Aus Neutraler Sicht KW 26: Die Europäer

ID 4456
 
Albert Jörimann ("unser Mann in der Schweiz")produziert jede Woche einen ca. zehnminütigen Kommentar zu aktuellen politischen Themen.
Audio
12:31 min, 11 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 30.06.2003 / 15:05

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 30.06.2003
keine Linzenz
Skript
Die Europäer, diese Knalltüten, machen nun doch vorwärts, zwar auf erheblich unsicherem Boden, aber immerhin; es gibt nicht nur eine ganze Menge neue Mitgliedstaaten und Mitgliedkandidatenländer, sondern ganz und gar eine europäische Verfassung, in der erstmals auch die Bürgerinnen und Bürger einen Hauch von Mitsprache haben sollen, eine Volksinitiative mit hinreichend vielen Unterschriften aus einer erheblichen Anzahl von Mitgliedländern soll das EU-Parlament verpflichten können, ein Gesetz im Sinne der Volksinitiative auszuarbeiten oder allenfalls abzuändern. Die Initiative, merkt Euch dies aber wohl und schreibts Euch hinter die Ohren und tätowierts auf die Kniescheiben, ist nicht materiell bindend, sondern erteilt dem Parlament einen erheblich unverbindlichen Auftrag. Und sowas nennt sich dann Demokratie.

Aber, Freundinnen und Freunde, immerhin tut sich etwas da oben. Und wen entdecken wir hinter all diesen Arbeiten, hinter all diesen tatsächlichen Fortschritten? Wir entdecken so ne Knallchargen wie den ehemaligen französischen Regierungschef Valéry Giscard d’Estaing, selber ein Relikt aus dem vorrevolutionären Frankreich, wie der adelige Name schon sagt. Es sind also ausgerechnet jene Saftsäcke, über die wir uns seinerzeit grün und blau geärgert haben während ihrer Zeit an den Macht und an den Korruptionstöpfen, zum Beispiel in Frankreich, welche uns nun mindestens auf der Ebene von Europa den Fortschritt sozusagen vorschreiben. Und wo bleibt in diesem Prozess die politische Linke, womöglich die internationalistische Linke? – Ich will hier ja nicht unterstellen, dass die national bornierte Linke zwangsläufig statt im Sozialismus im Nationalsozialismus endet, aber in die Richtung geht’s nun mal, verdammt nochmal, die national verbohrte politische Linke hat weder im Prozess der europäischen Vereinheitlichung, so nicht der europäischen Vereinigung noch beim tiefgreifenden Strukturwandel unserer Gesellschaften auch nur ein kleines Debättchen losgetreten. Von der ausserparlamentarischen Linken gar nicht zu sprechen; die erschöpft ihre Kräfte ganz und gar darin zu beweisen, dass der Kapitalismus schlecht ist und in den Imperialismus mündet, dass die arbeitende Klasse verarmt – man sieht es auch im Jahrhundertvergleich ganz deutlich – und dass die Machthabenden und ihre Organisationen und Organisationsformen ganz deutlich keiner demokratischen Kontrolle unterliegen – ganz im Gegensatz zum Beispiel zu den urkommunistischen Staatsformen beispielsweise des Kaiserreiches unter der Leitung von Kryptoanarchisten wie Bismarck und Konsorten.

Wenn man freundlich ist, sagt man vielleicht noch: Die spinnen, die Linken, oder kurz: Die Linke spinnt. Wenn man sich aber vergegenwärtigt, was die Linke gegenwärtig alles verschläft und vergeigt, und dies erst noch bei einer sozialdemokratischen, was sage ich, sozialdemokratischen: bei einer rot/grünen Regierung – dann kann man nur noch sagen: Nein, die Linke spinnt nicht, die Linke stinkt. Sie verfault. Sie ist ein Kadaver. Die Linke ist tot. Wisst Ihr noch, was die Whigs waren im 19. Jahrhundert in England? Die Whigs waren die zweite Regierungspartei neben den Tories. Die Tories gibt’s noch, am meisten davon sitzen in der Labour-Regierung, aber es gibt sie auch noch als Partei, aber die Whigs gibt’s nicht mehr. Und so spreche ich nun auch über die vereinigte Linke das Verdikt aus: Apage! Verschwindibus! So was können wir nicht gebrauchen. Schlafmützen sind wir selber, und nur um nicht zu denken brauchen wir keine AntiimperialistInnen. Voilà.

