"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Triangle of Sadness
ID 118269
Spektakulär an Liz Truss war nicht ihr Gestus im Stil von Margaret Thatcher; das passt recht gut zu einem politischen Theater, in dem zuvor ein Clown aufgetreten war, der mit seiner Clownsnase und seiner Clownsfrisur von der Bühne herunter trompetete, er sei ein zweiter Winston Churchill. Es erstaunt mich übrigens ein wenig, dass er sich aus dem Rennen um die Nachfolge von Liz Truss herausgenommen hat; es wäre überaus clownesk gewesen, wenn er sich gleich wieder aus den Kulissen gedrängt hätte.
Klassifizierung
Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung
AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 27.10.2022
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
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Skript
Spektakulär an Liz Truss war nicht ihr Gestus im Stil von Margaret Thatcher; das passt recht gut zu einem politischen Theater, in dem zuvor ein Clown aufgetreten war, der mit seiner Clownsnase und seiner Clownsfrisur von der Bühne herunter trompetete, er sei ein zweiter Winston Churchill. Es erstaunt mich übrigens ein wenig, dass er sich aus dem Rennen um die Nachfolge von Liz Truss herausgenommen hat; es wäre überaus clownesk gewesen, wenn er sich gleich wieder aus den Kulissen gedrängt hätte.
Immerhin bleibt der Trost, dass er sein Comeback bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit inszenieren wird, und an Gelegenheiten scheint es England im Moment nicht zu mangeln. Aber eben, Boris Johnson war kein zweiter Churchill; er spielte nur einen, und zwar eben im Clownskostüm, und machte daneben eine soweit normale, halbwegs sozialdemokratische Politik, soweit man bei den fürchterlich verkorksten englischen Konservativen halt eben sozialdemokratische Politik machen kann. Und so konnte man von Liz Truss erwarten, dass sie im Habitus von Margaret Thatcher halt auch irgendeine, wenn auch vielleicht etwas verkorkster reaktionäre, aber doch im Kern sozialdemokratische politische Praxis betreiben würde, bis sich am Morgen nach ihrem Amtsantritt herausstellte, dass die Frau tatsächlich meinte, was sie sagte. Das versetzte die gesamte Welt, zuvörderst aber die reale Welt, nämlich die Finanzmärkte und die nationale Weltwirtschaft, von einer Minute auf die andere in Panik. Das war wirklich spektakulär und einmalig. So etwas hätte man, allerdings vor einem völlig anderen Hintergrund, vor zehn oder fünfzehn Jahren vielleicht von Alexis Tsipras erwartet, nämlich dass er Griechenland tatsächlich aus dem gesamten Netz von Abhängigkeiten und Verschuldung herausgelöst hätte, welches das Land damals komplett ausgemergelt hatte als Folge verschiedener stillschweigender Übereinkünfte zwischen den griechischen Konservativen und Sozialistinnen auf der einen Seite, der Europäischen Union auf der anderen Seite. Das wäre spannend gewesen, denn tiefer konnte Griechenland damals nicht sinken. Ich nehme an, dass die Syriza die Option des Alleinganges gründlich untersucht und auch in den Gesprächen mit den europäischen Gremien ins Spiel gebracht hat. Das Resultat ist bekannt.
Aber Liz Truss! Das hat es bisher noch nie gegeben, dass eine Person den Unterschied zwischen einer doktrinären und ideologisch vollgesogenen Position aus einem anderen Jahrhundert, aus einem anderen System, aus anderen Zeiten auf der einen Seite und der politischen Praxis auf der anderen Seite einfach vergessen hat. Die Hayeks, Euckens, Poppers, Mises, Röpkes und Friedmans mögen ihre Verdienste gehabt haben, aber keinem Verantwortungsträger wäre es in den Sinn gekommen, ihre Ordnungsrufe in die politische Praxis umzusetzen. Aber jetzt, 70 Jahre später und 40 Jahre nach dem Generalangriff von Margarat Thatcher auf die sozialdemokratisch verkrustete englische Staats- und Gesellschaftsordnung, kommt diese Frau daher und will Ernst machen mit dem neoliberalen Stuss, den die Welt vor spätestens fünfzehn Jahren beerdigt hat. Das ist schon unerhört.
