Aus Neutraler Sicht KW 27: Tierversuche

ID 4483
 
UAlbert Jörimann ("unser Mann in der Schweiz")produziert jede Woche einen ca. zehnminütigen Kommentar zu aktuellen politischen Themen.
Audio
11:11 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 01.07.2003 / 20:55

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 01.07.2003
keine Linzenz
Skript
Bald sind wir auch so weit, sagte Kollege Jürg Steiner, und er meinte damit den implantierten Chip, vorderhand nur seines Hundes, eines vor lauter Liebenswürdigkeit etwas aufdringlichen Cockerspaniel-Verschnittes. Logo, der Mann musste die Humanisierung seines Tierdinges über das Implantat eines High-tech-Flohs nicht auf, sondern unter die Haut ürschendwie rechtfertigen, und was eignete sich besser als Rechtfertigung denn der Verweis auf die Kraft des Laufes der Welt! – Man könnte jetzt etwas aufholen und sagen, dass in der Schweiz seit ein paar Wochen die Tiere keine Sachen mehr sind, juristisch gesehen, aber Menschen sind sie auch noch nicht, also was sind sie dann, juristisch gesehen? Etwa voll und ganz Tiere? – Was ist dann im Personenrecht der Status des Tieres? Und überhaupt: Ist Tier gleich Tier, also verhält es sich gleich, wenn ich den Cockerspaniel Arnaud von Jürg Steiner überfahre wie wenn ich eine Fliege erschlage? – Schwierig, schwierig. Aber mit dem Chip im Tier leuchtet mir das vielleicht noch etwas ein, obwohl man mit Arnaud immer noch nicht telefonieren kann, wie mir Jürg Steiner bestätigte, das ist dann wieder schade, weil, es sähe wirklich possierlich aus und gäbe endlich eine Existenzrechtfertigung, wenn man mit all den Rehpinschern und Chiwauwaus endlich eben telefonieren könnte, wenn möglich ins Ohr hinein, und die Antwort von Tante Trude würde aus dem Mund des Rehpinschers herausschallen, ach, das wäre wirklich allzu schön.

Es ist nun auf jeden Fall Arnaud gechipt, das heisst, man kann ihn elektronisch oder über Satellitenruf orten, wenn er sich verlaufen täte, was er zuverlässig nie tun wird, denn Arnaud hängt sehr an Jürg, und dieser würde ihn nie von der Leine lassen. Aber vielleicht sind in diesem Chip auch noch biodynamische Daten drinne, Blutzucker, Anzahl weisse Blutkörperchen, Cholesterin, was weiss ich, all das auf jeden Fall, was Jürg Steiner annimmt, dass das dann später auch für uns Mode wird. Wir haben zwar nicht gross über diese Menschenchips gesprochen, der Abend war zu kurz, aber es eröffnen sich natürlich schon einige interessante Perspektiven, von denen das endgültige Selbstgespräch, das heisst die drahtlose Telefonie eben über den eingebauten Chip, nur die oberflächlichste ist. Ich habe zum Beispiel schon vor ein paar Jahren mal gelesen, dass man Blinden in Testversuchen bereits so ne Rezeptoren hinten an die Augenhöhlen oder sogar hinter die Augenhöhlen eingepflanzt habe, die dann die richtigen Impulse an das zuständige Nervenzentrum senden, womit die betroffenen Damen und Herren plötzlich zu sehen beginnen. Ob sie wirklich das Gleiche sehen wie die Sehenden, wäre eine offene Frage, die aber sogleich relativiert wird durch die Feststellung, dass wir alle ja immer auch nur vermuten, dass wir das Gleiche sehen wie die anderen; auch indem wir drüber reden, können wir so was nicht verifizieren, da wir uns ja in der Regel in zum Voraus festgelegten Standards äussern, die ebenso gut das Eine wie das Andere sagen könnten. Mit der Sprache jedenfalls ist es ganz eindeutig so, dass man sich noch am ehesten versteht, wenn man in Fremdsprachen redet; Leute, die sich miteinander auf Deutsch unterhalten, also in ihrer Muttersprache, verstehen sich mit Garantie nicht, gerade dann am wenigsten, wenn sie meinen, sie verstünden einander prächtig.

