"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Sciences Po
ID 131108
Luis Vassy heißt der neue Rektor der Sciences Po, der Universität nicht für den Arsch, wie man es vermuten könnte, und auch nicht für Flüsse in Oberitalien, sondern für Politikwissenschaften in Paris. Vassy folgt auf Mathias Vicherat, der im März zurückgetreten ist aufgrund einer Anklage wegen häuslicher Gewalt.
Klassifizierung
Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung
AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 08.10.2024
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
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Skript
Luis Vassy heißt der neue Rektor der Sciences Po, der Universität nicht für den Arsch, wie man es vermuten könnte, und auch nicht für Flüsse in Oberitalien, sondern für Politikwissenschaften in Paris. Vassy folgt auf Mathias Vicherat, der im März zurückgetreten ist aufgrund einer Anklage wegen häuslicher Gewalt.
Ein Vorgänger von Vicherat übrigens hieß Olivier Duhamel, der die Stiftung leitete, welche die Universität finanziert; er trat vor drei Jahren zurück, nachdem seine Stieftochter ihn in einem Buch des Inzestes, der Vergewaltigung und sexueller Übergriffe gegenüber ihrem Zwillingsbruder beschuldigt hatte, was Duhamel im Lauf der Untersuchungen auch zugab. Bei Vicherat liegt der Fall insofern etwas anderes, als die Anklage wegen häuslicher Gewalt nicht nur ihn betrifft, sondern auch sein Opfer Anissa Bonnefont, anders gesagt: am 23. Dezember 2023 wurden beide in Untersuchungshaft genommen wegen dieses Deliktes, dessen sie sich gegenseitig beschuldigen; der Prozess soll demnächst beginnen.
Luis Vassy ist noch nicht zurückgetreten, sondern hat sein Amt am 1. Oktober erst angetreten. Ein erstes Dossier, das er zu bewältigen hat, liegt in der Forderung der Studentenschaft nach einer klaren Positionierung der Universität im Gaza- und Libanon-Krieg. Ich gehe davon aus, dass Vassy auf diese Forderung nicht eingehen wird, weil die Sache erstens nicht klar genug ist, um eine klare Positionierung zu erlauben; zwotens ist es nicht die Kernaufgabe von Wissenschaft und Universität, zu allen Dingen auf der Welt Stellung zu beziehen, zum Beispiel zum Drogenkrieg in Marseille, dessen neueste Variante mir wie folgt vor die Augen gekommen ist: Ein wegen Drogenhandels einsitzender Häftling beauftragte einen 15-Jährigen, einen Konkurrenten einzuschüchtern und zu diesem Zwecke ein Feuer zu legen vor seiner Wohnungstür und auf diese Tür ein paar Warnschüsse abzufeuern. Das Entgelt dafür betrug 2000 Euro. Der Teenager wurde aber von Gleichaltrigen überrascht, die zur Bande des Einzuschüchternden gehörten, und wie es Sitte ist, wurde er von dieser Bande erstochen und anschließend angezündet. Darauf heuerte der Häftling einen 14-Jährigen an für eine weitere Schießerei, ich weiß gar nicht, wem diese gelten sollte, denn der 14-Jährige schoss gar nicht erst auf das Ziel, sondern brachte gleich den Fahrer des Taxis um, mit dem er sich zum angegebenen Hotel begeben hatte, als sich dieser weigerte, vor dem Hotel zu warten. Ja, wo bleibt die Stellungnahme der Sciences Po zu diesem Bandenkrieg? – Aber diese Stellungnahme wird von den Studentinnen auch gar nicht eingefordert, sondern es geht darum, dass diese Studentinnen nicht eine klare Positionierung fordern, sondern eine klare Parteinahme für die Palästinenserinnen mit dem ganzen, nicht richtig kristallklaren Spektrum der Forderungen von einem Waffenstillstand bis hin zum gängigen Slogan: From the River to the Sea, Palestine must be free, eine Forderung, der ich mich ebenfalls anschließe, wie ich an dieser Stelle auch schon gesagt habe, und zwar unter der Bedingung, dass die Freiheit auch eine von der Hamas ist ebenso wie von jeglichem politischem Einfluss der religiösen Fanatiker in Israel und dass sie die volle Gleichberechtigung aller Bewohnerinnen des Landes umfasst, welche auf dieser Grundlage ein Zusammenleben in Frieden und Einigkeit organisieren werden. Das ist, mit anderen Worten, mein Langfrist-Aktionsplan für Israel und/oder Palästina. Etwas weniger langfristig ist der Vorschlag, den der ehemalige israelische Premier Jehud Olmert zusammen mit dem ehemaligen Außenminister der Palästinenserbehörde Nasser Al-Quidwa vorlegt: eine Zweistaatenlösung, bei der die Altstadt von Jerusalem demilitarisiert und unter die Aufsicht einer internationalen Behörde gestellt wird; Palästina verzichtet auf die bestehenden jüdischen Siedlungen im Westjordanland und erhält dafür israelischen Boden als Kompensation; und der Gazastreifen wird ebenfalls unter internationale Aufsicht gestellt. Kann man machen beziehungsweise kann man wohl eben nicht machen, aber man kann den Vorschlag machen und insofern, als er von Vertretern der beiden beteiligten Seiten kommt, aufzeigen, dass Gespräche nach wie vor möglich sind.