Da gerät man schon fast in Versuchung, den früheren Labor-Chef Jeremy Corbin zu loben. Der hat sich bloß in seiner Einschätzung verrannt, nämlich dass man in einer sozialdemokratischen Gesellschaft an die Macht kommen kann als Vertreter einer sozialistischen Politik. Die Bevölkerung hält im Moment nichts von solchen Späßen, obwohl sie weiß, dass Corbyn, hätten sie ihn gewählt, kaum etwas anders gemacht hätte als Boris Johnson, sieht man einmal vom Austritt aus der EU ab, den wir aber weder Boris Johnson noch Jeremy Corbin noch David Cameron in die Schuhe schieben wollen, sondern eher dem australischen Pferdeflüsterer beziehungsweise Masseur des öffentlichen Bewusstseins mit verschiedenen wohlriechenden Aromen, Rupert Murdoch. Dieser hat letztlich wohl auch Jeremy Corbyn auf dem Kerbholz, indem es den Murdoch-Medien gelungen ist, die formalsozialistische Linie Corbyns auch innerhalb der Labor-Partei schlechtzumachen, unter anderem mit dem Vorwurf des Antisemitismus – derselbe Murdoch, der vor genau zehn Jahren ein paar Bemerkungen über die jüdisch beherrschte Weltpresse fallen gelassen hatte. Dass ein Parteiausschuss diese Vorwürfe bestätigt sah und dass Corbyn deswegen aus der Partei ausgeschlossen wurde, ist auch zwei Jahre später noch ein recht dicker Hund für ein einfaches Manöver, um den sozialistischen Flügel von der Parteispitze zu entfernen.
Unabhängig davon ist es eine Tatsache, dass man heute mit sozialistischen Parolen keine Chance auf Mehrheiten bei der Bevölkerung hat. Welches die Bedingungen dafür sind, dass sich so etwas wieder ändert, ist mir bisher verborgen geblieben. Analytisch gesehen verunmöglicht der Umstand, dass der Sozialismus ein Kind des 19. Jahrhunderts war, das unterdessen seinerseits schon verschiedene Nachkommen gezeugt hat, unter anderem eben das heute überall verbreitete sozialdemokratische Staatswesen, ein Wiederaufleben sowieso. Dass sich so viele Menschen nach wie vor auf sozialistische Grundsätze beziehen, hängt in erster Linie damit zusammen, dass sie ganz wesentlich Grundsätze der Gerechtigkeit, der Gleichheit und auch der Vernunft sind. Ihr Mangel an Popularität hängt in erster Linie damit zusammen, dass die Sozialist:innen kein Monopol auf solche Grundsätze haben. Unabhängige, der Wahrheit verpflichtete Wissenschaftler:innen gibt es zu tausenden, ohne dass sie deshalb alle Sozialist:innen sind, und auch in der Politik sieht man viele vernünftige Existenzen jenseits aller Parteigrenzen; auf der anderen Seite besteht bei den Sozialist:innen eine große Gefahr, vor lauter Systemdenken die Wirklichkeit nicht mehr zu erfassen und tagein, tagaus die gleichen Floskeln zu verzapfen, und zwar über Jahre und Jahrzehnte, kurz gesagt: über Epochen hinweg. Das ist auch nicht sexy.
Aber zurück. Dass die Märkte auf die Blödheit von Liz Truss, ihr eigenes Geschwafel ernst zu meinen, derart massiv reagierten, viel stärker als auf jede theoretische Machtübernahme eines noch so sozialistischen Flügels der Labor-Partei, das ist dann doch wieder eine sehr amüsante Wendung in der neueren britischen Geschichte, und wir freuen uns auf die Fortsetzung unter Rishi Sunak, von der ich mir allerdings deutlich weniger Unterhaltungswert verspreche; bei ihm ist es zweifellos am Spannendsten, wie lange der Clown Johnson braucht, um seine Anhänger zu einer soliden Anti-Sunak-Koalition zusammen zu schmieden, und auf Sunaks Seite wird man sich an den Bemühungen erfreuen dürfen, Boris Johnson mit dem Mittel der Gerichte möglichst dauerhaft vom politischen Betrieb fernzuhalten. Das ist lustig.
