Aus Neutraler Sicht KW 9/2004: Ein Zug am modernen Menschen

ID 6250
 
Aus Neutraler Sicht ist zurück!!! Albert Jörimann ("unser Mann in der Schweiz") produziert jede Woche einen ca. zehnminütigen Kommentar zu aktuellen politischen Themen.
Audio
10:45 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 27.02.2004 / 12:54

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 26.02.2004
keine Linzenz
Skript
Es ist ein Zug am modernen Menschen, dass er es in der Regel müde wird, immer die gleichen Sachen zu bekritteln, das kann sich nun um Silvio Berlusconi oder Jockel Fischer oder die Deutsche Bahn handeln. Vielmehr sind Leute ganz und gar unausstehlich, die über Jahre hinweg immer den gleichen Sermon von sich geben, ich denke doch bei Gott schon wieder an die AntiimperialistInnen, aber es gibt noch viel mehr von der Sorte. Ich habe schon früher mal festgehalten: In Widersprüchen denken, also dialektisch denken, heisst keinesfalls, immer in den selben Widersprüchen zu denken – man kann, nein, man muss davon ausgehen, dass die Welt, also der Gegenstand des Denkens, sich laufend verändert. Manchmal im Kleinen, manchmal im Grossen und Ganzen und manchmal sogar im Grundsätzlichen.

Bon, diesen Nachweis müsste ich jetzt noch erbringen, aber davon rede ich ja ohnehin die ganze Zeit, also kann ichs so stehen lassen für den Moment: Verändert doch auch mal Eure Denkgewohnheiten, legt in Euren Hirn-Ofen doch auch mal ein paar andere Denk-Scheiter hinein, wahrscheinlich merkt man mindestens unbewusst selber mit der Zeit, wie ausgelutscht und abgedroschen das wirkt, wenn man immer die selben Witzchen reisst. Das ist doch letztlich die wahre Hölle: Nicht mehr aus seinen eigenen Stereotypen hinaus zu können. Das ist eine wirkliche Katastrophe, und die Grundlage für diese katastrophale Anordnung ist keine andere als die Wahrheitsvermutung: Ich habe Recht, mein Weltbild ist i.O., meine Annahmen über das Funktionieren von Wirtschafts- und Sozialbeziehungen sowie über die Zusammensetzung meines Müeslis am Morgen sind richtig. Pfui, schämt Euch alle zusammen, die ihr solche Wahrheiten Euer eigen nennt! – Und ich will vorausgehen und mich selber tüchtig schämen, denn selbstverständlich bin ich persönlich vollgestopft mit solchen Wahrheitsvermutungen, wie ihr sicher auch schon gemerkt habt. Man kommt ja gar nicht drum rum, gewisse Sachen richtig zu finden und andere falsch; und das ist bereits ein Grundirrtum, nämlich der konstituierende Grundirrtum: Wir können gar nicht leben ohne diesen Irrtum. Und das war jetzt, wie ihr alle gemerkt habt, Dialektik der zweiten Giftklasse.

Also habe ich mich für diesen Moment genug geärgert über die Deutsche Bahn, also ärgere ich mich jetzt einmal über die Schweizerische Bundesbahn, sie SBB CFF FFS. Nämlich lässt in der in letzter Zeit die Sauberkeit ganz gewaltig zu wünschen übrig. Die Affen dort sparen am Reinigungspersonal, während sie sich selber in den letzten paar Jahren die Löhne verdoppelt haben von etwa 300 000 Schweizer Franken im Jahr auf 600 000 Franken. Ihr werdets ahnen: Die Begründung war jene, es handle sich dabei um knapp marktkonforme Saläre, und die Personen, welche diese Erhöhung einstrichen, waren in der Substanz alles Sozialdemokraten. Naja.

