"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die Fähigkeit zum Gespräch

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Irgendein Philosoph hat kürzlich gemeint, mit der künstlichen Intelligenz gehe die Fähigkeit zum Gespräch verloren. Ich glaube, er hatte dabei eher die sozialen Medien im Hinterkopf, in welchen eine erstaunliche Neigung zum Herumbrüllen festzustellen ist. Das ist allgemein bekannt.
Audio
12:01 min, 28 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 02.12.2024 / 12:01
Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 26.11.2024
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Irgendein Philosoph hat kürzlich gemeint, mit der künstlichen Intelligenz gehe die Fähigkeit zum Gespräch verloren. Ich glaube, er hatte dabei eher die sozialen Medien im Hinterkopf, in welchen eine erstaunliche Neigung zum Herumbrüllen festzustellen ist. Das ist allgemein bekannt.
Ich selber kann es nicht aus eigener Anschauung bestätigen, da ich mich da komplett raushalte, vor allem, weil ich nicht gerne Gebrüll und Hetze über mich ergehen lasse, auch wenn es mich gar nicht selber betrifft. Eigentlich ist diese Entwicklung nicht nur enttäuschend, sondern auch erstaunlich ange­sichts der optimistischen Prognosen, die man vor 20 Jahren in Bezug auf die Erleichterung und Beschleunigung der zwischenmenschlichen Kommunikation gestellt hat; damals ging man davon aus, dass sich die Kommunikationskultur aufs Erfreulichste entwickeln würde und dass die Menschen zum gegenseitigen Nutzen miteinander in Kontakt treten würden. Ja, viele schöne Gespräche waren damals der Traum und das Versprechen der schönen neuen Möglichkeiten. Mit Dingen wie Shitstorms oder mit supranarzisstischen bayrischen Ministerpräsidenten konnte man damals nicht rechnen. Heute aber hat man den Eindruck, die Beteiligten würden miteinander nicht Informationen, sondern nur Dreck austauschen. Neben Nonsense und Shit bevölkern Myriaden von lustigen Filmchen die globale Sphäre zwischen den Individuen und erinnern mit dem Anreiz zum Lachen an einen ununterbrochenen Schluckauf. Nun ist der negative Gesamteindruck mit Sicherheit falsch. Nicht nur die Kommunikation, auch die Organisation wird dank den sozialen Medien um ein Vielfaches erleichtert, und diese positive Entwicklung nimmt man weniger wahr wegen des Gebrülls verschiedener Hirnaffen und Harnochsen, zuletzt verstärkt von diesem US-amerikanischen Multimilliardär, der sich vor einem halben Jahr an das Trump gehängt hat; Elon Musk verbreitet höchstpersönlich auf seinem eigenen Nachrichtendienst X Falschmeldungen, welche unter anderem die englische Regierung destabilisieren sollen, und da man nicht davon ausgehen muss, dass Musk dies aus philanthropischen Beweggründen tut, kann man ein internationales Netzwerk im trans­atlan­tischen englischsprachigen Bereich vermuten, aus dem vor den Wahlen wohl auch die Vorwürfe stammten, dass sich die englischen Politiker:innen in die US-Wahlen einmischen und Kamala Harris unterstützen würden. Was sie auf ihre Art zweifellos getan haben, so wie Nigel Farrage das Trump zu unterstützen versucht hat; das ist normal, und deswegen staunt der denkende Mensch darüber, dass man daraus einen Vorwurf konstruieren kann. Irgendwo gibt es eine Geheimkammer, aus welcher die Giftpfeile gegen Keir Starmer und seine Regierung geschossen werden und zu welcher vermutlich vor allem die englischen Tories Zugang haben, namentlich der Clown Boris Johnson und eben der andere Hampelmann Farage. Auch die Murdoch-Familie lauert in unweiter Ferne.

So etwas braucht mich nicht zu kümmern, und ich kann darin eben auch nicht einen Verlust der Fähigkeit zum Dialog sehen. In der Politik ist die Gesprächsbereitschaft sowieso schon lange keine Maxime mehr, du wirst nicht gewählt, weil du besonders einfühlsam und verständnissinnig bist, sondern aufgrund dessen, was man klare Kante nennt. Auch hier kein Grund zur Panik; auch in allen übrigen Auseinandersetzungen vertritt man seine Positionen zunächst nicht mit der Auf­for­derung zum Dialog. Gegensätze sind nicht aus purer Lust an der Diversität Gegensätze, sondern haben neben den objektiven Elementen, welche sie erst zu solchen machen, auch eine objek­ti­vier­bare Form. Dem einzelnen Kapitalisten sind hohe Löhne im Betrieb ein Dorn im Auge, und die Kapitalistenklasse insgesamt braucht eine starke Kaufkraft wie der Fisch das Wasser, das schleckt kein Dialog weg. Wie stark ausgeprägt die Gegensätze jeweils sind, bestimmt auch die Kommu­ni­ka­tion zwischen den beiden Seiten: Der Dialog hat seine Zeit, und die Konfrontation hat ihre Zeit. Im Zeitalter der Empörung ist der Kurs des Gesprächs sowieso bescheiden, und das reicht deutlich über die klassischen Gegensätze hinaus, denn um sich zu empören und zu entrüsten, braucht es keine objektive Grundlage, wenn diese auch zugegebenermaßen das ihre beitragen kann. Aber notwendig ist sie nicht, wie wir unterdessen gelernt haben. Vom Trump brauchen wir hier nicht zu sprechen, das ist noch einmal eine andere Erscheinung am Firmament der sozialen Organisation.

