 3,6 Mio. Beschäftigte mehr den Job quittiert haben als im Vergleichsmonat 2019. Niemand weiß wo sie bleiben. Die SZ schreibt: „Einerseits liegt die Zahl der Beschäftigten um fünf Millionen niedriger als zu Beginn der Pandemie, andererseits gibt es seit Monaten unverändert um die zehn Millionen offene Stellen.“ Eine schlüssige Erklärung bleibt die Presse bislang schuldig.

Und immer mehr verschwinden von einem Tag auf den anderen spurlos. Der Begriff Ghosting, der ursprunglich aus der Dating-Szene kommt – Kommunikationsabbruch nach lebhaftem Kontakt – hat es in die Personalabteilungen geschafft.

Nicht nur aus den maroden USA, auch aus dem aufstrebenden China ist Ähnliches zu hören – was die anglo-amerikanische Presse (BBC, New York Times, Independent, Guardian etc.) wiederum so dermaßen freut, dass in Ermangelung unabhängiger chinesischer Quellen eine gewisse Vorsicht angebracht ist. Wildcat erklärt das Phänomen 躺平 Tang Ping (»sich flach hinlegen«), das sich im chinesischen Internet seit Aril 2021 angeblich viral ausbreitet und dessen Schriftzeichen von der weisen kommunistischen Führung schon verboten worden sein sollen, wie folgt: "Es ist eine neue Metapher für das Verweigern des sozialen Konkurrenzdrucks. […] Tang Ping heißt, (in seltenen Fällen) gar nicht zu arbeiten, die meisten machen Teilzeit oder jobben hin und wieder, andere machen ganz unambitioniert Arbeit nach Vorschrift."

Willkommen im Club! Falls wir diesen Berichten glauben schenken dürfen, machen die Chinesen auch nichts anderes als die autonome Hausbesetzerszene in den 1980er Jahren. Konsumverweigerung und easy going plus ideologischer Dissidenz. Das klingt sympathisch. Allerdings: Besonders viel kam nicht dabei raus, als Faulheit und Anti-Haltung regierten. Es gab jede Menge Radale, aber in der Nachbetrachtung doch recht wenig substantiellen künstlerischen oder erkenntnistheoretischen Ertrag. Eher waren wir Pioniere der Gentrifizierung und neuer Formen von elitärer Spießigkeit.

Und Deutschland heute?
• Ein junger Krankenpfleger, der nebenbei in meinen Stamm-Pub "The Happy Pig" kellnert (weil er es lustiger findet, in Gesellschft zu trinken und dafür bezahlt zu werden, als in der Pandemie Zuhause abzuhängen), erzählte, dass er jetzt doch lieber Polizist werden wolle. Meiner Vorhaltung, dort gäbe es doch auch nur Überstunden und Stress, entgegneter er mit glaubhaften Schilderungen über Personalknappheit und Schikanen Gesundheitswesen.
• In dem Fahrrad-Lieferdienst, für den meine Kollegin Ruth Wiess zur Abwechslung und aus Neugierde fährt, sagte ihr ein Gebäudereiniger der WISAG, dass er seinen Job bald schmeißen werde. Er sieht die Riders gemütlich abhängen oder bequem auf E-Bikes durch die Gegend radeln, für 12,- Euro die Stunde mit unbefristeten Verträgen, während er selbst nur 11,50 verdient, dabei schuftet wie blöde und jede Menge unbezahlte Überstunden kloppen muss.
• Der Bruder eines guten Freundes macht die traditionsreiche Familienmetzgerei in Friesland demnächst dicht. Es fehlt nicht an Kundschaft, sondern an Arbeitskräften.

Haben wir es hier mit einem globalen Trend, gar einer Zeitenwende zu tun? Ob sich die neoliberale Weigerung endlich rächt, angemessenen Lohn zu bezahlen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern?
Es klingt schön, vielleicht etwas zu schön...