Aus Neutraler Sicht KW 8/2004: Ich habe mich geirrt

ID 6249
 
Albert Jörimann ("unser Mann in der Schweiz") produziert jede Woche einen ca. zehnminütigen Kommentar zu aktuellen politischen Themen.
Audio
11:04 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 27.02.2004 / 12:28

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 17.02.2004
keine Linzenz
Skript
Ich habe mich geirrt. Die Sozialdemokratie betreibt nicht eine christdemokratische Politik, bloss schlechter. Es geht hier um etwas anderes.

Ohne jeden Zweifel waren die letzten Jahrzehnte in Europa eine Epoche der Sozialdemokratie. Insofern stimmte natürlich die Bemerkung, dass in Deutschland kaum je erfolgreicher sozialdemokratische Politik betrieben wurde als unter Kanzler Kohl. Aber bereits die ganze Wirtschaftswunder-Euphorie unter Adenauer war im Kern sozialdemokratisch, geprägt nämlich von der Teilhabe der arbeitenden Bevölkerung am gesamtgesellschaftlichen Wohlstand sowie über die Mechanismen des demokratischen Staatstheaters an der politischen Macht. Dies ist wahr, und es ist auch nur logisch: Wie wollte denn eine Wirtschaft, die auf der Massenproduktion beruht, die Massen vom Konsum ausschliessen? Das geht ja gar nicht. Das ist wirklich ein wunderbarer Trick im Kapitalismus, dass er zur Erreichung seines Geschäftszieles, nämlich der Profitmaximierung, unbedingt die ganze Bevölkerung mit möglichst vielen und tendenziell immer besseren Gütern versorgen muss. Einen solchen Mechanismus möchte man fast schon göttlich nennen, macchiavellistisch ist er auf jeden Fall nicht. Es war, mit anderen Worten, gar nicht so schwierig, die materielle und soziale Besserstellung der breiten Bevölkerung zu betreiben; sie war eine schlichte Systemnotwendigkeit, und deswegen ist dieses System eben ein sozialdemokratisches gewesen.

Es gibt dabei übrigens noch Unterschiede. Ich nenne hier ausnahmsweise mal die skandinavischen Länder, wobei ich vor allem an Schweden denke, denn Norwegen wird durch seine Erdölvorkommen, die es erst noch weitgehend staatlich ausnützt, etwas unsystematisch beeinflusst, und Finnland hatte durch seine Nähe zu beziehungsweise Treuepflicht gegenüber Russland lange eine ganz eigene Entwicklungsdynamik. Trotz allem haben die skandinavischen Länder in ihren Gesellschaften, mindestens aber in ihrer Gesetzgebung viel grundsätzlichere Eingriffe aus dem sozialdemokratischen Rahmenprogramm vorgenommen als Deutschland, vor allem in Bezug der Frauenförderung und allgemein der Gleichstellung der Menschen; gemessen an Grundsätzen, wie sie zum Beispiel in den Menschenrechten und verwandten Texten festgelegt sind, liegen die skandinavischen Länder viel weiter vorne als alle anderen mir bekannten Nationen, auch wenn das dann zum Teil und manchmal auf Kosten der Liberalität beziehungsweise der Freiheit der Individuen gehen mag, aber das ist schon immer ein kontroverser Bereich gewesen und wird es auch bleiben.

Nichtsdestotrotz war in Deutschland, und jetzt spreche ich natürlich von Westdeutschland, bei allen Auseinandersetzungen um die Nazivergangenheit der gesamten Führungsclique oder trotz den zum Teil hysterisch geführten Kommunistenhetzereien eine riesige, unwidersprochene sozialdemokratische Grundströmung vorhanden, die vielleicht erst abgeflaut ist mit der Wahl von Gerhard Schröder zum Kanzler und, möchte man sagen, dann abgebrochen ist mit der Wiederwahl der Regierung Fischer/Schröder vor zwei Jahren.

