"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Schrödern

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Ich kenne Gerd Schröder nicht persönlich. Meiner Meinung nach hätte man ihn aus der SPD ausschließen müssen, als er noch Bundeskanzler war, unter anderem wegen der Hartz-IV-Gesetze, welche eine mustergültige Bürokratie zur Schikanierung der schwächsten Bevölkerungsschichten in Deutschland geschaffen haben. Heute erscheint mir das Parteiausschlussverfahren kindisch.
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11:42 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 22.07.2022 / 10:56

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 19.07.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ich kenne Gerd Schröder nicht persönlich. Meiner Meinung nach hätte man ihn aus der SPD ausschließen müssen, als er noch Bundeskanzler war, unter anderem wegen der Hartz-IV-Gesetze, welche eine mustergültige Bürokratie zur Schikanierung der schwächsten Bevölkerungsschichten in Deutschland geschaffen haben. Heute erscheint mir das Parteiausschlussverfahren kindisch.
Dass er nach seinem Ausscheiden aus der Politik mit Putin Gasgeschäfte machte, kann ich Schröder nicht verdenken. Auch das Verständnis von Angela Merkel für die russischen Anliegen war nicht abwegig, respektive das Verhalten von Merkel und Schröder kann nur jemandem als versuchtes Verbrechen erscheinen, die oder der das ganz und gar fest gefügte Weltbild einer Schuhschachtel, Größe 278, in Betong hat. Weder Merkel noch Schröder handelten mit der Absicht, einen Krieg in der Ukraine zu führen oder zu finanzieren. Beide haben versucht, mit Russland halbwegs ver­nünf­tige wirtschaftliche Beziehungen herzustellen in der vagen Hoffnung, dass auf dieser Grundlage irgendwann mal auch ein politischer Dialog zu führen wäre, der möglicherweise positive Aus­wir­kungen für die russische Bevölkerung haben würde. Als Gegengeschäft gab es reichlich Erdgas aus Sibirien, das erscheint mir auch heute noch ziemlich logisch. Was man in dieser Kriegssituation daraus macht, ist dann wieder ein anderes Kapitel, aber auch hier sind unterschiedliche Kräfte im Spiel, wie man bei diesem Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland sieht, die sich letzte Woche darauf geeinigt haben, ihre gemeinsame Weltraumstation auch weiterhin gemeinsam zu betreiben. Die entsprechende Nachricht funkelte wie ein exotischer Diamant aus all den Ankündigungen weiterer Verschärfungen der bereits zig Mal weiter ver­schärf­ten Sanktionen des Westens gegenüber Russland. Ebenso exotisch mutete übrigens das Treffen von Onkel Joe Biden mit dem Kashoggi-Mörder Bin Salman an, aber hier unterstellt nicht nur der internationale Journalismus, sondern auch der gesunde Menschenverstand, also die öffentliche Meinung, dass dieses Treffen im Interesse der globalen Energieversorgung erfolgte und dass das geschmierte Funktionieren der Weltwirtschaft vermutlich doch eine größere Bedeutung hat als die in fünfzig Teile geschnittene, gepökelte und anschließend im Säurebad aufgelöste Leiche eines exilierten saudiarabischen Journalisten. Während der internationale Journalismus also anerkennt, dass im Fall von Bin Salman mindestens zwei verschiedene Ebenen im Spiel sind, weigert sich dieser Journalismus, diese Einsicht auch auf Russland anzuwenden. Aber auch wenn man sie hat, ist damit nicht viel geholfen, vor allem nicht in der Ukraine. Ich meine ja bloß.

Habt Ihr gewusst, dass es nicht nur eine Philosophie-Olympiade, sondern sogar eine internationale Philosophie-Olympiade gibt? Ich bin sicher, dass der Titel dieses Wettbewerbs Gegenstand mehrerer Prüfungsarbeiten war und sein wird. Wie würde es sich mit einer nicht-internationalen Olympiade verhalten? Aber laut dem Autor des Artikels, dem ich diese Informationen entnehme, einem gewissen Martin Helg, fand um 1990 herum in Bulgarien die erste Philosophie-Olympiade statt, und die war national. Zweck sei es gewesen, das aus dem Lehrplan gefallene Schulfach «wissenschaftlicher Sozialismus» durch ein liberales Gegenprogramm zu ersetzen. Die folgenden Olympiaden hätten zwar immer noch in Bulgarien stattgefunden, seien aber dann doch international ausgeschrieben gewesen und hätten anschließend zu wandern begonnen nach Istanbul, Warschau, in das rumänische Brasov und nach Budapest. Die Auswirkungen dieses liberalen Denk-Wettstreites sehen wir heute bei den Regierungen: In Bulgarien bereitet sich der korrupte Bojko Borissow auf die Rückkehr an die Macht vor, in der Türkei wohnt der Erdopampel in tausend Zimmern, über Rumänien will ich nicht stänkern, und den Urban Orban in Ungarn brauche ich gar nicht zu erwähnen.