Soviel zum Thema Geschlechtsverkehr, zurück also zu den Tieren. Nämlich sind ja Tierversuche, und um dieses handelt es sich eindeutig, mindestens innerhalb der Argumentationsreihe von Jürg Steiner, etwas ebenso Nützliches wie Verrufenes, denn, eben, ein Tier ist ja kein Mensch, und deswegen soll man einem Tier nicht das antun, was man nicht einmal einem Menschen antun würde, capito? Ich auch nicht. Auf jeden Fall gibt es unterdessen die ganzen Segnungen des Fortschrittes auch für die Tierwelt. Aufgefallen ist dies jedem denkenden und mitfühlenden Individuum auf diesem Stern – also ihr seid gemeint, liebe Hörerinnen und Hörer, hört ihr –, wenn es einmal Werbung schaut für Tiernahrung oder gar etwa Katzenstroh. Bei den Unterabteilungen dieses Tierfortschrittes finden wir dann auch Tierpsychologen und FferdeflüstererInnen, und wir finden natürlich die Tiermedizin. Nämlich liegt gegenwärtig die Katze unserer Nachbarin halbtot herum, nachdem sich unsere Nachbarin nicht dazu durchringen kann, sie einschläfern zu lassen oder sie gleich selber von Hand zu erwürgen. Dieses Katzentier hört auf den schönen Namen Butterfly, das ist ein Schwimmstil, den man auf Deutsch Delfin nennt, es ist aber auch die englische Bezeichnung für einen Schmetterling, und dieses armen Tieres Glocke hat nun seit einigen Monaten geschlagen. Nämlich wurde besagtes Tier vor ziemlich zwölf Jahren einmal von einem Automobil überrollt – hätte es einen Chip gehabt, damals, hätte dieser Chip vielleicht einen Airbag ausgelöst, wer weiss –, und im Anschluss an dieses Desaster wurde das Tier dann im Tierspital mit Drähten, Stangen und Nägeln wieder zusammengeflickt. Jetzt, zwölf Jahre später, rosten diese Nägel vor sich hin oder auch nicht, auf jeden Fall hat das Tier grässlich Arthrose, und jede einzelne Bewegung tut ihm so weh, dass es sich schreiend auf einem vier Meter hohen Turm von Kissen windet, wenn ein Windstoss daran rührt.

Eben hätte man das arme Teil schon längstens erlöst, aber die Medizin lässt sich nicht aufhalten, und so hat die oder der zuständige Tierärztin oder Tierarzt ein Medikament aus der Tasche gezaubert, mit dem die gute Butterfly wieder schmerzfrei herumtollen kann. Tolle Sache, wirklich. Der Haken daran ist nur, dass sie zuerst sechs Stunden lang betäubt herumliegt von der chemischen Keule; dann gibt es einen Tag lang Miau und Kraul und Schnurr, und dann ist die Heiterkeit vorbei, und dann kriegt die Butterfly all das in zehnfacher Potenz zurück, was sie während dem Herumdüsen an Schmerzen eben nicht erlitten hat. Es ist hart, und man stösst, weil man doch ganz logisch die Verbindung vom herzallerliebsten Haustier zum Menschen zieht, an die Existenzfrage, die da lautet: Lohnt sich nun aber so was? Lohnen sich 24 Stunden Normalität, wenn ich dafür mit 72 Stunden Höllenpein bezahlen muss?

Für die Katz, möchte ich sagen. Es ist alles für die Katz. Aber unsere Nachbarin bringts nicht übers Herz, das Tier alle machen zu lassen, weil irgend eine Instanz in ihr drin den Zeigefinger reckt und sagt: du Mörderin, du! – Aber wirklich schuld am Dilemma ist eigentlich die Tierärztin, weil die die gute Butterfly ganz einfach hätte einschläfern können anstatt ihr diesen beschränkten Jungbrunnen anzudrehen. – Anderseits wirft die Affäre ein bisschen ein Licht darauf, wie verkorkst die Entwicklung unseres Verhältnisses zu unseren Leibspeisen und Tierlieblingen doch verläuft, nicht nur bei den Juristinnen und Juristen. Wir wenden doch tatsächlich und voll und ganz unsere ureigenen menschlichen Tabus – du sollst nicht töten – auf die Kreatur an, und es würde mich stark erstaunen, wenn es mindestens in den Vereinigten Staaten nicht schon Gottesdienste mit und wahrscheinlich sogar für Haustiere gibt, an deren Seele ja ein paar ziemlich enttäuschte und verstockte Menschen ja intensiver glauben als an jene der Mitmenschen.