Das mit dem Reinigungspersonal beschäftigt mich aber trotzdem. Nämlich ist das Reinigungspersonal so etwas wie der weltweite Minimalstandard an Sparpotenzial. Zunächst haben diese schönen Männer und Frauen zwar eine gewaltige Aufwertung erfahren, als man sie nicht mehr Putzfrauen nannte – das galt damals auch für Männer –, sondern Aufräumerinnen oder eben Reinigugnspersonal. Auch gerne verwendet wird der schöne Begriff Raumpflegerinnen. Also das ist jetzt ja nicht das einzige Feld, wo sich die Kreativität des Managements bzw. der PR-Abteilung eher auf die Stellenbezeichnung gewendet hat anstatt auf die Stelle selber bzw. die damit verbundene Arbeit. Wie auch immer: Das Sparpotenzial beim Reinigugnspersonal muss weltweit riesengross sein, man könnte geradezu darauf schliessen, dass alle Börsengewinne der ganzen Welt nur darauf zurückzuführen sind, dass die Reinigungsdienste gestrafft wurden, die Löhne gekürzt, die Dienste selber ausgelagert an private Dritte, die Personal zu Hundskonditionen anstellen, und so weiter und so fort.

Auf der anderen Seite muss ich, wenn ich Klartext rede, auch zugeben, dass sich bei den Aufräumerinnen mindestens in den Staatsbetrieben eine Zeitlang eine etwas seltsame Tendenz gehalten hat, dieser Personalgruppe Löhne weit über dem Niveau auf dem freien Markt auszurichten. Das wird man ja nicht a priori schlecht finden; bei uns in der Schweiz ging das damals so von 20 bis 30 Franken pro Stunde, also etwa 12 bis 15 Euro, bevor eben die Attacken auf den Sektor eingesetzt haben; jetzt sind wir wieder glücklich bei 12 bis 15 Franken, also 8 bis 10 Euro pro Stunde, was Euch mitten im fernen Deutschland vielleicht relativ hoch scheinen mag, sich jedoch mit dem teuren Leben in der schönen Schweiz erklärt. Wie auch immer: Die Löhne für das Reinigungspersonal in Staatsbetrieben wie z.B. der SBB lagen um gut 50 Prozent über dem Niveau des freien Marktes, ohne dass diese ArbeitnehmerInnen dafür eine spezielle Gegenleistung erbracht hätten oder sich etwa beruflich qualifiziert hätten, was ja auch eine Möglichkeit gewesen wäre. Also hat man im Zuge der Entstaatlichung überall eben zuerst dort das Messer angesetzt, beim Reinigungspersonal: Entweder wurden die Bestände massiv reduziert, oder aber man engagierte private Firmen zur Erfüllung dieser Aufgaben. Das Resultat ist nun klar sichtbar: Dreck in den Zügen.

Selbstverständlich kommen da auch noch andere Sachen hinzu. Natürlich haben sich die Menschen früher besser in Acht genommen, während heute mindestens eine kritische Masse vor allem von jugendlichen BahnfahrerInnen geradezu ihren Spass darin findet, in Nichtraucherabteilen zu rauchen, Zigarettenkippen auf den Boden zu werfen im besten Fall, im Normalfall aber gleich auf dem Sitzpolster auszudrücken. Manchmal kann man auch mit dem Schweizer Militärtasschenmesser die Polster gleich aufschlitzen. Papier und Essensverpackungen und Dosen aber, die gehören für jene kritische Masse gleich zum Vornherein auf den Boden, das ist klar.

Hier kann man nun wirklich sagen, dass es nicht mehr ist wie früher. Nämlich herrschte früher ein militärisches Regime auf den Zügen, die als hoheitliche Transportmittel in der Gegend herumfuhren. Heute ist das Bahnpersonal eher zu BeraterInnen geworden, die Zugfahrenden müssen sich mehr oder weniger aus eigenem Antrieb ordentlich verhalten, und das ist natürlich für pubertierende Jugendliche alles andere als selbstverständlich. Das ist wirklich völlig normal, da braucht man kein Aufhebens druas zu machen. Man sollte einfach darauf kucken, dass die Züge etwas häufiger gereinigt werden; und von meiner Seite her kann ich noch anfügen, dass man darauf kucken sollte, solchen pubertierenden Idioten auch hin und wieder eins hinter die Löffel zu hauen; denn die Zerstörung öffentlichen Eigentums ist im Grunde genommen eben keine anonyme Sache. Das wissen viele Menschen gar nicht, darum sage ichs hier mal wieder.