Ansonsten verstehe ich das Gerangel in Eurem Land und in der Europäischen Union nicht, das entstanden ist um die Bemühungen, die Auswirkungen der gestiegenen Energiepreise auf die Bevölkerung und auf die Unternehmen abzuschwächen, zu dämpfen oder zu mildern. Ich finde es ja schön und erneut ein Paradebeispiel für eine originär sozialdemokratische Politik, solche Maßnahmen überhaupt zu erlassen; aber was man sich darüber hinaus an Diskussionen liefert über die Ausgestaltung und darüber, ob sie nun wettbewerbsverzerrend seien oder nicht, das geht über meinen Horizont hinaus. Fest steht, dass Unterstützungsmaßnahmen, und zwar nicht in erster Linie für die Not leidenden Multimilliardäre, sondern für die tatsächlich betroffenen ärmeren Schichten der Bevölkerung, seit den Zeiten der Coronapandemie zum festen Instrumentarium der Politik in der entwickelten Welt zählen. Übrigens kommt mir an dieser Stelle in den Sinn, dass jüngst ein US-amerikanischer Ökonom berechnet hat, dass gut 50 Prozent der Summe, welche in den Vereinigten Staaten bei der zweiten Welle an Unterstützungschecks an die Bevölkerung geflossen ist, nicht in den Konsum, sondern in die verschiedenen Sparhäfen, also in Anlagevehikel geflossen sei. Unabhängig von der Richtigkeit dieser Maßnahmen und vor allem von ihrer Bedingungslosigkeit muss man solche Beobachtungen berücksichtigen, wenn man sich an die Modelle zur Finanzierung eines bedingungslosen Grundeinkommens macht. Noch unabhängiger davon kann man allgemein feststellen, dass es ja kein Schaden ist, wenn sich auch Menschen der unteren Einkommensschichten mit der Zeit an den Turbulenzen der internationalen Kapitalmärkte beteiligen können. Aber das wirklich nur weit außen am Rande.
Verwerfungen bei den Energiepreisen zu bekämpfen beziehungsweise die Auswirkungen auf die Lebenshaltungskosten der Bevölkerung zu mildern ist wie gesagt ein Paradebeispiel für sozialdemokratische Politik völlig jenseits von Parteigrenzen. Wenn die verschiedenen Mitgliedstaaten der EU dies unterschiedlich umsetzen, ist das die eine Sache, und wenn sie sich daraus gegenseitig einen Strick zu drehen versuchen, so trägt dies nur zum Unterhaltungswert der europäischen Politik bei. Die Entstehungsgeschichte von Organismen wie eben der EU ist wirklich umständlich.
Sodann wird es Euch auch interessieren, dass ich den Film Triangle of Sadness gesehen habe, der im Grunde genommen aus drei Filmen besteht, einem Vorfilm über männliche und weibliche Models, einem Film über eine Luxusyacht und einem Insel-Film, die miteinander nichts zu tun haben bis auf die Tatsache, dass die Hauptdarsteller:innen in allen drei Teilen mitspielen. Dieser Film beziehungsweise sein Regisseur wurden dermaßen gelobt, dass ich Hoffnung schöpfte, im unerschöpflichen Reservoir des skandinavischen Films ein neues Gesicht beziehungsweise eine neue Handschrift zu entdecken. Nun – so ganz bedingungslos erfreut ging ich dann doch nicht aus dem Kino, insonderheit weil der dritte Teil aufgebaut und durchgespielt wird wie ein ganzer eigener Film, was er ja auch ist, aber im Rahmen des Gesamtprojektes wird er so einfach viel zu lang. Ein wenig weiterentwickelt haben wir beide, ich und meine Sehgewohnheiten, uns mit der Darstellung einer Influencerin, welche aus Influencer-Gründen eine Gratisfahrt auf der besagten Luxusyacht angeboten erhält, wo sie unter anderem auf einen Milliardär trifft, der sein Geld mit Scheiße gemacht hat, wie er selber sagt, ansonsten aber eine mehr oder weniger sympathische, relativ griechisch anmutende Saftwurzel ist, obwohl es sich um einen Russen handeln soll; zu den Höhepunkten des Films zählt zweifellos der ausgedehnte Dialog, den er über Bordlautsprecher mit dem Schiffskapitän führt, der seinerseits seine Kabine nur noch zum Kapitänsdinner verlässt und ansonsten eine rein marxistische Rede schwingt, was eben einen relativ komischen Effekt erzeugt im Kontrast zum Milliardär, der dann allerdings im späteren Verlauf des Films seinerseits Marx zitieren wird. Aber so die richtige Erkenntnis habe ich nicht gewonnen und abgesehen von den, letztlich doch eher vorhersehbar und platt lustigen und nicht tiefgreifend komischen Szenen von der Luxusyacht sowieso nur wenig über die Szenen auf der Insel gelacht. Ich muss vielleicht mal einen anderen Film von Ruben Östlund anschauen – für einen Hauptpreis an welchem Festival auch immer reicht dieser Schunken meines Erachtens nie und nimmer aus. Und das belegt nur, dass ich nicht in der Jury von Cannes sitze.