Also bleibt uns wohl oder übel nichts anderes übrig, als uns tatsächlich selber zu fragen, ob die alltägliche Plackerei wirklich die Mühe wert ist, wenn als Lohn dafür gerade mal ein paar Gläser Bier und vielleicht etwas Fussball winken. So extrem ist nämlich der Kern dieser Fragestellung. Und hier kann ich nur sagen: dochdoch, ein gutes Bier hat noch niemandem geschadet, vor allem wenns kühl ist und der Sommer heiss. Und diese Voraussetzungen hätten wir doch im Moment wirklich in schönster Schönheit.

Da ich hier nicht nur über Haustiere und schöne Blumen sprechen darf, will ich doch noch kurz das Sommerspektakel der Regierung loben: So wie ein lange ersehnter Regen in einer Hitzeperiode kommt die Ankündigung des Kabinetts Schröder, es wolle nun die Steuern senken, und zwar im Betrag von, wenn ichs recht in Erinnerung habe, 10 Milliarden Euro pro Jahr. Naja, das wären dann etwa 3 Prozent der Bundessteuern oder 1 Prozent des gesamten Staatshaushaltes, nicht gerade berauschend viel, aber doch immerhin ein erster Schritt in eine richtige Richtung, nachdem in den letzten Monaten wirklich der Eindruck unvermeidlich war, dass die Sozialdemokratie die wachsenden Ausgaben mit allen möglichen und unmöglichen und immer ausgefeilteren Steuern und Abgaben decken wollten. Endlich einmal Gegensteuer, uff, wurde aber auch Zeit! – Das schönste an diesem Signal war wohl so was wie ein Mentalitätswechsel, den man bisher nur in der Rentenreform gespürt hatte, wo einem schönen Teil der Bevölkerung, und zwar vor allem dem weniger begüterten Teil der Bevölkerung, Einkommen abgeklemmt werden soll. Wenn die das jetzt durch eine Senkung der Steuerbelastung wieder ausgleichen könnten, dann würden wir das Ganze ja halbwegs ertragen.

Allerdings ist die Vermutung nicht etwa hinterhältig, dass die Ministerriege dieses Projekt so angelegt hat, dass es im Bundestag scheitern wird. Man darf vermuten, dass es sich hier um eine grosse Umschminkaktion handelt, im Verlaufe deren der Schwarze Peter den C-Parteien zugeschoben werden soll. Dafür kann man einerseits nur gratulieren, denn gelungene Werbecoups soll man loben; und anderseits verweist diese PR-Aktion ein weiteres Mal auf den grundlegenden Missstand, dass in Deutschland zuverlässig beide, sowohl die Union als auch die Sozialdemokratie, die identische Politik betreiben. Was auch immer abläuft – sie wollen immer mehr Geld, aber nicht etwa, um irgend ein Gesellschaftsprojekt zu verwirklichen oder einen Strukturwandel, sondern ganz einfach Geld unter allen Titeln, da kann am Schluss sogar zum Teil noch etwas Vernünftiges dabei herauskommen.

Das wird mit der Zeit zum Problem, einmal unabhängig von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Ein solcher Staat, wie er sich jetzt zeigt, driftet unausweichlich von der Gesellschaft weg. Ein Nebeneffekt ist der, dass er die Unsicherheiten schamlos ausnützt, die im Wechselspiel mit der Europäischen Union entstehen. Das trägt bei zur Undurchschaubarkeit sämtlicher Operationen. Und ein Staat, dessen Operationen für neunzig Prozent der Bürger undurchschaubar sind, ist alles mögliche, aber kein demokratischer Staat. Zudem trägt die Instrumentalisierung der Unsicherheiten dazu bei, dass die Menschen in Deutschland sich immer stärker von Europa abwenden. Wenn die Regierung sie bescheisst, ob es sich nun um Schröder, Stoiber oder Kohl handle, haben sie immer stärker den Eindruck, sie würden von Europa beschissen. Und das ist eben nicht die Wahrheit. – Also tut endlich mal was Tapferes, einverstanden?