Ordnung ist etwas für unaufgeräumte Charaktere, heisst eine Faustregel in der Psychologie, mindestens in meiner; ich bin absolut kein Ordnungsfanatiker. Aber Sauberkeit ist vielleicht etwas anders zu betrachten. Ich halte es nicht für ein Schwächezeichen der modernen Zivilisation, wenn die Menschen ihren Urin in dafür vorgesehenen Pissoirs oder gar auf voll ausgebauten und vielleicht noch polsterbezogenen und mit schöner Musik beschallten WCs abschlagen statt auf der Strasse oder eben gar in der Bahn im Korridor. Unsauberkeit ist kein Vorbote der Befreiung der Menschen von Zwängen und Pflichten. Mit der Ordnung mag es sich etwas anders verhalten, wobei wir dann diese Ordnung immer noch kurz ankucken würden; aber die Sauberkeit im öffentlichen Raum, da habe ich wirklich nix dagegen, im Gegenteil: Ich bin dafür.

Das erinnert mich nun wieder an Eure rote Karte in Erfurt, die ich erfurtig, nein, ehrfürchtig Tag für Tag auf mir trage. Geldbussen fürs auf die Straße spucken, bewahre. Hier, in der Gestalt dieser roten Karte, wurden eben die beiden Ebenen prototypisch verwechselt. Das Sauberkeitsprinzip wurde zum Ordnungsprinzip erhoben. Und das ist psychotisch, das könnt Ihr Euren Stadt- und Landesvätern und –müttern hinter die Ohren tätowieren. Der Weg zur Sauberkeit ist nicht mit roten Karten gepflastert.
Naja. In unserem Menschenverständnis gibt es eben diese pubertäre Phase, während der das Individuum sich geradezu gegen den Gesellschaftskörper stellen muss, sonst fehlt in seiner Entwicklung ein wichtiges Teil. Das könnte man nun mit dem Menschenverständnis in anderen Gesellschaften und Kulturen vergleichen, wo während der Pubertät eben erst Recht die Anpassung stattfindet. Das wäre mal ein interessanter Vergleich, den ich hier nun eben nicht anstelle. Hier möchte ich die positive Nachricht der Woche hervorheben, nämlich die Gründung einer europäischen Grünen Partei. Heureka! – Zwar hat Euer Jockel Fischer sich sofort zurückgenommen und so laut wie möglich gesagt, er wolle dann bloss ja nie irgendwo in eine andere souverände Ordnung in einem europäischen Lande drein reden. Haha, dreimal kurz gelacht! Jetzt, wo die ja schon ihre deutsch-französische Führerschaft in der EU ergänzen um den schönen Tony Blair, so dass den anderen und kleineren und mittleren Ländern in der EU ganz und gar die Spucke wegbleibt, derart selbstherrlich wollen die die Geschicke der EU und damit doch wohl auch am Rande jener kleineren Staaten am Rande allein bestimmen, ausgerechnet jetzt will sich der Jockel Fischer nicht in die Angelegenheiten anderer Staaten einmischen, angeblich! Das ist wirklich hübsch. Aber es ist relativ unbedeutend gegenüber der Tatsache, dass sich wirklich endlich, endlich einmal eine Partei wenigstens pro forma als europäisch konstituiert. Wie soll dieses verdammte Europa denn so richtig entstehen, wenn die Länder und ihre PolitikerInnen immer stärker nur noch die nationalen Interessen vertreten? Das ist doch idiotisch. In diesem Sinne haben die Grünen in meiner persönlichen Polit-Bewertung einen riesigen Sprung nach vorn getan.

Dass ich in der vergangenen Woche auch noch hin und wieder durch Euren rheinischen Karneval hindurch musste, das hat mich dann aber wieder verärgert. Schon wieder sass in allen Kanälen diese widerliche Widergeburt eines Schleimmonsters, dieser Westerwelle mit seinen riesigen, tennisschlägergrossen Applaushänden und einem Dauerlächeln von steifgefrorener Herzlichkeit und Spontaneität, und, ich glaubte es selber kaum, auch unser allseits geliebter Humorfatzke und ehemaliger Botschafter der Schweiz in Deutschland, nein, natürlich nicht in Deutschland, sondern in Berlin, der Thomas Borer sass da als organisches Gegenstück zu Eurem Westerwelle, Mann, die Medien sind ganz schön mean, mean, mean. Überall diese Schleimmonster, von Stefan Raab zu Guido Westerwelle und zurück... Vielleicht sollte ich auch hier mal meine Vorurteile überarbeiten. Ich fürchte, es wird mir nicht gelingen.

Also saluti und guten Tag.