Jetzt betreten wir Neuland. Es ist eben nicht so, und darin besteht mein Irrtum, dass die SPD-Regierung heute jene Politik betreibt, die die CDU früher als sozusagen bürgerliche Politik betrieben hatte. Nö: Die SPD, mindestens ihre Führungsspitze beziehungsweise mindestens die Regierungscrew, rappelt sich zusammen, um die veränderten Umstände in den entwickelten Gesellschaften beziehungsweise in deren Unterabteilung Deutschland in den Griff zu kriegen. Die Rentenreform, zum Beispiel, war ja wirklich überfällig in Szenarien, in denen die ganze Grundlage zur Beschaffung der Mittel für diese Renten wegbricht.

Es versteht sich von selber, dass die Regierung hier jetzt weder das Gelbe vom Ei gefunden hat noch dass ihre Ansätze überhaupt etwas taugen, und zwar versteht es sich nicht darum von selber, weil diese Ansätze etwas kosten und die Menschen in dieser Republik finanziell belasten, nachdem diese doch darauf fixiert sind, dass es einkommensmässig stetig aufwärts zu gehen habe. Nein, das halte ich für eine lässliche Sünde, auch wenn es einige Bürgerinnen und Bürger durchaus schmerzen mag. Nein, die Untauglichkeit liegt darin, dass die Regierung ihre Konzepte nicht in eine Gesamtschau einbindet oder aus einer Gesamtschau ableitet davon, was sich in unseren Gesellschaften aktuell wirklich ereignet. Nämlich ist das Umfeld zur Erhebung von Steuern und Abgaben zur Finanzierung von Renten und allen anderen schönen Sachen ja ziemlich dramatisch verschoben gegenüber früher: Auf der einen Seite verschwinden Arbeitsplätze zusammen mit der produzierenden Industrie, und zwar auf Nimmerwiedersehen; in Deutschland wie in allen anderen entwickelten Ländern dieser Welt werden einige hoch automatisierte sowie einige spezialisierte Produktionsbereiche weiter bestehen, aber die grosse Masse der Produktion wird in Billiglohnländern erledigt, soweit es sich überhaupt noch um Arbeit handelt und nicht zum Vornherein um reine Standorte mit vollautomatisierten Abläufen, die also möglichst nahe am Meer gelegen sein müssen, um möglichst günstig transportieren zu können.

Zum anderen haben sich die Finanzmärkte und die Kapitalien längstens vor dem Zugriff des Staates in Sicherheit gebracht. Ich sehe hier zwei Bewegungen: Zum einen ist das Finanzkapital selber längstens staatenlos und damit auch längstens nicht mehr fassbar, für wen auch immer; die auf dem internationalen Finanzmarkt erzeugten Gewinne, Erträge, Kapitalien werden praktisch nirgendwo für einen Steuerhaushalt fruchtbar. Das ist einfach so, und daran ändern auch wohlgemeinte Projekte zur Besteuerung von Transaktionen mit einem Prozentpromille zunächst nichts. Als zweiten Punkt sind aber auch die grossen Unternehmen nicht faul, die ja trotz allem noch ihre Gewinne an einem physikalisch genau lokalisierbaren Ort erzeugen, womit auch der Steuerzugriff noch einigermassen möglich erscheint. Aber diese Unternehmen kennen natürlich die Steuergesetzgebung in- und auswendig; man kann geradezu davon ausgehen, dass ihre Expertinnen und Experten als BeraterInnen an der Erarbeitung der entsprechenden Novellierungen jeweils aktiv mitarbeiten. Diese Firmen haben unterdessen juristische Konstruktionen erbaut, die es den Firmen erlauben, ihre Gewinne praktisch zu neunzig Prozent ungeschmälert am Fiskus vorbei zu schleusen und entweder der privaten Verwendung zuzuführen oder für weitere Übernahmen zu bündeln oder aber eben im grossen Spiel der internationalen Finanzmärkte mitzuspielen.

Für das Funktionieren des Staates, also für seine Schmierung mit Geldmitteln wie Steuern und Abgaben, bleiben also nur noich die mittleren Unternehmen, die kleinen Unternehmen sowie die sogenannten einfachen Bürgerinnen und Bürger übrig, denen noch keine KonsumentInnenorganisation eine Form empfohlen hat, ihre steuerliche Belastung durch irgendwelche legale Zwischentricks zu senken; hier orte ich übrigens eine echte Marktlücke, wenn zum Beispiel HandwerkerInnen-Innungen ihre einzelnen Betriebe zusammenlegen würden und gemeinsam ein Steuerdomizil auf den Fàröer-Inseln begründen würden. Allein die Reisekosten zu den jährlichen Generalversammlungen würden buchhalterisch mit Sicherheit sämtliche Gewinne auffressen. Aber dies nur nebenbei.

