"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Der Standard -

ID 50610
 
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Braucht uns die Geschichte zu interessieren? – Die Vernunft sagt Ja, denn sie weiß, dass die ganze Gesellschaft nur aufgrund von Geschichten funktioniert, die zum guten Teil auf der Geschichte beruhen. Dabei sind die Wissenschaftler, welche Geschichtsforschung betreiben, eher seltsame Figuren mit ihrem Anspruch, eine wie auch immer geartete Wahrheit zu finden und zu verkünden; zentral sind zweifellos die Mythen, sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart, und nicht die angebliche Realität.
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12:31 min, 23 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.09.2012 / 11:21

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 04.09.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Gleichzeitig sind Realität und Wahrheit Kernvermutungen, ohne welche auch die Mythen nicht funktionieren, das gehört zur ganzen Dialektik der Angelegenheit. In der Auseinandersetzung über die richtigen politischen Institutionen stützen wir uns zum Beispiel in der Schweiz mit der Direkten Demokratie oft auf die Landsgemeinde ab, die alljährliche Versammlung aller erwachsenen und stimmberechtigten Bürger, welche als Charakteristikum und Vorläufer dieser direkten Demokratie gilt. Sie wird gerne auf das germanische Thing zurückgeführt und durchaus auch mit den politischen Versammlungen der Ureinwohner Nordamerikas, der Indianer verglichen. Aber schon der Blick in ein lokalhistorisches Buch belehrt mich wie folgt, ich zitiere: «Dem gleichen Ziele, die Alemannen fester in den Griff zu bekommen, entsprang auch ihre Unterstellung unter einen einzigen Herzog (im 6. Jahrhundert, Anmerkung). Bisher hatte eine Schicht von fürstlich lebenden, sich unablässig bekriegenden Kleinkönigen den Ton angegeben, denn eine straffe staatliche Ordnung bestand damals noch nicht. Wohl aber gab es eine nicht leicht durchschaubare Abstufung in ständischer Hinsicht; sie reichte von den Vornehmen, den primi Alamanni der Gesetzbücher, über die Mittelfreien, aus denen später der kleinere Ortsadel hervorging, über die Halb- und Minderfreien, die persönlich freien Bauern bis zu der großen Masse der Hörigen und Leibeigenen. Alle aber waren von den Vornehmen, den Fürsten, abhängig, denn diese verfügten über den größten Teil von Grund und Boden, genossen Wohlstand und Reichtum, wie es sich nur eine nicht allzu breite Herrenschicht leisten konnte. Die Zahl der freien Bauern – deren es ohne Zweifel auch gab – reichte nicht aus, um die früher vermuteten demokratischen Volksgemeinden und Marktgenossenschaften zu bilden.» – Päng! – Die Lokalchronik aus dem Jahr 1969 hat den Mythos in seiner Substanz mit ein paar Sätzen erledigt. Und das ist es doch genau, was den Spaß an der Geschichte bzw. an der Geschichtsschreibung ausmacht. Garniert werden solche Sachen dann noch durch ein paar lustige Details, ich fahre ohne Unterbrechung fort im Zitat: «Im Jahre 587 hört man zum ersten Male von einem alemannischen Herzog, namens Lütfrid, der bei König Childebert II., dem Herrscher über das ostfränkische Teilreich Austrasien, bald in Ungnade fiel und durch Uncilin ersetzt wurde. Dieser aber machte sich bei des Königs Mutter, der blutgierigen Brunhilde, unbeliebt, so dass sie ihm einen Fuß abhacken ließ.» – Ja, ja, ja, das ist der Stoff, den ich mir gefallen lasse. Die blutgierige fränkische Königinmutter Brünhilde, was für ein schöner Name, lässt dem alemannischen Herzog Uncilin einen Fuß abhacken. So muss es sein, das sind die Vorformen der heutigen Thriller-Filmindustrie. «Die Hard» auf fränkisch. Weiter so!