Aber das ist wohl nicht so schlüssig, wie es ein Mathematiker sehen würde oder mindestens eine einfache Logikerin. Und überhaupt entnehme ich dem Artikel, dass die zwei Abgeordneten der Schweizer Delegation wohl auch in der Schweizer Philosophie-Olympiade ermittelt wurden, was den mathematischen oder logischen Querschluss erlaubt, dass das Auswahlprozedere auch in anderen Ländern unter diesem Titel erfolgt. Wie gesagt: Das allein wäre es wert, dass darüber in der Tiefe nachgedacht wird. Kann eine Olympiade national sein? Aus neutraler Sicht ist das Verdikt eindeutig: Nein, nein und abermals nein. Den Spielraum zum Nachdenken fasste übrigens die österreichische Delegation in ihre Schlussworte, ich zitiere: «Wenn eine Realisation bleibt, dann jene, dass Ländergrenzen uns nicht trennen sollten. Nicht einmal kulturelle Unterschiede. Nicht einmal Sprachbarrieren. Wir sind alle gleich. Wir sind alle Menschen. Wir lachen, weinen, wir leiden und lieben alle gleich.» Der eklatante Gegensatz dieser Aussage zur lebens- und vor allem staatsweltlichen Realität und zur Realität populistischer Agitation tut schon fast weh.

Wie auch immer: Der Austragungsort dieser nun schon 30. internationalen Philosophie-Olympiade war in diesem Jahr Lissabon, und die Delegation aus den USA hat im zweiten Jahr nach Trump zwar auch nicht gewonnen, ist aber auch nicht herausgestochen. England nahm zum ersten Mal teil, und gewonnen haben eine Italienerin und ein Deutscher, wobei der deutsche Gewinner Tobias Willée ausgerechnet aus dem bildungspolitisch viel gescholtenen Bundesland Nordrhein-Westfalen stammt. Er hat in Lissabon über eine Passage aus der «Banalität des Bösen» von Hannah Arendt geschrieben. Was mich aber gerade im Zusammenhang mit dem Kalenderspruch der öster­rei­chi­schen Delegation gut und klassisch philosophisch dünkt, ist die Tatsache, dass die ebenfalls erstklassierte Italienerin Giulia Pession in den deutschen Meldungen über diese Olympia-Gold­medaille nicht erwähnt wird. Trösten wird uns der Umstand, dass die Siegesmeldungen für Giulia Pession zum Beispiel auf der Webseite des Italian Insider mit keinem Wort den teutschen oder thiudesken Mit-Sieger Tobias Willée erwähnen. Frau Pession äußerte sich in Lissabon zum Satz von Heraklit, dass die Vernunft ein Allgemeingut sei, dass aber viele Menschen sich so aufführten, als hätten sie ihre eigene Vernunft. Frau Pession argumentierte, dass sich die Menschen in ihren Gedanken und somit auch in ihrer Vernunft durchaus unterscheiden. Ohne mich ihr anzuschließen, will ich ihr doch, wenn nicht den Neutralitäts-, so doch den Objektivitäts-Bonus zuhalten, denn sie lebt ebenfalls in den Alpen, in Aosta am Fuße des Großen St.-Bernhard-Passes, der Italien seit Römerzeiten mit der Schweiz verbindet.

Von Tobias Willée wiederum sind zwei Aufsätze erhalten, welche beide den Passus enthalten: Bevor wir auf die Fragestellung eingehen, müssen wir die Begriffe klären. Dies ist zweifellos das richtige Vorgehen, verweist aber auch auf die Sphäre, in welcher die internationale Philosophie-Olympiade anzusiedeln ist: es handelt sich um einen Wettstreit unter Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Damit ist einerseits ein eben durchaus schülerhaft methodisierender Ansatz vorgegeben, anderseits besteht die Garantie, dass hier kein philosophisches Großraubtier, das unter dem Zwang steht, nicht stets etwas Neues zu fressen, sondern stets etwas Neues herauszuwürgen, die Unschuld des Denkens missbraucht. Und so erlauben die Ausführungen der Olympioniken die unvoreingenommene Beschäftigung mit Fragen, die uns sonst nicht so eminent bewegen. Tobias Willée zum Beispiel schreibt einen Aufsatz darüber, ob wir heute noch Werte brauchen. Schön!, aber im Zeitalter von Clowns wie Boris Johnson und Lügnern wie Trump eher anachronistisch. Was ist ein «Wir», das solche Subjekte in politische Ämter wählt? Wo bleibt also im kollektiven Ich die Vernunft? Wo bleibt, mit anderen Worten, die kollektive Vernunft?