Diese beiden Trends, also das Verschwinden der Arbeitsplätze mit den dazugehörigen Arbeitseinkommen auf der einen Seite, die legale Steuerflucht der potenten Steuersubjekte auf der anderen Seite, bilden vom Staat her gesehen die Rahmenbedingungen, welche die unmittelbare, aber auch die mittelfristige Zukunft definieren. Und hier wäre die Antwort einer Regierung – notabene jeder Regierung – gefragt: Was ereignet sich denn in einer Gesellschaft, der die Arbeit ausgeht und der sich die finanzstarken Kräfte längstens entwunden haben?

Es wäre ja nicht unbedingt die Kernaufgabe der Regierung, hier eine Vision vorzustellen, wie man sich eben eine zukünftige Gesellschaft vorstellt, eine Gesellschaft ohne Arbeit, die demtnsprechenend in erster Linie auch eine Gesellschaft sein müsste ohne Angst vor Arbeitslosigkeit – denn genau darum geht es doch bei den meisten Leuten, dass sie nämlich keinerlei Ahnung haben, was anstelle des verloren gegangenen Alten treten sollte. Es ist nicht die Kernaufgabe der Regierung, hier etwas vorzustellen, sage ich; es wäre aber doch schön, wenn gerade eine sozialdemokratische Regierung die Kraft hätte, aus der Rumpelkammer ein paar ihrer Utopien herabzuholen; im Gegensatz zu CDU und CSU, die keinerlei Vorräte an Visionen und Zukunftsvorstellungen haben, ist die ganze sozialdemokratische Beweegung nämlich auf genau solchen Debatten überhaupt gediehen. Das wäre eigentlich ihre Chance. Aber eben: Schröder hat seine persönliche Vision früh formuliert, als er geschrien hat: Ich will da rein. Jetzt ist er drinne. Dieses Kapitel ist damit erledigt.

Wenn man es also nicht von der Regierung erwarten muss, dann könnte man es doch wenigstens von den programmatischen Köpfen in der Partei erwarten. Aber auch von da höre ich nur tiefes Schweigen überall. Auch die Grünen, die wenigstens noch einen halbwegs vernünftigen Programmpunkt haben, nämlich den Schutz der natürlichen Ressourcen, bleiben diesbezüglich merkwürdig stumm. Und die PDS steckt offenbar in ihrer DDR-Vergangenheit wie in einer Falle, aus der sie nicht herauskommt, ohne die Identität, also überhaupt das Leben zu verlieren.

Mir scheint, es wäre nicht allzu schwierig, hier ein paar Antworten zu formulieren. Man muss sich einfach vergegenwärtigen, dass zum Beispiel die internationalen Kapitalströme trotz allem Anschein auch nur von Menschen betrieben werden. Von Grossspekulanten, zugegeben, von Schurken, wenn man so will, die alle legalen Tricks weltweit ausnützen, um ihre Gewinne zu maximieren, die ja eh schon derart exorbitant sind, dass man ein solches Treiben nur noch mit den medizinischen Begriffen aus der Geisteskrankheitslehre fassen kann. Trotzdem, eben, man muss sich einfach daran erinnern, dass auch die Kapitalistinnen und Kapitalisten nur Menschen sind. Unsere Gesellschaften sind auch im postindustriellen Zustand Gesellschaften von Menschen. Wenn wir uns daran wieder erinnern, dann haben wir den Ansatzpunkt wohl wieder gefunden. Dann stellt sich die Frage nämlcih recht einfach: Wie organisiert sich eine Gesellschaft auf der Grundlage der Befreiung von stumpfsinniger, entfremdeter Arbeit?

Lösungsvorschläge möchtet ihr zunächst mal nicht an die Regierung einreichen, und auch nicht an die Bild-Zeitung.