Weniger ergiebig ist es dann, zum Beispiel die Ausgabe vom 21. September 2011 des Wiener Standard zu lesen. Der Titel kommt uns bekannt vor: «Währungsfonds kritisiert Europas Unentschlossenheit – Falls Eurokrise eskaliert, droht Rezession – Weltkonjunktur stockt». Dies ist schon fast ein Rubrikentitel, nicht der Titel eines einzelnen Artikels, denn er wiederholt sich seit mehreren Jahren in exakt den gleichen Worten und über exakt den gleichen Ausführungen. Nur eines erstaunt in diesem Zusammenhang: Auf der zweiten Seite findet sich ein Artikel über die Herabstufung der Bonität Italiens durch Standard&Poor’s, und da steht laut und deutlich, dass der Regierungschef Silvio Berlusconi lautet. War dieser Schleimaffe vor einem Jahr tatsächlich noch im Amt? – Ich habe den Eindruck, als gehöre er zu einer anderen, längst untergegangenen Epoche, von der nur noch hin und wieder wie ein Wetterleuchten ein paar Ankündigungen einer erneuten Kandidatur für das Ministerpräsidentenamt oder, noch viel besser, für das Ehrenamt des italienischen Staatspräsidenten auftauchen. Insofern stehen hier zwei Zeitebenen unmittelbar nebeneinander, jene der permanenten Krise, welche auf ihre Art die trotzkische permanente Revolution vorgaukelt, neben dem Phänomen Berlusconi, das in all seiner Tagesaktualität wohl schon während der Regierungszeit aus einer anderen Dimension stammte, aus Mittelerde und dort aus dem Reich Halbschlau und Reichdreist. – Ebenfalls in dieser Standard-Ausgabe steht zu lesen, dass am 20. September 2011 der ehemalige afghanische Präsident Burhanuddin Rabbani bei einem Bombenanschlag in Kabul getötet wurde; der Grund dafür war einfach der, dass er versuchte, das Gespräch mit den Taliban aufzunehmen, worauf sich einer von denen mit einer Bombenladung an ihn heranmachte und sich in die Luft sprengte. Lustig an dieser Meldung ist die Platzierung des Sprengsatzes: Der Herr Taliban führte das Dynamit in seinem Turban auf dem Kopf mit, genau wie in jenen dänischen Karikaturen der Jyillands Posten, bloß dass es natürlich nicht Allah war, sondern eben einer der jungen Herren Religionslehrer. Ich weiß nicht, ob sich daraus direkte Schlüsse für die internationale Turban- oder Hutindustrie ergaben, aber das braucht mich ein Jahr später auch nicht zu interessieren.

Vor einem Jahr war in Österreich auch eine PR-Kampagne ein großes Thema, welche die Regierung zugunsten der ÖBB losgelassen hatte bzw. mit welcher sie erhebliche Geldsumme in der Form von Inserateaufträge an Zeitungen wie z.B. das Gratisblatt «Österreich» vergab mit der klaren Absicht, dieses regierungsfreundlich zu stimmen. Kanzler war schon damals der Sozialdemokrat Faymann, und es versteht sich, dass die politischen Gegner mit allergrößter Freude sich auf diesen, im Übrigen völlig legalen Vorfall stürzten, und es versteht sich von selber, dass sie dies nur mit gedrosselter Energie tun konnten, weil sie selber allesamt ebenfalls Dreck am Stecken hatten und nach wie vor haben. Heute spricht davon kein Mensch, heute geht es um die Bestechungsskandale rund um die Freiheitlichen und das Bündnis Zukunft Österreich in Kärnten, wo alle innen und außen braun gebrannten Verantwortlichen standhaft sämtliche Vergehen leugnen, auch wenn sie schon überführt sind, aber das ist den Menschen offensichtlich von jenem Punkt an egal, da sie verinnerlicht haben, dass es nicht die Wahrheit an und für sich, sondern in erster Linie die Kommunikation gibt. Kürzlich habe ich die Ankündigung einer Vortragsreihe eines Privatspitals gelesen über orthopädische Prothesen, insonderheit Knieprothesen. Das ist doch geschickt. Solche Knieprothesen werden seit Jahr und Tag in allen Spitälern und insonderheit in den öffentlichen eingesetzt; aber mit solch einer Vortragsreihe und mit den entsprechenden PR-Aktivitäten eignet sich dieses Privatspital das Thema sozusagen selber an und stellt sich als Kompetenzzentrum dar, was es im übrigen durchaus auch ist, bloß einfach nicht so ausschließlich, wie es dann im Anschluss an diese Reihe erscheinen mag. Und wenn man das ein bisschen weiter treibt, dann verschwindet eben der Sachgehalt komplett hinter der Kommunikationsleistung, wie grad in Kärnten anhand von FPÖ und BZÖ zu beobachten und wie es bei diesen Parteien von der Stunde ihrer Gründung an die Regel war. Diese Trennung von Sein und Schein in der Kommunikation könnte man übrigens wieder einmal zum Gegenstand eines philosophischen Exkurses machen, in Erinnerung an die früheren Diskussionen über das Thing an und für sich. – Und im Wirtschaftsteil gibt es einen Artikel über «Samsungs Unabhängigkeitserklärung» angesichts der Übernahme des konkursiten Handy-Herstellers Motorola durch Google, an welche sich heute kein Mensch mehr erinnert; heute ist vielmehr der Patentstreit zwischen Samsung und Apple das dominierende Thema im Bereich der Smartphones, wobei ich mir die Bemerkung gestatte, dass ein Kampf im Moment noch nicht ausgetragen ist, nämlich jener um die Bankfrage. Wenn nämlich in Zukunft nicht mehr per Kreditkarte, sondern per Handy bezahlt wird, dann fließt das Geld nicht mehr über die AmericanExpress- oder Mastercard-Unternehmung, sondern eben über die Handygesellschaften, und es würde mich schon sehr stark wundern, wenn Apple nicht hinter dem öffentlichen Gezeter um ein paar Patente diesen Zweig vorbereiten würde. Wenn nämlich alle Menschen ein Handy haben, das erst noch sicher ist vor Angriffen, und in dieser Beziehung dürfte das iPhone gewisse Vorteile haben gegenüber der offenen Software von Google und erst recht gegenüber den anhaltenden Lachnummern von Windows, dann bringt das so richtig Kohle aufs Konto, und hier sprechen wir von Beträgen von hunderten, wo nicht tausenden von Milliarden. Aber dies wie gesagt nur am Rande.