Immerhin bleibt der Trost, dass er sein Comeback bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit inszenieren wird, und an Gelegenheiten scheint es England im Moment nicht zu mangeln. Aber eben, Boris Johnson war kein zweiter Churchill; er spielte nur einen, und zwar eben im Clownskostüm, und machte daneben eine soweit normale, halbwegs sozialdemokratische Politik, soweit man bei den fürchterlich verkorksten englischen Konservativen halt eben sozialdemokratische Politik machen kann. Und so konnte man von Liz Truss erwarten, dass sie im Habitus von Margaret Thatcher halt auch irgendeine, wenn auch vielleicht etwas verkorkster reaktionäre, aber doch im Kern sozialdemokratische politische Praxis betreiben würde, bis sich am Morgen nach ihrem Amtsantritt herausstellte, dass die Frau tatsächlich meinte, was sie sagte. Das versetzte die gesamte Welt, zuvörderst aber die reale Welt, nämlich die Finanzmärkte und die nationale Weltwirtschaft, von einer Minute auf die andere in Panik. Das war wirklich spektakulär und einmalig. So etwas hätte man, allerdings vor einem völlig anderen Hintergrund, vor zehn oder fünfzehn Jahren vielleicht von Alexis Tsipras erwartet, nämlich dass er Griechenland tatsächlich aus dem gesamten Netz von Abhängigkeiten und Verschuldung herausgelöst hätte, welches das Land damals komplett ausgemergelt hatte als Folge verschiedener stillschweigender Übereinkünfte zwischen den griechischen Konservativen und Sozialistinnen auf der einen Seite, der Europäischen Union auf der anderen Seite. Das wäre spannend gewesen, denn tiefer konnte Griechenland damals nicht sinken. Ich nehme an, dass die Syriza die Option des Alleinganges gründlich untersucht und auch in den Gesprächen mit den europäischen Gremien ins Spiel gebracht hat. Das Resultat ist bekannt.
Aber Liz Truss! Das hat es bisher noch nie gegeben, dass eine Person den Unterschied zwischen einer doktrinären und ideologisch vollgesogenen Position aus einem anderen Jahrhundert, aus einem anderen System, aus anderen Zeiten auf der einen Seite und der politischen Praxis auf der anderen Seite einfach vergessen hat. Die Hayeks, Euckens, Poppers, Mises, Röpkes und Friedmans mögen ihre Verdienste gehabt haben, aber keinem Verantwortungsträger wäre es in den Sinn gekommen, ihre Ordnungsrufe in die politische Praxis umzusetzen. Aber jetzt, 70 Jahre später und 40 Jahre nach dem Generalangriff von Margarat Thatcher auf die sozialdemokratisch verkrustete englische Staats- und Gesellschaftsordnung, kommt diese Frau daher und will Ernst machen mit dem neoliberalen Stuss, den die Welt vor spätestens fünfzehn Jahren beerdigt hat. Das ist schon unerhört.
Da gerät man schon fast in Versuchung, den früheren Labor-Chef Jeremy Corbin zu loben. Der hat sich bloß in seiner Einschätzung verrannt, nämlich dass man in einer sozialdemokratischen Gesellschaft an die Macht kommen kann als Vertreter einer sozialistischen Politik. Die Bevölkerung hält im Moment nichts von solchen Späßen, obwohl sie weiß, dass Corbyn, hätten sie ihn gewählt, kaum etwas anders gemacht hätte als Boris Johnson, sieht man einmal vom Austritt aus der EU ab, den wir aber weder Boris Johnson noch Jeremy Corbin noch David Cameron in die Schuhe schieben wollen, sondern eher dem australischen Pferdeflüsterer beziehungsweise Masseur des öffentlichen Bewusstseins mit verschiedenen wohlriechenden Aromen, Rupert Murdoch. Dieser hat letztlich wohl auch Jeremy Corbyn auf dem Kerbholz, indem es den Murdoch-Medien gelungen ist, die formalsozialistische Linie Corbyns auch innerhalb der Labor-Partei schlechtzumachen, unter anderem mit dem Vorwurf des Antisemitismus – derselbe Murdoch, der vor genau zehn Jahren ein paar Bemerkungen über die jüdisch beherrschte Weltpresse fallen gelassen hatte. Dass ein Parteiausschuss diese Vorwürfe bestätigt sah und dass Corbyn deswegen aus der Partei ausgeschlossen wurde, ist auch zwei Jahre später noch ein recht dicker Hund für ein einfaches Manöver, um den sozialistischen Flügel von der Parteispitze zu entfernen.