Viel mehr natürlich nicht. Israel macht vielmehr den Eindruck, es sei nach einem fast 20 Jahre lang eingefrorenen Konflikt mit Hamas und Hisb'Allah tatsächlich entfesselt und berauscht von der eigenen Überlegenheit, die sich in den letzten Wochen so krass gezeigt hat, dass eher an die vollständige Besetzung des Südlibanon und an die definitive Eingliederung des Westjordanlandes in den israelischen Staat gedacht werden muss, während der Gazastreifen zum Geisterstreifen wird, in dem die Bevölkerung herum getrieben wird, mehr oder weniger wie der ewige Jude, solange noch ein Hamas-Mitglied eine Rakete abfeuert; und wenn es keine solchen Hamas-Mitglieder mehr hat, dann feuert möglicherweise Israel selber noch welche ab, um seine endzeitlichen Visionen für dieses Territorium fortzusetzen. Das alles ist schon sehr alttestamentarisch, und das ist ja dann auch das Referenzbuch der Jüdinnen und Juden; bei allem Respekt wollen wir nicht vergessen, dass im alten Testament auch häufig die Rede ist vom Zorn des allmächtigen Gottes auf sein auserwähltes Volk, das er immer wieder tausend Leiden unterwirft bis hin zur vollständigen Ausrottung, aber auch durch die Zerstörung Jerusalems und durch die Vertreibung in die Sklaverei.
Wie auch immer: Der Siegestaumel wird getrübt durch verschiedene Drohungen und Bedrohungen, vor allem in der Form von Raketen, es handelt sich also nicht um eine richtige Euphorie, aber das Gefühl der Überlegenheit und die tatsächliche Überlegenheit sind eine Tatsache. Diese Tatsache hat übrigens nichts mit Benjamin Netanjahu zu tun; auch ein Likud-Regierungschef oder wer auch immer würde sie genau gleich einlösen und den Weg zur möglichst lautlosen Einverleibung des Westjordanlandes weiter gehen.
Soviel zur Diagnose der israelischen Seite; auf der Gegenseite überrascht mich persönlich vor allem, wie konsequent die Hamas und die Hisb'Allah den Spruch vom Guerillakämpfer, der sich in der Bevölkerung bewegt wie ein Fisch im Wasser, in eine militärische Grundstrategie überführt haben. Die israelischen Rechtfertigungen für ihre Angriffe auf Schulen, Spitäler, Oliven- und Gurken-Landwirtschaftsgenossenschaften, also auf alles, lauten immer gleich: die betroffenen Objekte seien Unterschlüpfe oder logistische Zentren der Hamas gewesen. Das kann man bei dieser Strategie tatsächlich niemals ausschließen. Jede Bewohnerin des Gazastreifens könnte ein Mitglied der Hamas sein, was für die Hamas den Vorteil hat dass sie für den Feind nicht so richtig sauber identifizierbar wird, und daneben kann man gegen Israel immer wieder den Vorwurf erheben, die Armee würde Zivilistinnen umbringen. Was selbstverständlich zutrifft, nur lässt sich in dieser Situation anders wohl kaum Krieg führen. Die israelische Armee und die israelische Staatsführung haben den Anschlag vor einem Jahr zum Anlass genommen, um diese Guerillastrategie mal so richtig auseinander zu nehmen. Der Preis dafür ist hoch, aber militärisch gesehen gibt es wohl keine Alternative. Diese müsste auf politischer Ebene zu suchen sein, und dort finde ich ebenfalls nichts. Wenn ich mich gedanklich weiter bewege zur wirtschaftlichen und sozialen Ebene, so finde ich ebenfalls nicht besonders viel bei Hamas und Hisb'Allah. Letztere hat ihren Ruf, der zu Beginn bei der libanesischen Bevölkerung recht mies war, ziemlich aufpoliert, namentlich durch die Bereitstellung von Infrastrukturen und Gesundheitsversorgung, welche theoretisch die Aufgabe des libanesischen Staates wären, der aber keine Zeit hatte, sich darum zu kümmern, so füllte halt die Hisb'Allah diese Lücke. Finanziert hat das der Iran, denn die