Was haben wir noch? Auf Seite 13 prangt die gleiche Fotomontage vom Mars-Rover Curiosity, wie sie seit einem Monat auch dieses Jahr regelmäßig publiziert wird, bloß als Vorankündigung auf eine Zukunft, die für uns inzwischen Vergangenheit ist, aber die Foto ist nach wie vor gegenwärtig. Im Wien-Museum im Haertl-Bau wächst der Schimmel, und der Umbau des Ernst-Happel-Stadions für die Fußball-Europameisterschaft 2008 soll Mehrkosten von rund 70% verursacht haben, statt den budgetierten 18 Millionen Euro 31 Millionen Euro, welche die Stadt Wien und der Zentralstaat letztlich bezahlt haben. Im Wirtschaftsteil herrscht die gewohnte «Furcht vor Europas Konjunkturwolken», die Griechen hoffen auf Milliardenhilfen, Portugal präsentiert ein Privatisierungsprogramm, die spanischen Lehrer gehen auf die Straße, Frankreichs Banken stehen unter Druck, an der Börse sei die Stimmung so schlecht wie zuletzt nach dem Lehman-Kollaps, die Haftung des Bundeslandes Kärnten beim Betrugsfall Hypo Alpe Adria, siehe FPÖ und BZÖ in Verbund mit der Bayrischen Landesbank, liege um rund 1 Mia. Euro höher als gedacht, nämlich statt 18.833 Mia. 19.771 Mia. Euro. Und auf der Schlussseite 40 wird die tröstliche Bilanz gezogen: «Alle stecken im Schlamm», das politische System in Österreich versinke immer mehr in Korruption. – Nichts Neues, mit anderen Worten.

Hin und wieder pflege ich euch an dieser Stelle mit Hinweisen auf das Alltagsleben in der Direkten Demokratie in der Schweiz zu füttern, also mit Schilderungen von Abstimmungsvorlagen. Nun, am 23. September steht wieder so ein Wahlsonntag bevor, ziemlich genau ein Jahr nach der referierten Ausgabe des Wiener Standard, und meiner Treu, ich weiß gar nicht so recht, worum es geht, bloß ein Thema erregt den Volkskörper ein bisschen, nämlich ein landesweit einheitliches Rauchverbot auch am Arbeitsplatz, was theoretisch eine vernünftige Sache wäre, wenn man bloß in solchen Vorschriften nicht immer wieder einen Versuch erkennen würde, über die Gesundheit eine neue Form der Herrschaftsmöglichkeit bzw. des Zugriffs auf den Volkskörper einzurichten, weshalb ich schon jetzt eine massive Niederlage dieser Gesundheitsvorlage prophezeie, ich als Nichtraucher habe sie jedenfalls abgelehnt, was zwar noch nichts sagen will, aber ich denke, die Stimmung ist generell ungefähr wie meine eigene. Und dann wird noch abgestimmt über die bundesweite Förderung der Jugendmusik, was, meiner Treu, ein ausschließlich symbolisches Anliegen ist, denn dagegen kann niemand im Ernst sein; dennoch haben sich einige Parteien dazu entschlossen, die Nein-Parole herauszugeben, um ihren strammen Spar-Willen zu demonstrieren, unter anderem ausgerechnet die Partei der Initiantin des Textvorschlags, die schweizerische FDP, nicht zu verwechseln mit der deutschen F.D.P., obwohl sie mit solchen Abstimmungsempfehlungen drauf und dran ist, sich gleich lächerlich zu machen wie die eurige und vielleicht demnächst mal bei den Wählerinnen-Stimmanteilen auch unter die 10%-Marke zu rutschen.