Es gibt bisher keine wissenschaftliche Untersuchung, welche einen Bezug zwischen dem Online-Gebrüll und einer Massenwirkung dieses Gebrülls nachweist. Einzelfälle sind bekannt, bis hin zur Ermordung des französischen Lehrers Samuel Paty durch einen kaukasischen Islamisten, wobei das Gebrüll hier bereits die Grundlage, eben den Islamismus bildete, während die konkreten Vorwürfen auf Falschinformationen beruhten, wie könnte es anders sein, und zwar indem die Tochter des Auftraggebers ihrem Vater eine Lüge über Samuel Paty erzählt hatte, nämlich dass er sie aus religiösen Gründen vom Unterricht ausgeschlossen habe, während sie bloß die Schule geschwänzt hatte, aber das tat dann nicht mehr viel zur Sache, und die konkrete Tatplanung erfolgte in einer Reihe von Abmachungen über Social Media. Sowas gibt es aber nicht in der Breite, da lässt man sich von der Lautstärke des Gebrülls allzu leicht und gern täuschen. Nehmen wir mal zu unser allem Nutzen an, dass dieses Gebrüll zwar unschön, aber letztlich doch wirkungslos und insofern auch unwirklich ist und unsere Gesellschaften in ein paar Jahren wieder durch die Hintertür verlassen wird, so wie es gekommen ist. Könnte ja sein. Dann kehrt die Gesellschaft möglicherweise zurück zur Gesprächskultur. Mindestens aber werden wir dann der Frage nachgehen, ob Deutschland nun tatsächlich direktemang in den Untergang taumelt, wie es vor allem jene, die gerade nicht an der Macht sind, im Stakkato und im Crescendo behaupten, abgesehen von anderen interessierten Kreisen wie zum Beispiel der Bund Deutscher Industrieller, der unterdessen so gut empört ist wie bei euren Nachbarn die nicht zu unterwerfenden Franzosen, also die vermeintlichen Linksextremen von Jean-Luc Mélenchon. Aus neutraler Sicht möchte ich diese Frage vorsichtshalber verneinen. Tatsächlich hat der Automobilismus, welcher das deutsche Wirtschaftswunder durch die Jahrzehnte getragen hat, einiges abbekommen, nicht nur von der Erkenntnis, dass die Verbrennermotoren ungefähr den wichtigsten Beitrag zur Klimaerwärmung leisten und somit durch Elektromotoren ersetzt werden sollten, respektive durch den Umstieg auf den öffentlichen Verkehr, selbst­ver­ständ­lich, aber das ist ein anderes Kapitel; es ist nicht nur die Umstellung auf Elektromobilität, sondern es sind auch die Herstellermärkte, die im Umbruch sind, nicht nur in China, sondern auch in Europa, wo Stellantis seit einigen Jahren alles zusammengerafft hat, was nicht gerade deutsch ist, vielmehr: Wo sich alles, was nicht gerade deutsch ist, zu Stellantis zusammengeschlossen hat einschließlich des Chrysler-Standbeins in den Vereinigten Staaten. Dann haben wir protek­tio­nisti­sche Maßnahmen in den USA als wichtigstem Absatzmarkt, wobei die internationale Auto­mobil­industrie hier insofern einigermaßen vorbereitet ist, als längst alle Marken auch in den Vereinigten Staaten produzieren; aber für den Standort Europa und in eurem Fall Deutschland ist dies kein großer Trost. Kurzum: Die Automobilindustrie war die Leitindustrie mindestens der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, aber es ist dringend zu empfehlen, sich aus dieser Abhängigkeit zu lösen. Und in dieser Beziehung, geschätzte Zuhörerinnen und Zuhörer, seid ihr ja trotz allem nicht untätig geblieben, wenn euch auch verschiedene Kritikerinnen vorwerfen, dass ihr keine digitalen Champions unterhält, wie übrigens auch andere EU-Länder. Aber an euren Universitäten und zunehmend auch in der Industrie wachsen die Sprösslinge einer neuen Wirtschaftswelt ebenso wie in allen anderen Ländern. Und wenn ich jetzt die Mängel bei den Infrastrukturen hinterher schiebe, so möchte ich doch anfügen, dass ihr darin nicht die einzigen seid. Bis zum Amtsantritt von Joe Biden galten die Infrastrukturen in den Vereinigten Staaten als noch schlechter als bei euch. Jetzt gab es einen Investitionsschub der öffentlichen Hand, dessen Auswirkungen ich aus der Distanz nicht beurteilen kann; ich nehme mal an, dass die Bemühungen mit der Zeit doch ihre Früchte tragen. So etwas ist auch in Europa nicht unmöglich. Daraus entsteht sogar eine positive Bewegung beim Bruttoinlandprodukt.