wirtschaftlichen Fähigkeiten der Hisb'Allah beschränken sich meines Wissens darauf, Dünger derart unsachgemäß zu lagern, dass er beim Explodieren einen ganzen Stadtteil Beiruts zerstört. Hier liegen sicher nicht die Kernkompetenzen dieser Bewegungen, was ja für eine Guerillaarmee auch nicht nötig ist; aber für den Betrieb eines normalen Staatswesens sind das dann doch unerlässliche Komponenten, und falls es in absehbarer Zukunft einmal zu Verhandlungen kommt, so wäre diesem Bereich eine zentrale Rolle einzuräumen. Immer unter der Voraussetzung, dass Korruption und solche Dinge nach Möglichkeit eingedämmt werden, was wiederum die Diskussion um ein hartes Vorgehen auch auf dieser Ebene entfacht. Aber anders geht es nicht.
Aber kehren wir zurück zur Sciences Po. Wenn die Studentinnen von der Universitätsleitung ein klares Bekenntnis zur palästinensischen Sache fordern, wie dies auch an anderen Universitäten in den USA und in Europa der Fall ist, dann verwechseln sie Wissenschaft und Politik. Ich weiß auch, woher diese Verwechslung kommt, nämlich aus der Forderung nach Parteilichkeit, vielmehr zur Deklaration der eigenen Position, die von fortschrittlichen Bewegungen immer wieder gestellt wird. Das kann aber in keinem Fall bedeuten, dass die forschende Vernunft mehr oder weniger unbesehen die Positionen der einen Partei übernimmt und die anderen Positionen beiseite lässt. Das ist nicht die Aufgabe der Universitäten, sowieso dort nicht, wo die entsprechenden Auseinandersetzungen gar nicht zum Forschungsgegenstand gehören, wie dies an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich der Fall ist, um ein Beispiel aus meiner Nähe zu zitieren. Bei den Sciences Politiques ist man da selbstverständlich näher dran, aber auch hier verbietet sich gerade im Namen der Wissenschaft die Anwendung einer parteilichen Betrachtung des Gegenstandes. Das wäre eben das Gegenteil von Wissenschaft. Man kann dann immer noch sagen, wer die Universitäten finanziert, unter welchen Auflagen die Forschung stattfindet und so weiter und so fort. Gerade bei den Sciences Po findet man da genügend Stoff. Der eingangs erwähnte Olivier Duhamel zum Beispiel ist einer der ehemaligen Großraubtiere des Parti Socialiste, den er allerdings 2004 im Zorn verlassen hat, weil die ihn nicht mehr für das Europaparlament nominiert hatten. Immerhin ist er ein Kumpel von Bernard Kouchner, der unter anderem die Médecins sans Frontières mitgegründet und verschiedene Ministerposten in Frankreich bekleidet hat. Noch schillernder ist Mathias Vicherat, der Vorgänger von Luis Vassy: Der hat seine Sporen in der Stadtverwaltung von Paris abverdient unter den sozialistischen Bürgermeisterinnen Bertrand Delanoë und Anne Hidalgo, dann wurde er stellvertretender Generaldirektor der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF, um dann als Generalsekretär zum Lebensmittelkonzern Danone zu wechseln, bevor nach zwei Jahren die Leitung der Sciences Po anfiel. Man findet auf diesem renommierten Posten das bekannte Pack aus Absolventen der französischen Eliteschulen, denen es vollständig wurscht ist, ob sie für die Sozialistinnen oder für Sarkozy und Macron arbeiten oder, vermutlich, in absehbarer Zukunft auch für den Front National – am System ändert sich nichts, und ihre Überzeugungen haben sie spätestens während dem Studium abgelegt. Vom neuen Direktor kann ich nur sagen, dass er als Sohn lateinamerikanischer Flüchtlinge aufgewachsen ist und eine Diplomatenkarriere hinter sich hat, das tönt irgendwie beruhigend nach einer Verwaltungskarriere und nicht nach der obersten Etage der französischen Elite. Mal sehen.