Unabhängig davon ist es eine Tatsache, dass man heute mit sozialistischen Parolen keine Chance auf Mehrheiten bei der Bevölkerung hat. Welches die Bedingungen dafür sind, dass sich so etwas wieder ändert, ist mir bisher verborgen geblieben. Analytisch gesehen verunmöglicht der Umstand, dass der Sozialismus ein Kind des 19. Jahrhunderts war, das unterdessen seinerseits schon verschiedene Nachkommen gezeugt hat, unter anderem eben das heute überall verbreitete sozialdemokratische Staatswesen, ein Wiederaufleben sowieso. Dass sich so viele Menschen nach wie vor auf sozialistische Grundsätze beziehen, hängt in erster Linie damit zusammen, dass sie ganz wesentlich Grundsätze der Gerechtigkeit, der Gleichheit und auch der Vernunft sind. Ihr Mangel an Popularität hängt in erster Linie damit zusammen, dass die Sozialist:innen kein Monopol auf solche Grundsätze haben. Unabhängige, der Wahrheit verpflichtete Wissenschaftler:innen gibt es zu tausenden, ohne dass sie deshalb alle Sozialist:innen sind, und auch in der Politik sieht man viele vernünftige Existenzen jenseits aller Parteigrenzen; auf der anderen Seite besteht bei den Sozialist:innen eine große Gefahr, vor lauter Systemdenken die Wirklichkeit nicht mehr zu erfassen und tagein, tagaus die gleichen Floskeln zu verzapfen, und zwar über Jahre und Jahrzehnte, kurz gesagt: über Epochen hinweg. Das ist auch nicht sexy.
Aber zurück. Dass die Märkte auf die Blödheit von Liz Truss, ihr eigenes Geschwafel ernst zu meinen, derart massiv reagierten, viel stärker als auf jede theoretische Machtübernahme eines noch so sozialistischen Flügels der Labor-Partei, das ist dann doch wieder eine sehr amüsante Wendung in der neueren britischen Geschichte, und wir freuen uns auf die Fortsetzung unter Rishi Sunak, von der ich mir allerdings deutlich weniger Unterhaltungswert verspreche; bei ihm ist es zweifellos am Spannendsten, wie lange der Clown Johnson braucht, um seine Anhänger zu einer soliden Anti-Sunak-Koalition zusammen zu schmieden, und auf Sunaks Seite wird man sich an den Bemühungen erfreuen dürfen, Boris Johnson mit dem Mittel der Gerichte möglichst dauerhaft vom politischen Betrieb fernzuhalten. Das ist lustig.
Ansonsten verstehe ich das Gerangel in Eurem Land und in der Europäischen Union nicht, das entstanden ist um die Bemühungen, die Auswirkungen der gestiegenen Energiepreise auf die Bevölkerung und auf die Unternehmen abzuschwächen, zu dämpfen oder zu mildern. Ich finde es ja schön und erneut ein Paradebeispiel für eine originär sozialdemokratische Politik, solche Maßnahmen überhaupt zu erlassen; aber was man sich darüber hinaus an Diskussionen liefert über die Ausgestaltung und darüber, ob sie nun wettbewerbsverzerrend seien oder nicht, das geht über meinen Horizont hinaus. Fest steht, dass Unterstützungsmaßnahmen, und zwar nicht in erster Linie für die Not leidenden Multimilliardäre, sondern für die tatsächlich betroffenen ärmeren Schichten der Bevölkerung, seit den Zeiten der Coronapandemie zum festen Instrumentarium der Politik in der entwickelten Welt zählen. Übrigens kommt mir an dieser Stelle in den Sinn, dass jüngst ein US-amerikanischer Ökonom berechnet hat, dass gut 50 Prozent der Summe, welche in den Vereinigten Staaten bei der zweiten Welle an Unterstützungschecks an die Bevölkerung geflossen ist, nicht in den Konsum, sondern in die verschiedenen Sparhäfen, also in Anlagevehikel geflossen sei. Unabhängig von der Richtigkeit dieser Maßnahmen und vor allem von ihrer Bedingungslosigkeit muss man solche Beobachtungen berücksichtigen, wenn man sich an die Modelle zur Finanzierung eines bedingungslosen Grundeinkommens macht. Noch unabhängiger davon kann man allgemein feststellen, dass es ja kein Schaden ist, wenn sich auch Menschen der unteren Einkommensschichten mit der Zeit an den Turbulenzen der internationalen Kapitalmärkte beteiligen können. Aber das wirklich nur weit außen am Rande.