– Und so bleibt meine Einschätzung von Deutschland wie insgesamt von Europa im Moment zweiteilig: Einesteils werdet ihr wie alle anderen Länder auch den Sprung in die nächste Etappe der Digitalisierung ohne weitere Anstrengungen schaffen, und anderseits sind die Fragen rund um die Bürokratie, wo in Europa die EU-Vorschriften die nationalen Vorschriften überlagern, noch nicht geklärt. Vielleicht ist es übrigens gar nicht möglich, diese Bürokratie zu zerschlagen, weil sie selber in einer Form von künstlicher Intelligenz existiert, das heißt, eine entsprechende Software ist möglicherweise schon heute in der Lage, Anträge und andere schöne Dinge bis ins Detail hinein gesetzeskonform auszuarbeiten, ohne dass dadurch die übrigen Aufwände in den Unternehmen oder in der Gesellschaft zunehmen. Ich kenne diese Software nicht, aber ihre Existenz scheint mir durchaus nicht unmöglich.

Wenn ich mir die Scharaden rund um den Weltklimagipfel mit den größten Erdölproduzenten und CO2-Emittenten als Hauptakteuren vergegenwärtige, brauche ich ein Gegenmittel, und vorüber­gehend habe ich eines gefunden im Rahmen einer Kunstausstellung. Es handelt sich um das Crochet Coral Reef, das von den Zwillingsschwestern Margaret und Christine Wertheim vor fünfzehn Jahren ins Leben gerufen wurde, also um gehäkelte Korallenriffe. Insgesamt sind sie unterdessen an gut 50 Standorten entstanden oder im Entstehen. Dasjenige, das ich gesehen habe, stammt aus dem Museum Frieder Burda in Baden-Baden und wurde von 4000 Personen erstellt; es besteht aus einem halben Dutzend Plattformen, aus welchen diese Korallen wachsen in zahllosen sub­ma­rinen Formen, die nicht alle an Korallen erinnern,m sondern auch an andere Blumen, Seegräser, Seesterne oder zum Teil auch an organische Skulpturen. Die meisten sind in leuchtenden Farben gehalten, die in Farbfamilien zusammen leben; ein paar sind aber auch weiß und stellen die bereits abgestorbene Korallenpopulation dar. Die Korallen stehen selbstverständlich wie kaum eine andere Tierart symbolisch für die Klimaerwärmung, wie man weiß, weil ihre Lebenschancen abnehmen, je wärmer die Wassertemperaturen werden, und insofern bilden sie einen exakten Kontrapunkt zu den mit Erdöl verschmierten Aserbaidschani und Saudiarabierinnen, welche alles tun, um die Weltmeere so stark zu erhitzen wie immer möglich. Das Crochet Coral Reef steht aber auch noch für eine weibliche Seite der Angelegenheit, indem es in einer im Allgemeinen kaum beachteten, hauptsächlich von Frauen ausgeübten Kulturtechnik erstellt wird, eben mit Häkeln, zum Teil auch mit Stricken, es ist also eine Form von Textilkunst; und dann tätigt Frau Christine Wertheim noch ein paar Äußerungen zu den hergestellten Häkel- und Strickformen, welche hyperbolische geometrische Strukturen aufweisen. Davon mache ich an dieser Stelle keine Zusammenfassung, sondern fordere euch einfach auf, bei Gelegenheit mal solch ein gehäkeltes Korallenriff anzuschauen. Die sind prachtvoll. Die einzige Frage, die sich mir stellt, ist jene, ob aus der Kooperation von 4000 Personen wie in Baden an 50 Standorten auf der ganzen Welt möglicherweise so etwas wie ein Netzwerk entsteht, das dem Erdölterror nicht nur im Automobilbereich, um abschließend nochmals darauf zurück zu kommen, sondern vor allem in den Machtsphären dieser Welt eine Alternative entgegenstellt. Und wenn ja, wie könnte die aussehen? Kann man vielleicht auch Sprengstoff häkeln?