Ein Vorgänger von Vicherat übrigens hieß Olivier Duhamel, der die Stiftung leitete, welche die Universität finanziert; er trat vor drei Jahren zurück, nachdem seine Stieftochter ihn in einem Buch des Inzestes, der Vergewaltigung und sexueller Übergriffe gegenüber ihrem Zwillingsbruder beschuldigt hatte, was Duhamel im Lauf der Untersuchungen auch zugab. Bei Vicherat liegt der Fall insofern etwas anderes, als die Anklage wegen häuslicher Gewalt nicht nur ihn betrifft, sondern auch sein Opfer Anissa Bonnefont, anders gesagt: am 23. Dezember 2023 wurden beide in Untersuchungshaft genommen wegen dieses Deliktes, dessen sie sich gegenseitig beschuldigen; der Prozess soll demnächst beginnen.
Luis Vassy ist noch nicht zurückgetreten, sondern hat sein Amt am 1. Oktober erst angetreten. Ein erstes Dossier, das er zu bewältigen hat, liegt in der Forderung der Studentenschaft nach einer klaren Positionierung der Universität im Gaza- und Libanon-Krieg. Ich gehe davon aus, dass Vassy auf diese Forderung nicht eingehen wird, weil die Sache erstens nicht klar genug ist, um eine klare Positionierung zu erlauben; zwotens ist es nicht die Kernaufgabe von Wissenschaft und Universität, zu allen Dingen auf der Welt Stellung zu beziehen, zum Beispiel zum Drogenkrieg in Marseille, dessen neueste Variante mir wie folgt vor die Augen gekommen ist: Ein wegen Drogenhandels einsitzender Häftling beauftragte einen 15-Jährigen, einen Konkurrenten einzuschüchtern und zu diesem Zwecke ein Feuer zu legen vor seiner Wohnungstür und auf diese Tür ein paar Warnschüsse abzufeuern. Das Entgelt dafür betrug 2000 Euro. Der Teenager wurde aber von Gleichaltrigen überrascht, die zur Bande des Einzuschüchternden gehörten, und wie es Sitte ist, wurde er von dieser Bande erstochen und anschließend angezündet. Darauf heuerte der Häftling einen 14-Jährigen an für eine weitere Schießerei, ich weiß gar nicht, wem diese gelten sollte, denn der 14-Jährige schoss gar nicht erst auf das Ziel, sondern brachte gleich den Fahrer des Taxis um, mit dem er sich zum angegebenen Hotel begeben hatte, als sich dieser weigerte, vor dem Hotel zu warten. Ja, wo bleibt die Stellungnahme der Sciences Po zu diesem Bandenkrieg? – Aber diese Stellungnahme wird von den Studentinnen auch gar nicht eingefordert, sondern es geht darum, dass diese Studentinnen nicht eine klare Positionierung fordern, sondern eine klare Parteinahme für die Palästinenserinnen mit dem ganzen, nicht richtig kristallklaren Spektrum der Forderungen von einem Waffenstillstand bis hin zum gängigen Slogan: From the River to the Sea, Palestine must be free, eine Forderung, der ich mich ebenfalls anschließe, wie ich an dieser Stelle auch schon gesagt habe, und zwar unter der Bedingung, dass die Freiheit auch eine von der Hamas ist ebenso wie von jeglichem politischem Einfluss der religiösen Fanatiker in Israel und dass sie die volle Gleichberechtigung aller Bewohnerinnen des Landes umfasst, welche auf dieser Grundlage ein Zusammenleben in Frieden und Einigkeit organisieren werden. Das ist, mit anderen Worten, mein Langfrist-Aktionsplan für Israel und/oder Palästina. Etwas weniger langfristig ist der Vorschlag, den der ehemalige israelische Premier Jehud Olmert zusammen mit dem ehemaligen Außenminister der Palästinenserbehörde Nasser Al-Quidwa vorlegt: eine Zweistaatenlösung, bei der die Altstadt von Jerusalem demilitarisiert und unter die Aufsicht einer internationalen Behörde gestellt wird; Palästina verzichtet auf die bestehenden jüdischen Siedlungen im Westjordanland und erhält dafür israelischen Boden als Kompensation; und der Gazastreifen wird ebenfalls unter internationale Aufsicht gestellt. Kann man machen beziehungsweise kann man wohl eben nicht machen, aber man kann den Vorschlag machen und insofern, als er von Vertretern der beiden beteiligten Seiten kommt, aufzeigen, dass Gespräche nach wie vor möglich sind.