Mit solchen Fragen dürfen sich die jungen Champions offenbar nicht beschäftigen. Aber auch die alten Gedanken-Wrestler machen einen Bogen um die offensichtlichste Wunde der gegenwärtigen bürgerlichen Demokratien. Und so will auch ich diesen Exkurs hier abschließen.

Ohne dass ich ganz oder jemals vom Thema der Werte wegkommen könnte, das versteht sich; die aktuelle Debatte über kulturelle Aneignung und Eurozentrismus dreht sich um nichts anderes, und wenn ich mich auch rauszuhalten versuche, komme ich doch immer wieder rein, zum Beispiel, wenn ich vom Antrag berichte, der kürzlich im Parlament der Elfenbeinküste eingereicht wurde und die Legalisierung der Polygamie verlangt. Da haben wir es wieder, die Europäer interessieren sich nur für jene Meldungen, die ihren Vorurteilen entsprechen! – Stattdessen begebe ich mich auf die Webseite des elfenbeinküstlichen Parlamentes und erfahre dort, dass am 12. Juli ein Gesetz über die Berufsbildung angenommen wurde, dessen konkreten Inhalt ich bedauerlicherweise nicht kenne; es gab auf jeden Fall keine Gegenstimme. Sodann wurde, ebenfalls einstimmig, die Schaffung einer Standesorganisation der Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger beschlossen, welche die Wah­rung der Standards und des Berufsethos zur Aufgabe hat. Und dann gab es noch die Novel­lierung des Gesetzes beziehungsweise der Verordnung, welche die illegale Vermarktung und den illegalen Export von bewilligungspflichtigen Agrarprodukten bekämpft. Bei der Gesetzes­sammlung finde ich aus dem erwähnten aktuellen Anlass das Ehegesetz, dessen Artikel 1 lautet: Die Ehe ist die Vereini­gung eines Mannes und einer Frau, die auf dem Zivilstandsamt vorgenommen wird. Weiter: Die Ehe ist ab 18 Jahren möglich, und vor allem kann keine weitere Ehe geschlossen werden, wenn die alte noch in Kraft ist. Zu den Annullierungsgründen für eine Eheschließung zählen die Unfähigkeit zum Vollzug des Beilagers oder die Unfruchtbarkeit, sofern die Ehefrau davon schon vor der Heirat Kenntnis hatte. Eine Witwe darf erst nach einer Trauerzeit von 300 Tagen nach dem Ableben ihres Ehemannes wieder heiraten, es sei denn, dass gerichtlich festgestellt wird, dass der Verblichene in den 300 Tagen vor seinem Tod keinen Sex mehr gehabt hat mit ihr oder wenn ein Arzt feststellt, dass sie nicht schwanger ist.

Güterrechtlich gesehen stehen alle Möglichkeiten offen; die Eheleute müssen den Güterstand zu Beginn der Ehe notariell festlegen. Sie verfügen frei über ihr jeweiliges Einkommen, sobald sie ihren Beitrag zum gemeinsamen Haushalt geleistet haben. Die einzige Spezialität in diesem Zusammenhang ist die gesetzliche Unterhaltspflicht der Kinder gegenüber ihren Eltern und auch Schwiegereltern, die in Artikel 48 festgehalten ist.

Ja, so ist das in der Elfenbeinküste. In Barcelona dertweil ist José Eduardo dos Santos gestorben, der ehemalige Staatschef und Chefplünderer des Landes Angola. Er war der Nachfolger des Befreiungskämpfers und ersten Präsidenten Angolas, Agostinho Neto gewesen, der nicht in Barcelona, sondern in Moskau gestorben ist. Die Familie dos Santos hat nicht gerade sagenhafte, aber doch außerordentliche Reichtümer angehäuft, die ich etwas aus den Augen verloren habe, nachdem dos Santos' Nachfolger Joao Lourenço den Kampf gegen die Korruption zur obersten Priorität erhoben und dabei vor allem José Eduardos Tochter Isabel dos Santos ins Visier genommen hatte. Ihre Guthaben von über einer Milliarde Dollar wurden eingefroren. Gegen den Vater dagegen ermittelte Joao Lourenço nicht, angeblich aus wahltaktischen Gründen. Er ist nun trotzdem gestorben.

Kommentare
26.07.2022 / 17:59 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 26.7.. Vielen Dank !