Verwerfungen bei den Energiepreisen zu bekämpfen beziehungsweise die Auswirkungen auf die Lebenshaltungskosten der Bevölkerung zu mildern ist wie gesagt ein Paradebeispiel für sozialdemokratische Politik völlig jenseits von Parteigrenzen. Wenn die verschiedenen Mitgliedstaaten der EU dies unterschiedlich umsetzen, ist das die eine Sache, und wenn sie sich daraus gegenseitig einen Strick zu drehen versuchen, so trägt dies nur zum Unterhaltungswert der europäischen Politik bei. Die Entstehungsgeschichte von Organismen wie eben der EU ist wirklich umständlich.
Sodann wird es Euch auch interessieren, dass ich den Film Triangle of Sadness gesehen habe, der im Grunde genommen aus drei Filmen besteht, einem Vorfilm über männliche und weibliche Models, einem Film über eine Luxusyacht und einem Insel-Film, die miteinander nichts zu tun haben bis auf die Tatsache, dass die Hauptdarsteller:innen in allen drei Teilen mitspielen. Dieser Film beziehungsweise sein Regisseur wurden dermaßen gelobt, dass ich Hoffnung schöpfte, im unerschöpflichen Reservoir des skandinavischen Films ein neues Gesicht beziehungsweise eine neue Handschrift zu entdecken. Nun – so ganz bedingungslos erfreut ging ich dann doch nicht aus dem Kino, insonderheit weil der dritte Teil aufgebaut und durchgespielt wird wie ein ganzer eigener Film, was er ja auch ist, aber im Rahmen des Gesamtprojektes wird er so einfach viel zu lang. Ein wenig weiterentwickelt haben wir beide, ich und meine Sehgewohnheiten, uns mit der Darstellung einer Influencerin, welche aus Influencer-Gründen eine Gratisfahrt auf der besagten Luxusyacht angeboten erhält, wo sie unter anderem auf einen Milliardär trifft, der sein Geld mit Scheiße gemacht hat, wie er selber sagt, ansonsten aber eine mehr oder weniger sympathische, relativ griechisch anmutende Saftwurzel ist, obwohl es sich um einen Russen handeln soll; zu den Höhepunkten des Films zählt zweifellos der ausgedehnte Dialog, den er über Bordlautsprecher mit dem Schiffskapitän führt, der seinerseits seine Kabine nur noch zum Kapitänsdinner verlässt und ansonsten eine rein marxistische Rede schwingt, was eben einen relativ komischen Effekt erzeugt im Kontrast zum Milliardär, der dann allerdings im späteren Verlauf des Films seinerseits Marx zitieren wird. Aber so die richtige Erkenntnis habe ich nicht gewonnen und abgesehen von den, letztlich doch eher vorhersehbar und platt lustigen und nicht tiefgreifend komischen Szenen von der Luxusyacht sowieso nur wenig über die Szenen auf der Insel gelacht. Ich muss vielleicht mal einen anderen Film von Ruben Östlund anschauen – für einen Hauptpreis an welchem Festival auch immer reicht dieser Schunken meines Erachtens nie und nimmer aus. Und das belegt nur, dass ich nicht in der Jury von Cannes sitze.
Kommentare
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27.10.2022 / 17:59 | Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar |
in sonar
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am 27.10.. Vielen Dank ! - Schade: Kein Wort über Nigel Farage. | |