Viel mehr natürlich nicht. Israel macht vielmehr den Eindruck, es sei nach einem fast 20 Jahre lang eingefrorenen Konflikt mit Hamas und Hisb'Allah tatsächlich entfesselt und berauscht von der eigenen Überlegenheit, die sich in den letzten Wochen so krass gezeigt hat, dass eher an die vollständige Besetzung des Südlibanon und an die definitive Eingliederung des Westjordanlandes in den israelischen Staat gedacht werden muss, während der Gazastreifen zum Geisterstreifen wird, in dem die Bevölkerung herum getrieben wird, mehr oder weniger wie der ewige Jude, solange noch ein Hamas-Mitglied eine Rakete abfeuert; und wenn es keine solchen Hamas-Mitglieder mehr hat, dann feuert möglicherweise Israel selber noch welche ab, um seine endzeitlichen Visionen für dieses Territorium fortzusetzen. Das alles ist schon sehr alttestamentarisch, und das ist ja dann auch das Referenzbuch der Jüdinnen und Juden; bei allem Respekt wollen wir nicht vergessen, dass im alten Testament auch häufig die Rede ist vom Zorn des allmächtigen Gottes auf sein auserwähltes Volk, das er immer wieder tausend Leiden unterwirft bis hin zur vollständigen Ausrottung, aber auch durch die Zerstörung Jerusalems und durch die Vertreibung in die Sklaverei.
Wie auch immer: Der Siegestaumel wird getrübt durch verschiedene Drohungen und Bedrohungen, vor allem in der Form von Raketen, es handelt sich also nicht um eine richtige Euphorie, aber das Gefühl der Überlegenheit und die tatsächliche Überlegenheit sind eine Tatsache. Diese Tatsache hat übrigens nichts mit Benjamin Netanjahu zu tun; auch ein Likud-Regierungschef oder wer auch immer würde sie genau gleich einlösen und den Weg zur möglichst lautlosen Einverleibung des Westjordanlandes weiter gehen.
Soviel zur Diagnose der israelischen Seite; auf der Gegenseite überrascht mich persönlich vor allem, wie konsequent die Hamas und die Hisb'Allah den Spruch vom Guerillakämpfer, der sich in der Bevölkerung bewegt wie ein Fisch im Wasser, in eine militärische Grundstrategie überführt haben. Die israelischen Rechtfertigungen für ihre Angriffe auf Schulen, Spitäler, Oliven- und Gurken-Landwirtschaftsgenossenschaften, also auf alles, lauten immer gleich: die betroffenen Objekte seien Unterschlüpfe oder logistische Zentren der Hamas gewesen. Das kann man bei dieser Strategie tatsächlich niemals ausschließen. Jede Bewohnerin des Gazastreifens könnte ein Mitglied der Hamas sein, was für die Hamas den Vorteil hat dass sie für den Feind nicht so richtig sauber identifizierbar wird, und daneben kann man gegen Israel immer wieder den Vorwurf erheben, die Armee würde Zivilistinnen umbringen. Was selbstverständlich zutrifft, nur lässt sich in dieser Situation anders wohl kaum Krieg führen. Die israelische Armee und die israelische Staatsführung haben den Anschlag vor einem Jahr zum Anlass genommen, um diese Guerillastrategie mal so richtig auseinander zu nehmen. Der Preis dafür ist hoch, aber militärisch gesehen gibt es wohl keine Alternative. Diese müsste auf politischer Ebene zu suchen sein, und dort finde ich ebenfalls nichts. Wenn ich mich gedanklich weiter bewege zur wirtschaftlichen und sozialen Ebene, so finde ich ebenfalls nicht besonders viel bei Hamas und Hisb'Allah. Letztere hat ihren Ruf, der zu Beginn bei der libanesischen Bevölkerung recht mies war, ziemlich aufpoliert, namentlich durch die Bereitstellung von Infrastrukturen und Gesundheitsversorgung, welche theoretisch die Aufgabe des libanesischen Staates wären, der aber keine Zeit hatte, sich darum zu kümmern, so füllte halt die Hisb'Allah diese Lücke. Finanziert hat das der Iran, denn die wirtschaftlichen Fähigkeiten der Hisb'Allah beschränken sich meines Wissens darauf, Dünger derart unsachgemäß zu lagern, dass er beim Explodieren einen ganzen Stadtteil Beiruts zerstört. Hier liegen sicher nicht die Kernkompetenzen dieser Bewegungen, was ja für eine Guerillaarmee auch nicht nötig ist; aber für den Betrieb eines normalen Staatswesens sind das dann doch unerlässliche Komponenten, und falls es in absehbarer Zukunft einmal zu Verhandlungen kommt, so wäre diesem Bereich eine zentrale Rolle einzuräumen. Immer unter der Voraussetzung, dass Korruption und solche Dinge nach Möglichkeit eingedämmt werden, was wiederum die Diskussion um ein hartes Vorgehen auch auf dieser Ebene entfacht. Aber anders geht es nicht.