Was dagegen als fortschrittliches Programm entworfen werden könnte beziehungsweise müsste, ist dann in den Grundzügen nicht allzu schwer zu skizzieren: Erstens, von Europa aus gesehen, wäre da mal Europa: Das heisst, nach den den handelstechnischen Vereinheitlichungen bauen wir jetzt tatsächlich auch insgesamt einheitliche Systeme im Steuerwesen, in der Sozialversicherung, mit einer Grundrente für alle EinwohnerInnen der EU von ungefähr achthundert bis tausend Euro im Monat, aber selbstverständlich; wir reissen sämtliche Grenzen nieder, ohne dass wir deswegen auf die Wahrung regionaler Bedürfnisse verzichten, das geht nämlich ganz gut zusammen, darin haben ganze Länder auf der Welt schon riesige Erfahrung gesammelt, zum Beispiel die USA, ist überhaupt kein Problem, oder auch die Schweiz, hähähä. Bekanntlich muss man ja nicht sämtliche Aufgaben auf der Ebene des Zentralstaates lösen, man soll hier die richtigen Ebenen einrichten, die Länder zum Beispiel, also ich meine jetzt die Bundesländer, sollen doch ihre Funktionen durchaus beibehalten, aber man wird sich schon überlegen müssen, in welchen Zusammenhängen und Grössenordnungen, wenn da auf ganz Europa noch ein richtiges Parlament mit richtigen Gesetzen und Institutionen drauf geschraubt wird, dann wird man unten schon etwas straffen. Aber daran, dass es so was wie eine Gemeindeautonomie gibt und weiter geben muss, daran wird nix geändert, capito?

Und dann aber vollends im Bereich Schule, und damit im Zusammenhang im internationalen Austausch, wo eben die Grenzen in den Köpfen tatsächlich niedergerissen werden. Was tut ihr da? Sehe ich irgendwo einen Ansatz zu einem politischen Programm diesbezküglich, etwa auf der Seite der sogenannt fortschrittlichen Parteien? Die begnügen sich damit, antiimperialistische Parolen zu dreschen. Sie meinen, damit die Globalisierungsstufe siebenhundertneunzehn bereits erreicht zu haben. In Tat und Wahrheit tun sie einfach nix, ausser eben: Sie stinken vor sich hin.

Und a proposito Strukturwandel: Wann endlich nimmt jene Bewegung Gesicht an, die klar und deutlich sagt, dass es aus ist, fertig, schluss mit der kapitalistischen Wertschöpfung im Produktionsprozess, das a fortiori sämtliche Waren in China produziert werden, dass wir unser Geld nur aus dem Import, also quasi aus sich selber schöpfen und dass wir dementsprechend ganz andere Mechanismen für die gesamte Bevölkerung, und zwar von A bis Z, also von der Geburt bis zum Tod einzurichten haben? Wir müssen nichts weniger als ein ganzes religiöses System, aber auf der Grundlage von rein weltlichen Tatsachen neu erschaffen. Dabei werden wir selbstverständlich die Errungenschaften der grossen monotheistischen Religionen, und aber auch aller anderer, wenn ihr wollt und soweit ihr sie kennt und soweit sie zu etwas nütze sind, einbeziehen, in diesem Sinne herzlichen Dank an die paar Tausend Jahre Kultur- und Kirchengeschichte, insofern spielen diese Anstalten ja wirklich mehr als eine treuhänderische Rolle bzw. haben sie gespielt. Ja, eben: Wo ist diese Bewegung? Gibt es in Erfurt, einer Stadt mit einer stattlichen Vergangenheit an fortschrittlichen Parteiprogrammen, nicth vielleicht mal eine Gründungsversammlung einer Bewegung, welche nicht nur strikte europäisch, sondern auch strikte postkapitalistisch und erst noch an den Grundwerten der Menschheit und zu guter Letzt auch noch fortschrittlich orientiert ist? Donnerkeil!

Naja. Vielleicht erleb ichs noch, wenns gut geht, hab ich noch fuffzig Jahre zu leben, also vielleicht fangen wir dann irgendwann mal an damit. Bis dahin weise ich drauf hin, dass in den nächsten Tagen nicht nur Italien, sondern geradezu der italienische Ministerpräsident Berlusconi die Präsidentschaft der Europäischen Union übernehmen wird. Und dies ist die Gelegenheit, diesen herausragenden Staatsmann im europäischen Ausland einmal wieder herausragend reinzuwaschen von allem ,was ihn entfernt als Ehrenmann erscheinen lassen könnte. Silvio Berlusconi, nur zur Erinnerung, ist ein Schurke, ein Produkt jener durch und durch korrupten Regierungsclique aus Christdemokraten und Sozialisten in Italien, welche bis Ende der achtziger Jahre die italienische Gesellschaft als reine Lotterbude betrieben haben, unter anderem zuliessen, dass die Mafia im Süden Italiens jährlich Milliardenbeträge in Euro vom Staat bezog, ohne irgend eine Gegenleistung zu erbringen usw. usf. Silvio Berlusconi war der Schützling des Regierungschefs Craxi, der vor ein paar Jahren in Tunesien gestorben ist, weil der vor verschiedensten Korruptionsanklagen dahin geflohen ist und sich nicht mehr zurück traute. Silvio Berlusconi ist der reichste Mann Italiens, aber niemand weiss weshalb, weil er sämtliche Unterlagen verbrannt hat – kein Witz, im Fall, sondern nackte Tatsache. Er hat sich dank Bestechung der Sozialisten ein privates Fernsehmonopol zusammengebastelt, war Bauimperialist und besass eine Detailhandelskette, aber der Grossteil seiner Kröten stammt aus dem Medienbereich, was natürlich zur Politik ideal passt.