Aber kehren wir zurück zur Sciences Po. Wenn die Studentinnen von der Universitätsleitung ein klares Bekenntnis zur palästinensischen Sache fordern, wie dies auch an anderen Universitäten in den USA und in Europa der Fall ist, dann verwechseln sie Wissenschaft und Politik. Ich weiß auch, woher diese Verwechslung kommt, nämlich aus der Forderung nach Parteilichkeit, vielmehr zur Deklaration der eigenen Position, die von fortschrittlichen Bewegungen immer wieder gestellt wird. Das kann aber in keinem Fall bedeuten, dass die forschende Vernunft mehr oder weniger unbesehen die Positionen der einen Partei übernimmt und die anderen Positionen beiseite lässt. Das ist nicht die Aufgabe der Universitäten, sowieso dort nicht, wo die entsprechenden Auseinandersetzungen gar nicht zum Forschungsgegenstand gehören, wie dies an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich der Fall ist, um ein Beispiel aus meiner Nähe zu zitieren. Bei den Sciences Politiques ist man da selbstverständlich näher dran, aber auch hier verbietet sich gerade im Namen der Wissenschaft die Anwendung einer parteilichen Betrachtung des Gegenstandes. Das wäre eben das Gegenteil von Wissenschaft. Man kann dann immer noch sagen, wer die Universitäten finanziert, unter welchen Auflagen die Forschung stattfindet und so weiter und so fort. Gerade bei den Sciences Po findet man da genügend Stoff. Der eingangs erwähnte Olivier Duhamel zum Beispiel ist einer der ehemaligen Großraubtiere des Parti Socialiste, den er allerdings 2004 im Zorn verlassen hat, weil die ihn nicht mehr für das Europaparlament nominiert hatten. Immerhin ist er ein Kumpel von Bernard Kouchner, der unter anderem die Médecins sans Frontières mitgegründet und verschiedene Ministerposten in Frankreich bekleidet hat. Noch schillernder ist Mathias Vicherat, der Vorgänger von Luis Vassy: Der hat seine Sporen in der Stadtverwaltung von Paris abverdient unter den sozialistischen Bürgermeisterinnen Bertrand Delanoë und Anne Hidalgo, dann wurde er stellvertretender Generaldirektor der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF, um dann als Generalsekretär zum Lebensmittelkonzern Danone zu wechseln, bevor nach zwei Jahren die Leitung der Sciences Po anfiel. Man findet auf diesem renommierten Posten das bekannte Pack aus Absolventen der französischen Eliteschulen, denen es vollständig wurscht ist, ob sie für die Sozialistinnen oder für Sarkozy und Macron arbeiten oder, vermutlich, in absehbarer Zukunft auch für den Front National – am System ändert sich nichts, und ihre Überzeugungen haben sie spätestens während dem Studium abgelegt. Vom neuen Direktor kann ich nur sagen, dass er als Sohn lateinamerikanischer Flüchtlinge aufgewachsen ist und eine Diplomatenkarriere hinter sich hat, das tönt irgendwie beruhigend nach einer Verwaltungskarriere und nicht nach der obersten Etage der französischen Elite. Mal sehen.