In die Politik stürzte er sich, weil nach dem Zusammenbruch der sozialistisch/christdemokratischen Bestechungsregierung kein anderer Ausweg mehr blieb. Damit er vor Korruptions- und anderen Prozessen auch nur einigermassen verschont blieb, musste er an die Macht kommen, damit er die Gesetze selber umbiegen konnte. Ein erstes Mal gelang dies 1994, das brach aber nach einem halben Jahr zusammen, weil Umberto Bossi, ein norditalienischer Separatist, die Koalition platzen liess; jetzt hingegen hat er seit zwei Jahren eine solide Mehrheit im Parlament und, eben, ändert die Gesetze, unter anderem hat er soeben Immunität für sich einführen lassen, nachdem der letzte übriggebliebene Bestechungsproezss sonst in die heisse Phase getreten wäre – eine Verurteilung wäre so gut wie sicher gewesen.

Silvio Berlusconi als Person wird von Stefanie Ariosto, der Kronzeugin im Bestechungsprozess, die irgend eine der reichen Erbinnen aus dem italienischen Geldadel ist, geschildert als Sado-Maso-Meister, dem seine Adlaten folgen wie einst die Diener dem Sonnenkönig. Sie kleiden sich alle gleich wie der Meister und halten dicht wie Betong. Ihnen wird das Maul gestopft mit Geld, Geld, Geld und nochmals Geld; jedes Fehlverhalten dagegen wird mit sofortigem Ausschluss, mit Ächtung, Drohungen, Prozessen usw. usf. bestraft, wie dies Stefania Ariosto selber schildert, wie dies aber auch noch von anderen Gegnern des Cavaliere Silvio Berlusconi bekannt ist, zum Beispiel vom eben zurückgetretenen Chefredaktor des Corriere della Sera, dem Berlusconis Helfershelfer neben anonymen Briefen auch Fakes von Briefbomben und eben Drohungen wegen der Familie usw. usf. zukommen liessen; die Handschrift verweist unter anderem auf die Mafia, von der Berlusconi mit ziemlicher Sicherheit ebenfalls Geld erhalten hat und vielleicht noch erhält, auf jeden Fall wurde bei den Regierungswahlen in Sizilien in keiner einzigen Provinz der Ulivo gewählt.

Daneben ist Berlusconi ein Phänomen vor allem deswegen, weil er laufend, ununterbrochen, immer vor laufenden Kameras lügt, lügt, lügt. Als es zum Beispiel drum ging, in der staatlichen Fernsehgesellschaft RAI zwei unliebsame Fernsehkommentatoren abzusetzen, beschuldigte er sie, sie würden von ihrer Medienpräsenz einen kriminellen Gebrauch machen. Nachdem sie dann abgesetzt waren – es versteht sich, dass Berlusconi unterdessen die RAI selber kontrolliert –, gab er zu Protokoll, das sei ironisch gewesen. Er sagte in Berlin, der Islam sei eine rückständige, unterentwickelte Religion. Am nächsten Tag dementierte er, alle Moslem seien seine Freunde und so weiter und so fort. Vor einem Monat reiste er in den Nahen Osten, angeblich um den Friedensprozess zu fördern. Er förderte ihn insofern, als er öffentlich sagte, er wolle nicht mit Arafat reden, der sei ohnehin de facto tot (wie die Linke, hkähähä). Darauf hin konnte natürlich auch Abu Massen nicht mehr mit Berlusconi sprechen. Berlusconi entschuldigte sich zwar nicht, sondern er sagte einfach, er habe das nicht gesagt beziehungsweise nicht soi gesagt. Kurz: Ihr habt da in Europa einen Gangster, einen Mafioso, einen Dauerlügner, einen Betrüger, einen Gesetzesbrecher und Gesetzesbieger für ein Halbes Jahr – soll ich jetzt sagen, Ihr hättet nichts anderes verdient? Ich wird mich hüten. Ich werde sagen: Ihr hättet etwas besseres verdient. Aber das müsste man eigentlich zuerst den Italienerinnen und italienern sagen, die ihn ja überhaupt gewählt haben. Wieso eigentlich? Aber das ist wieder ein anderes Kapitel.